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Zukunft der EUEuropa macht sich ehrlich

Tanja Tricarico
Kommentar von Tanja Tricarico

Die europäische Erfolgsgeschichte droht, nationalchauvinistischen Interessen zu weichen. Mehr denn je gilt es, sich auf gemeinsame Werte zu besinnen.

Deutsch-polnische Grenze in Frankfurt/Oder, auch hier Abwehr von Menschen auf der Flucht vor Folter, Repression und Verfolgung Foto: Patrick Pleul/dpa

E s war eigentlich keine schlechte Woche für Europa. Trotz des Wahlsiegs des nationalkonservativen Kandidaten Karol Nawrocki zum Staatspräsidenten Polens. Oder des Sturzes der niederländischen Regierungskoalition durch den Rechtspopulisten Geert Wilders und des daraus folgenden politischen Chaos.

Auch der nächste Schritt für einen Kurswechsel in der deutschen Migrationspolitik – nämlich einer einfacheren Einstufung von sicheren Herkunftsländern, um Menschen schneller abschieben zu können, ohne den Bundesrat – muss in der Reihe der bemerkenswerten Ereignisse genannt werden. Alle drei stehen für eine Woche der Ehrlichkeit in der Europäischen Union.

Ehrlich deshalb, weil die hohe Taktung an Ereignissen in den europäischen Staaten sehr klar nachzeichnet, was gerade auf dem Spiel steht, wie sehr die europäische Erfolgsgeschichte von wirtschaftlicher Stabilität, von gemeinsamen Wertevorstellungen, von Menschenrechten und einer liberalen, von Solidarität geprägten Welt unter Druck steht. Bestes Beispiel ist der neue Staatspräsident Polens Nawrocki. Er wird den amtierenden Premierminister Donald Tusk mächtig vor sich hertreiben.

Er wird Rechtspopulismus und grobschlächtiges Auftreten salonfähig machen und sein Ziel, Polen weiter zu spalten, vorantreiben. Sein Kurs ist bekannt und von einer Mehrheit der polnischen Wäh­le­r:in­nen so gewollt. Ge­gen­kan­di­da­t:in­nen hatten zuletzt versucht, mit ähnlich scharfen Äußerungen zur Migrationspolitik, zur Ukraine-Hilfe Stimmen zu fischen. Aber wie so häufig, bewahrheitete sich auch im Fall Polens, dass die Menschen im Zweifel lieber das Original wählen als die mildere Kopie.

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Für oder gegen Europa?

Polen, das seine Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufstocken wird, das sich zum wirtschaftlichen Stabilitätsanker seit dem EU-Beitritt entwickelte, das in Sicherheitsfragen als verlässlicher Partner für die Ukraine und Europa dasteht, stehen harte Jahre bevor. Denn längst geht es nicht mehr nur um die nationale Agenda, sondern um die Frage für oder gegen Europa, eine Zukunft mit oder ohne EU-Staatenbündnis.

Tusk will in der kommenden Woche die Vertrauensfrage im Parlament stellen. Ob er sich Unterstützung für das europäische Projekt im Parlament sichern kann, ist alles andere als sicher. Dass der niederländische Rechts­populist Geert Wilders die Regierungskoalition sprengen würde, wenn die von ihm geforderte menschenfeindliche Abschottungspolitik gegenüber Geflüchteten nicht umgesetzt wird, muss niemanden überraschen.

Die Drohung vom Koalitionsbruch machten er und seine „Partei für die Freiheit“ (PVV) mehr als einmal lautstark klar. Im Fahrwasser des Rechtsauftriebs in Polen nutzte Wilders offenbar die Gunst der Stunde und stürzte die Regierung von Ministerpräsident Dick Schoof. Die Regierungsbildung in den Niederlanden ist gewöhnlich kompliziert, dauert zermürbend viele Monate. Der Wahlkampf wird hart und hässlich werden. Auch wenn Umfragen derzeit ein grün-rotes Bündnis im Aufwind sehen.

Klar ist, ein weiteres Land in Europa ist politisch instabil, wird attackiert von antidemokratischen Kräften, die Zweifel an den europäischen Grundwerten säen. Zur Freude des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, des slowakischen Premierministers Robert Fico oder der österreichischen FPÖ und der AfD in Deutschland. Ihr verbindendes Thema ist die Schließung der Grenzen, die Zurückweisung von Menschen in Not.

Menschenfeindliche Abschottung

Und nichts Geringeres als der Angriff auf einen der Grundwerte Europas, Menschen Zuflucht zu gewähren, die von Folter, Repression, Verfolgung betroffen sind. Es wird mit der Angst vor Europa gespielt, der Rückzug auf nationale Interessen gepriesen. Der europäische Gedanke wird nicht so schnell untergehen, aber die Fliehkräfte innerhalb der Union sind mächtig am Werk.

Dabei erfordern die geopolitischen Veränderungen, die Wankelmütigkeit eines erratischen Präsidenten im Weißen Haus und der Zulauf für autokratische Systeme gerade jetzt den Zusammenhalt der Staatengemeinschaft und ein gefestigtes Wertesystem. Hinzu kommt ein Krieg mitten in Europa, dessen Ende sich derzeit nicht abzeichnet. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat kürzlich den Karlspreis verliehen bekommen, als Zeichen ihres Einsatzes für Europa.

Von der Leyen sparte nicht an markigen Worten – sprach davon, für Europa kämpfen zu müssen. Nach der Woche der Ehrlichkeit wäre von der Leyen gut beraten, die Worte mit Leben zu füllen. Die Signale sind mehr als deutlich, dass sie nun gefragt ist, die EU-Mitgliedstaaten zusammenzuhalten.

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Tanja Tricarico
wochentaz
Schreibt seit 2016 für die taz. Themen: Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungszusammenarbeit, früher auch Digitalisierung. Leitet derzeit das Politik-Team der wochentaz. Privat im Einsatz für www.geschichte-hat-zukunft.org
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13 Kommentare

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  • Fragt sich nur, woher plötzlich diese (ominösen) Werte herkommen… - o.k., spätestens seit 1492 will Europa ja bekanntlich nur euer Bestes, liebe „restliche“ Welt: Land, Rohstoffe, Arbeitskraft zum Schleuderpreis, deren Aneignung übernahm stets die Fa. Mord & Totschlag (früher zumeist unter dem Zeichen des Kreuzes, heute eher im Namen der, äh, ‚Menschenrechte‘).

  • 3G
    34783 (Profil gelöscht)

    Zu den Grundwerten Europas sollten auch sichere Außengrenzen gehören , sonst wird das Schengenabkommen mit offenen Binnengrenzen scheitern. Nicht jeder Migrant ist schutzbedürftig sonst gäbe es mehr Anerkennungen auf Asyl. Sollte es nicht zu einer geregelten Migration kommen wird das Projekt Europa scheitern , hier ist Pragmatismus gefragt !

    • @34783 (Profil gelöscht):

      Pragmatismus wäre es, die Fluchtursachen zu bekämpfen und nicht die Geflüchteten!

      Aber es ist ja einfacher und billiger willkürlich Diktaturen wie Afghanistan zu "sicheren Herkunftsländern" zu erklären. Ob die abgeschobenen Menschen dort gefoltert und ermordet werden, kann uns ja egal sein, da wir das dann nicht mehr mitbekommen.

      Das Asylrecht wurde wegen der Verbrechen im deutschen Reich eingeführt und die jetzige Regierung versucht gerade einmal 80 Jahre später, dieses Asylrecht wieder abzuschaffen.

      Verdammt nochmal, bekämpft endlich Armut und extremen Reichtum statt Menschen, denn DAS sind die Probleme durch die die Demokratie gerade massiv gefährdet ist.

      Sorry "liebe" xxU, aber Parteien, die nicht die akuten Probleme lösen wollen und deren Politik nur aus Hetze und Kampf gegen Menschen (z. B. ausländische Mitmenschen, Erwerbslose, Kinder und Jugendliche, Frauen) besteht, kann ich beim besten Willen weder als demokratisch noch als christlich oder sozial bezeichnen.

  • Grundwerteverfall

    Zitat: „Und nichts Geringeres als der Angriff auf einen der Grundwerte Europas, Menschen Zuflucht zu gewähren, die von Folter, Repression, Verfolgung betroffen sind.“

    Das ist ja durchaus ehren- und unterstützenswert, allerdings keinesfalls die Raison d’être der Europäischen Union, wie unterschwellig insinuiert. Die Migrationspolitik spielte bis vor 25 Jahren in der Union keinerlei Rolle, ist mithin keineswegs Wesensteil „der Grundwerte Europas“ ex tunc.

    Als dann nach immer größeren Immigrationsdruck aus Krisengebieten nach 2000 ein „Gemeinsames Europäisches Asylsystem“ (GEAS) aus dem Boden gestampft wurde mit der Dublin-Verordnung als Kern, ging es vor allem darum, die Migrationswellen einzudämmen, zu kanalisieren und möglichst zu reduzieren. Dazu wurde seitdem das System mehrfach reformiert. „Erklärte Zielsetzung der Reform ist es, die Zahl der Ankünfte schutzsuchender Personen in der EU zu senken, Asylverfahren vermehrt an den sogenannten EU-Außengrenzen durchzuführen sowie die Mobilität von schutzsuchenden Personen innerhalb der EU einzuschränken.“ (BpB).

    Von wegen "Grundwerte"! Das europäische Asylrecht schrumpft wie das Chagrin-Leder bei Balzac.

  • Es zeigt sich, dass die europäische Erfolgsgeschichte von wirtschaftlicher Stabilität, von gemeinsamen Wertevorstellungen, von Menschenrechten und einer liberalen, von Solidarität geprägten Welt mehr Wunschdenken bis Selbstbetrug ist als sie jemals Wirklichkeit war. Was die Autorin vermutlich mit nationalchauvinistischen Interessen meint, ist nichts anderes als der Nationalliberalismus, wie er seit nunmehr mindestens 200 Jahren die Politik nicht nur in Europa bestimmt: Der Nationalstaat bildet Referenzpunkt und Ordnungsrahmen für den liberalen Wettbewerb in allen Lebensbereichen und auf allen Ebenen. Das „europäische Projekt“ macht nur den Unterschied, dass zwischenstaatliche Kooperation in ausgewählten Bereichen Wettbewerbsvorteile mit sich bringen kann, z.B. zollfreier Binnenhandeln, billige Arbeitskräfte, billiger Urlaub, mehr Verhandlungsmacht gegenüber Drittstaaten. Davon profitiert aber nicht jedeR, weder in der EU noch in der Welt. Auch das innereuropäische Friedensprojekt bleibt brüchig.

  • Ich finde die Rhetorik von Ehrlichkeit an der Stelle problematisch, besser ist es, das Wort Niedertracht zu verwenden. Die politische Rechte schert sich nicht um Ehrlichkeit, die will die Schwachen (Ausländer, Frauen, Kranke, Behinderte, Kinder) ausbeuten und Macht und Geld an wenige Reiche verteilen.

    So etwas als Ehrlichkeit zu adeln unterstellt fortschrittlicheren Kräften indirekt Heuchelei, nur weil sie nicht alle Ziele erreichen, die sie verfolgen.

    Beispiel: manche Linke haben ein Problem mit Baerbock (eigene Visagistin!!1! Heuchelei!!1!), aber keins mit Spahn (Maskendeals? Naja, halt ein Schlitzohr, die Rechten sind wenigstens nicht so Heuchler usw.)

  • Jede erfolgsgeschichte ist endlich. Interessant dass einige das nicht sehen können... :-D

  • Gemeinsame Werte können auch bald das Gegenteil sein



    "Mehr denn je gilt es, sich auf gemeinsame Werte zu besinnen. "



    Mich beschleicht das Gefühl, dass die "gemeinsame Werte" der Wähler immer mehr dichte Grenzen sind. Anders kann ich mir den Erfolg konservativer und rechter Parteien nicht mehr erklären. Und wenn die Regierungen diesen " gemeinsame Werten" folgen, dann ist es mit dem Asylrecht im alten Sinne bald vorbei.

    • @Hans Dampf:

      Genau, die gemeinsamen Werte der Europäer bestehen nun in dichten Grenzen und das schon ungefähr seit 2018. Hierzulande hat es noch bis dieses Jahr gedauert. Ich frage mich oftmals, auf welche gemeinsamen Werte sich bezogen wird angesichts von Orban, Meloni, Le Pen und wie sie alle noch heißen. Auch hierzulande werden die "gemeinsamen Werte" von einer immer geringer werdenden Anzahl von Wählern vertreten. Ab welchem Prozentsatz sind denn gemeinsame Wert keine gemeinsamen Werte mehr? Ab 13, 15 oder ab wann? Inwieweit werden die 26 Prozent der AFDler von dem "Gemeinsamen" ausgeschlossen? Irgendwann gab es mal einen Kipppunkt und das hat im Großen und Ganzen mit der sehr chaotischen Migrationspolitik der BRD zu tun. Man muss auch Sachen beim Namen nennen, dann gibt es vielleicht noch eine Chance auf die "Renaissance" der gemeinsamen Werte.

      • @Leningrad:

        Die gesichert rechtsextreme AfD hat bei der letzten Bundestagswahl 20,8 % der Stimmen erhalten, nicht 26 %!

  • Es scheint dringend erforderlich, dass die EU endlich von der nichtssagenden europäischen Wertedoktrin zur UNO-Charta zurückkehrt, die sich an Menschenrechten und den weltweiten Interessen aller orientiert!

    • @Mark Menke:

      Werteseparatismus

      Zitat @Mark Menke: „Es scheint dringend erforderlich, dass die EU endlich von der nichtssagenden europäischen Wertedoktrin zur UNO-Charta zurückkehrt, die sich an Menschenrechten und den weltweiten Interessen aller orientiert!"

      Dem ist nur beizupflichten: Das beständige Hervorkehren eines gesonderten „westlichen Wertesystems“ insinuiert einen regional-partikularistischen Sonderstatus gegenüber den „Wertesystemen“ der anderen Himmelsrichtungen, gespickt mit einem zivilisatorischen Überlegenheitsdünkel. In der Tat, die „(west)europäischen Werte“ können nur in soweit inklusiv-globale Geltung beanspruchen, wie es sich um universalistische Werte handelt, kodifiziert in der UNO-Charta. Alles andere ist wohlfeiler Werteseparatismus, ein verlogener dazu, gemessen an der Praxis der internationalen Beziehungen.

  • Europa, genauer gesagt die EU, hat keine anderen Werte als die Nationalstaaten, aus denen es sich bildet. Es ist eine Illusion, so etwas anzunehmen.

    Darüber hinaus steht "Europa" vor allem in Konkurrenz zu den USA und China, da fallen alle himmelhochjauchzenden humanistischen Werten schon mal von daher hinten runter.

    Militär und Wirtschaft - das ist die Essenz von Europa. Alles andere sind nur Worte, Frau Tricarico.