Zukunft der EU: Europa macht sich ehrlich
Die europäische Erfolgsgeschichte droht, nationalchauvinistischen Interessen zu weichen. Mehr denn je gilt es, sich auf gemeinsame Werte zu besinnen.

E s war eigentlich keine schlechte Woche für Europa. Trotz des Wahlsiegs des nationalkonservativen Kandidaten Karol Nawrocki zum Staatspräsidenten Polens. Oder des Sturzes der niederländischen Regierungskoalition durch den Rechtspopulisten Geert Wilders und des daraus folgenden politischen Chaos.
Auch der nächste Schritt für einen Kurswechsel in der deutschen Migrationspolitik – nämlich einer einfacheren Einstufung von sicheren Herkunftsländern, um Menschen schneller abschieben zu können, ohne den Bundesrat – muss in der Reihe der bemerkenswerten Ereignisse genannt werden. Alle drei stehen für eine Woche der Ehrlichkeit in der Europäischen Union.
Ehrlich deshalb, weil die hohe Taktung an Ereignissen in den europäischen Staaten sehr klar nachzeichnet, was gerade auf dem Spiel steht, wie sehr die europäische Erfolgsgeschichte von wirtschaftlicher Stabilität, von gemeinsamen Wertevorstellungen, von Menschenrechten und einer liberalen, von Solidarität geprägten Welt unter Druck steht. Bestes Beispiel ist der neue Staatspräsident Polens Nawrocki. Er wird den amtierenden Premierminister Donald Tusk mächtig vor sich hertreiben.
Er wird Rechtspopulismus und grobschlächtiges Auftreten salonfähig machen und sein Ziel, Polen weiter zu spalten, vorantreiben. Sein Kurs ist bekannt und von einer Mehrheit der polnischen Wähler:innen so gewollt. Gegenkandidat:innen hatten zuletzt versucht, mit ähnlich scharfen Äußerungen zur Migrationspolitik, zur Ukraine-Hilfe Stimmen zu fischen. Aber wie so häufig, bewahrheitete sich auch im Fall Polens, dass die Menschen im Zweifel lieber das Original wählen als die mildere Kopie.

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Für oder gegen Europa?
Polen, das seine Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufstocken wird, das sich zum wirtschaftlichen Stabilitätsanker seit dem EU-Beitritt entwickelte, das in Sicherheitsfragen als verlässlicher Partner für die Ukraine und Europa dasteht, stehen harte Jahre bevor. Denn längst geht es nicht mehr nur um die nationale Agenda, sondern um die Frage für oder gegen Europa, eine Zukunft mit oder ohne EU-Staatenbündnis.
Tusk will in der kommenden Woche die Vertrauensfrage im Parlament stellen. Ob er sich Unterstützung für das europäische Projekt im Parlament sichern kann, ist alles andere als sicher. Dass der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders die Regierungskoalition sprengen würde, wenn die von ihm geforderte menschenfeindliche Abschottungspolitik gegenüber Geflüchteten nicht umgesetzt wird, muss niemanden überraschen.
Die Drohung vom Koalitionsbruch machten er und seine „Partei für die Freiheit“ (PVV) mehr als einmal lautstark klar. Im Fahrwasser des Rechtsauftriebs in Polen nutzte Wilders offenbar die Gunst der Stunde und stürzte die Regierung von Ministerpräsident Dick Schoof. Die Regierungsbildung in den Niederlanden ist gewöhnlich kompliziert, dauert zermürbend viele Monate. Der Wahlkampf wird hart und hässlich werden. Auch wenn Umfragen derzeit ein grün-rotes Bündnis im Aufwind sehen.
Klar ist, ein weiteres Land in Europa ist politisch instabil, wird attackiert von antidemokratischen Kräften, die Zweifel an den europäischen Grundwerten säen. Zur Freude des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, des slowakischen Premierministers Robert Fico oder der österreichischen FPÖ und der AfD in Deutschland. Ihr verbindendes Thema ist die Schließung der Grenzen, die Zurückweisung von Menschen in Not.
Menschenfeindliche Abschottung
Und nichts Geringeres als der Angriff auf einen der Grundwerte Europas, Menschen Zuflucht zu gewähren, die von Folter, Repression, Verfolgung betroffen sind. Es wird mit der Angst vor Europa gespielt, der Rückzug auf nationale Interessen gepriesen. Der europäische Gedanke wird nicht so schnell untergehen, aber die Fliehkräfte innerhalb der Union sind mächtig am Werk.
Dabei erfordern die geopolitischen Veränderungen, die Wankelmütigkeit eines erratischen Präsidenten im Weißen Haus und der Zulauf für autokratische Systeme gerade jetzt den Zusammenhalt der Staatengemeinschaft und ein gefestigtes Wertesystem. Hinzu kommt ein Krieg mitten in Europa, dessen Ende sich derzeit nicht abzeichnet. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat kürzlich den Karlspreis verliehen bekommen, als Zeichen ihres Einsatzes für Europa.
Von der Leyen sparte nicht an markigen Worten – sprach davon, für Europa kämpfen zu müssen. Nach der Woche der Ehrlichkeit wäre von der Leyen gut beraten, die Worte mit Leben zu füllen. Die Signale sind mehr als deutlich, dass sie nun gefragt ist, die EU-Mitgliedstaaten zusammenzuhalten.
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