Offener Brief gegen Netanjahu: Streit in der britischen Pessachwoche
Einige Delegierte des „Board of Deputies of British Jews“ verurteilen die israelische Kriegsführung in Gaza. Der Präsident des Dachvereins stellt sich dagegen.

Die letzten 18 Monate hätten gezeigt, dass der erfolgreichste Weg, israelische Geiseln nach Hause zu bringen und einen andauernden Frieden zu schaffen, in der Diplomatie liege. Gerade als ein von der Arabischen Liga unterstützter Plan für ein Gaza ohne Hamas auf dem Tisch gelegen habe, habe Israels Regierung das Waffenstillstandsabkommen gebrochen, hieß es weiter.
Damit sei der ultrarechte Politiker Itamar Ben Gvir zurück in die Regierungskoalition gebracht und die Regierungsmehrheit gestärkt worden. Seitdem sei keine Geisel freigekommen, während Hunderte Palästinenser:innen umkamen. Diese extremste israelische Regierung aller Zeiten habe außerdem Gewalt im Westjordanland angestachelt, baue mehr Siedlungen als je zuvor und greife Israels Demokratie an – sie entreiße dem Land die Seele.
Die 36 der insgesamt über 300 Delegierten des BoD positionierten sich mit den Familien der Geiseln und Hunderttausenden demonstrierenden Israelis. „Wir stehen gegen den Krieg und trauern um den Verlust palästinensischer Leben“, schrieben sie. Die meisten der Gruppe entstammen englischen und walisischen liberalen und reformierten jüdischen Gemeinden, darunter die zwei größten in London. Nebst anderen unterschrieben auch Vertreter:innen des jüdischen Studentenverbands, der jüdischen Arbeiterbewegung und der Organisation Yachads, die sich für eine Friedenslösung zwischen Palästinenser:innen und Israelis einsetzt.
Graswurzelbewegung solidarisiert sich
In Windeseile verbreitete sich die Botschaft über britische und internationale Berichte in alle Welt, erschien sogar in den abendlichen Hauptnachrichten des Senders Channel Four.
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Gegenoffensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
Dem Präsidenten des BoD, Phil Rosenberg, missfiel das anscheinend so sehr, dass er sich auf dem jüdischen Nachrichtenportal Jewish News zu Wort meldete. Rosenberg kritisierte die Berichterstattung über die Gruppe und mahnte an, dass ihre Meinung nicht die Mehrheit, sondern lediglich zehn Prozent der BoD-Delegierten repräsentierte, unter denen sich auch orthodoxe Vertreter:innen befinden.
Die Anschuldigungen richteten sich ihm zufolge einzig gegen die israelische Regierung. Die Hamas hingegen werde nicht für das Versagen bei der Implementierung der zweiten Phase des Geisel-Deals verantwortlich gemacht – die Hamas hatte einen weiteren Deal, welcher ihre Entwaffnung forderte, abgelehnt. Weder die Mehrheit der BoD-Delegierten noch der jüdischen Gemeinschaft würde der Auslegung zustimmen.
„Es ist offensichtlich wahnsinnig einfach, Medienaufmerksamkeit zu erhalten, wenn man mit Berufung auf seine jüdische Identität die israelische Regierung kritisiert“, behauptete Rosenberg. Diese Verzerrung lege eine Unterscheidung zwischen guten und schlechten Juden nahe, etwa wenn sie von Jeremy Corbyns ehemaligen Kabinettsmitglied John McDonnell zitiert werde. Unter Corbyns Führung hatte die Labourpartei große Probleme mit Antisemitismus, unter dem auch Rosenberg, damals Kommunalrat in London, litt.
We Democracy, eine Graswurzelbewegung britischer Jüdinnen und Juden und im Vereinigten Königreich lebender Israelis, zeigte sich verärgert über die Worte des BoD-Präsidenten. Aus ihrer Sicht sprächen die 36 Delegierten sehr wohl für eine Mehrheit der Israelis. Diese unterstütze weder die israelische Rechtsregierung noch eine Fortsetzung des Krieges und fordere die Rückkehr aller Geiseln. Dabei seien zumindest sie absolut klar in ihrer Verurteilung der Hamas. Die israelische Regierung müsse zur Verantwortung gezogen werden. Sie verweigere die zweite Phase eines verhandelten Waffenstillstands.
„Es war Netanjahu, der entschied, Ben Gvir zurück in seine Koalition zu holen, und sein politisches Überleben dem Nachhausebringen von 59 Geiseln vorzog. Echte Solidarität mit Israel bedeutet, für Demokratie geradezustehen, sich für die Freilassung der Geiseln einzusetzen, und für jene, die tapfer dem Extremismus entgegenstehen“, erklärte die Gruppe bei Jewish News.
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