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Offener Brief gegen NetanjahuStreit in der britischen Pessachwoche

Einige Delegierte des „Board of Deputies of British Jews“ verurteilen die israelische Kriegsführung in Gaza. Der Präsident des Dachvereins stellt sich dagegen.

Eine israelische Flagge bei einer vom Jewish Board of Deputies organisierten Demo in London im Jahr 2018 Foto: Henry Nicholls/reuters

London taz | Im Rahmen des traditionellen Pessachfests, dem jüdischen „Fest der Freiheit“, haben 36 Delegierte des britisch-jüdischen Dachvereins „Jewish Board of Deputies (BoD)“ die israelische Kriegsführung in Gaza kritisiert. Ein entsprechender offener Brief erschien am Mittwoch in der Financial Times.„Als britische Juden können wir nicht mehr über den Gazakrieg schweigen!“, las man da.

Die letzten 18 Monate hätten gezeigt, dass der erfolgreichste Weg, israelische Geiseln nach Hause zu bringen und einen andauernden Frieden zu schaffen, in der Diplomatie liege. Gerade als ein von der Arabischen Liga unterstützter Plan für ein Gaza ohne Hamas auf dem Tisch gelegen habe, habe Israels Regierung das Waffenstillstandsabkommen gebrochen, hieß es weiter.

Damit sei der ultrarechte Politiker Itamar Ben Gvir zurück in die Regierungskoalition gebracht und die Regierungsmehrheit gestärkt worden. Seitdem sei keine Geisel freigekommen, während Hunderte Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen umkamen. Diese extremste israelische Regierung aller Zeiten habe außerdem Gewalt im Westjordanland angestachelt, baue mehr Siedlungen als je zuvor und greife Israels Demokratie an – sie entreiße dem Land die Seele.

Die 36 der insgesamt über 300 Delegierten des BoD positionierten sich mit den Familien der Geiseln und Hunderttausenden demonstrierenden Israelis. „Wir stehen gegen den Krieg und trauern um den Verlust palästinensischer Leben“, schrieben sie. Die meisten der Gruppe entstammen englischen und walisischen liberalen und reformierten jüdischen Gemeinden, darunter die zwei größten in London. Nebst anderen unterschrieben auch Ver­tre­te­r:in­nen des jüdischen Studentenverbands, der jüdischen Arbeiterbewegung und der Organisation Yachads, die sich für eine Friedenslösung zwischen Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen und Israelis einsetzt.

Graswurzelbewegung solidarisiert sich

In Windeseile verbreitete sich die Botschaft über britische und internationale Berichte in alle Welt, erschien sogar in den abendlichen Hauptnachrichten des Senders Channel Four.

Nahost-Konflikt

Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Gegenoffensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.

Dem Präsidenten des BoD, Phil Rosenberg, missfiel das anscheinend so sehr, dass er sich auf dem jüdischen Nachrichtenportal Jewish News zu Wort meldete. Rosenberg kritisierte die Berichterstattung über die Gruppe und mahnte an, dass ihre Meinung nicht die Mehrheit, sondern lediglich zehn Prozent der BoD-Delegierten repräsentierte, unter denen sich auch orthodoxe Ver­tre­te­r:in­nen befinden.

Die Anschuldigungen richteten sich ihm zufolge einzig gegen die israelische Regierung. Die Hamas hingegen werde nicht für das Versagen bei der Implementierung der zweiten Phase des Geisel-Deals verantwortlich gemacht – die Hamas hatte einen weiteren Deal, welcher ihre Entwaffnung forderte, abgelehnt. Weder die Mehrheit der BoD-Delegierten noch der jüdischen Gemeinschaft würde der Auslegung zustimmen.

„Es ist offensichtlich wahnsinnig einfach, Medienaufmerksamkeit zu erhalten, wenn man mit Berufung auf seine jüdische Identität die israelische Regierung kritisiert“, behauptete Rosenberg. Diese Verzerrung lege eine Unterscheidung zwischen guten und schlechten Juden nahe, etwa wenn sie von Jeremy Corbyns ehemaligen Kabinettsmitglied John McDonnell zitiert werde. Unter Corbyns Führung hatte die Labourpartei große Probleme mit Antisemitismus, unter dem auch Rosenberg, damals Kommunalrat in London, litt.

We Democracy, eine Graswurzelbewegung britischer Jüdinnen und Juden und im Vereinigten Königreich lebender Israelis, zeigte sich verärgert über die Worte des BoD-Präsidenten. Aus ihrer Sicht sprächen die 36 Delegierten sehr wohl für eine Mehrheit der Israelis. Diese unterstütze weder die israelische Rechtsregierung noch eine Fortsetzung des Krieges und fordere die Rückkehr aller Geiseln. Dabei seien zumindest sie absolut klar in ihrer Verurteilung der Hamas. Die israelische Regierung müsse zur Verantwortung gezogen werden. Sie verweigere die zweite Phase eines verhandelten Waffenstillstands.

„Es war Netanjahu, der entschied, Ben Gvir zurück in seine Koalition zu holen, und sein politisches Überleben dem Nachhausebringen von 59 Geiseln vorzog. Echte Solidarität mit Israel bedeutet, für Demokratie geradezustehen, sich für die Freilassung der Geiseln einzusetzen, und für jene, die tapfer dem Extremismus entgegenstehen“, erklärte die Gruppe bei Jewish News.

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5 Kommentare

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  • Netanyahu hat die Hamas als größtes Hindernis für den Frieden längst abgelöst, leider, und das muss mensch erst mal schaffen.



    Sauber zu trennen zwischen Juden, Arabern; zwischen Juden, Christen, Muslimen, Atheisten; zwischen Israeli, Jordaniern, Palästinensern; zwischen den verschiedenen Kategorien zu unterscheiden, das hilft auch hier wohl sehr.

  • Netanjahu und seine rechtsextremen Fanatiker und Mehrheitsbringer haben nur drei Ziele. An der Macht zu bleiben, die Palästinenser aus Israel zu vertreiben und eine Zweistaatenlösung zu verhindern.



    Das schreibe nicht ich, sondern genau das wird in Israel ganz offen von Ben Gvir, Netanjahu und anderen in der Regierung verlautbart.

    Leider wird das in der öffentlichen Darstellung in nur wenigen Medien thematisiert. Auch die taz hält sich geflissentlich zurück.



    Allein der Verdacht Antizionistisch, Antisemitisch zu sein reicht für Zurückhaltung schon aus.

    Das was Netanjahu mit seinen rechtsextremen, militanten Steigbügelhaltern veranstaltet ist ein Genozid.



    Dabei ist das Vorgehen immer gleich. Mit Wucht und ohne Rücksicht militärische Schläge durchzuführen. "Gezielte" und "Chirurgische" Schläge die bis zum Beweis des Gegenteils die Hamas getroffen haben. Selbst wenn ihnen das Gegenteil bewiesen wird, ihnen die Lügen per Video serviert werden, wie z.B. im Falle des Angriffs auf den Krankentransport in der Vorwoche, oder den unzähligen Angriffen durch militante Siedler im Westjordanland, verbreitet man die Mär rechtschaffend zu sein.

    • @Tom Lehner:

      „Leider wird das in der öffentlichen Darstellung in nur wenigen Medien thematisiert. Auch die taz hält sich geflissentlich zurück.“



      Warum das hierzulande in der Medienlandschaft so sein könnte, darüber gibt folgendes Interview Aiskunft:



      taz.de/Umfrage-ueb...-zu-Gaza/!6079413/



      Eine Folge falsch verstandener Staatsräson gegenüber Israel und zunehmender McCarthyierung der Debatte hier bei uns.

    • @Tom Lehner:

      Dass Netanjahu die Palästinenser aus Israel vertreiben möchte, ist nicht sehr offensichtlich. Da müssten Sie konkreter werden.

      Wo agiert er gegen israelische Palästinenser, um sie aus Israel zu vertreiben?

    • @Tom Lehner:

      Zurückhaltung?

      Man konnte doch recht regelmäßig in diversen Medien lesen, wie irgendjemand äußerte, für Netanjahu sei es ein wichtiger Punkt, sein Amt zu behalten, um um Strafverfahren herumkommen.

      Irgendwann ist es halt keine Neuigkeit mehr.

      Da bedient es vielleicht das Bedürfnis nach Empörung bei manchem Leser, mehr aber auch nicht.

      Ich würde es vergleichen mit dem Ziel der Hamas, Israel zu zerstören. Das wird auch nicht mehr regelmäßig in den Medien erwähnt.

      Weil es keine Neuigkeit mehr ist.