: Robert und das Schulklo
Die Grünen und Robert Habeck setzen auf soziale Themen im Wahlkampf. Das verfängt, wenn der Spitzenkandidat über Turnhallen und Dänemark spricht. Aber reicht das?
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Aus Flensburg und Berlin Tobias Schulze
Er hat sich schon entschieden. Am ersten Freitag im Februar gibt Robert Habeck im Rathaus seines Wohnortes Flensburg seine Stimme ab, begleitet von Kameraleuten, Personenschützer*innen und Fotograf*innen. Die Entourage ist so groß, dass sich die Seniorin am Schalter nebenan strecken muss, als sie den Spitzenkandidaten der Grünen auch mal sehen möchte.
„Flott sieht er aus“, sagt die Frau dann. „Aber ich kann ja nicht nur nach Aussehen entscheiden.“ Ihre Stimme, erzählt sie, bekommt Habeck nicht. Sie sei Hausbesitzerin und könne sich die Grünen nicht leisten. Vom nächsten Schalter kommt ein Bekannter der Frau dazu, als er hört, worum es geht, stimmt er mit ein. Klimaschutz finde er gut, er habe sich sogar einen Hybrid gekauft, aber er müsse auch schauen, wo er bleibt. „Ich kann mich noch erinnern, da haben die Grünen 5 Mark gefordert für den Liter Benzin“, sagt er. „Jetzt treiben die uns die Kosten wieder hoch.“
Bei den beiden ist der Plan nicht aufgegangen. Die Grünen wollen in diesem Wahlkampf eigentlich mit neuen Akzenten punkten. Ihre Analyse: Nach drei Regierungsjahren, Inflation und Krisen fühlten sich viele Menschen von ihrer Politik finanziell überfordert. Dem müssten sie neue Schwerpunkte entgegensetzen: soziale Gerechtigkeit, ein bezahlbares Leben.
Habecks „Küchentischgespräche“ waren im Dezember ein erster Schritt. Für seine Social-Media-Kanäle hörte er sich die Sorgen einer Kita-Erzieherin und eines Bauern an, einmal war er auch bei der Bahnhofsmission. Die Videos wirkten auf viele arg inszeniert, klickten sich aber gut. Seit Anfang Januar tourt er jetzt durch die Hallen der Republik. In verschiedenen Variationen trägt er mehrmals die Woche, manchmal mehrmals am Tag, die gleiche Rede vor. Das Schlagwort „Gerechtigkeit“ fehlt selten.
Zum Beispiel am Mittag nach der Stimmabgabe in Flensburg, als er auf einer Grünen-Veranstaltung im Royal Warehouse spricht, einer Event-Location mit Champagnerflaschen in den Regalen und Moët-Aufdruck auf der Theke. Klingt mondäner als es ist: Die Halle liegt in einem Gewerbegebiet und ist kaum beheizt. Rund 200 Leute sind gekommen. Nicht schlecht für einen Werktag. An Zulauf fehlt es Robert Habeck nicht.
20 Minuten redet er über die gefährdete Demokratie und über den Klimaschutz, dann biegt er ab. „Wenn die Baggerfahrer im Braunkohlerevier hören, dass sie ab 2030 entweder Baggerfahrer woanders sein müssen oder umlernen müssen, dann ist es ernst.“ Veränderungen würden nicht allen Freude machen, das sei verständlich. „Deshalb verbindet sich die Frage von Transformation, von Klimaschutz, von Veränderung sehr, sehr stark mit der sozialen Frage.“
Ein Telefonat mit Habeck ein paar Tage später: „Das Thema ist sehr wichtig für mich, auf einer Stufe mit dem Klima.“ Er sitzt gerade im Zug nach Köln, wo Stefan Raab am Abend eine Sendung mit ihm aufzeichnet. Am Vormittag hat er im Bundestag gesprochen, wieder eine Variation seiner Wahlkampfrede, wieder mit einem Schwerpunkt auf Verteilungsfragen.
Um klassische Armutsbekämpfung geht es nicht. Von Sozialtransfers wie dem Bürgergeld oder der Kindergrundsicherung ist in diesem Grünen-Wahlkampf wenig die Rede. So wie sich der Diskurs in den vergangenen Jahren entwickelt hat, sind das keine Gewinnerthemen. Habeck spricht davon, Abgaben auf die Stromrechnung zu senken, das Deutschland-Ticket wieder für 49 Euro anzubieten und ein Sanierungsprogramm für Schulen aufzulegen. Keine Almosen, sondern Maßnahmen, die auch Haushalte bis weit in die Mittelschicht ansprechen sollen.
Bei den zwei Wähler*innen aus dem Flensburger Rathaus hat das nicht verfangen, bei anderen könnte es funktionieren. Zahlen gibt es von der Forschungsgruppe Wahlen. Für das Politbarometer fragt sie alle paar Monate ab, welcher Partei die Menschen die größte Kompetenz in Sachen sozialer Gerechtigkeit zuschreiben. Vor dem Ampel-Aus nannten 6 Prozent die Grünen, Ende Januar 11 Prozent – so viele wie zuletzt vor zwei Jahren, bevor die Debatte über das Heizungsgesetz ausbrach. Hinter der Union und vor allem der SPD bleiben die Grünen aber weiter klar zurück.
Erkenntnisse gibt es auch vom Kölner Rheingold-Institut, das für eine tiefenpsychologische Studie Interviews mit Wähler*innen durchgeführt hat. Demnach kommen Grünen-Plakate mit Slogans wie „Leben: Bezahlbar machen“ gut an. „Da hatte man das Gefühl: Die haben ein bisschen gelernt und sind nicht mehr ganz auf ihrem hohen Ross“, sagt Institutsgründer Stephan Grünewald. „Es schwang aber auch die Frage mit: Meinen die es ernst damit? Sehen die unsere Lebenswirklichkeit tatsächlich?“
Eine Glaubwürdigkeitsfrage, die sich auch an Habeck selbst stellt. Es ist zwar nicht so, dass er für diesen Wahlkampf erstmals ein Faible für Verteilungsfragen entwickelt hat. Als Landespolitiker und später als Parteivorsitzender diskutierte er offen über das bedingungslose Grundeinkommen. Als Parteichef setzte der Realo Postionen durch, die zuvor vor allem im linken Parteiflügel populär waren: Hartz IV überwinden, Schuldenbremse reformieren. Dann kamen aber die drei Jahre in der Regierung, in denen Habeck als Wirtschaftsminister naturgemäß mehr Zeit mit Unternehmer*innen und in Koalitionsausschüssen statt mit parteiinternen Arbeitsgruppen und den Sozialverbänden verbrachte. Manche Grüne erkannten ihn kaum wieder. In der öffentlichen Wahrnehmung blieben weniger die Entlastungspakete der Ampel haften, an denen er beteiligt war. Sondern: das Heizungsgesetz, für das zu Beginn die Förderung fehlte. Die zwischenzeitlich geplante Gasumlage, die das Heizen noch teurer gemacht hätte. Seine Beschwerde darüber, dass die Gewerkschaften zu emsig für kürzere Arbeitszeiten streikten.
Jetzt gibt es also wieder eine andere Tonlage. Hohe Mieten, hohe Lebensmittelpreise, hohe Energiepreise – das alles treffe Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen viel härter als Reichen, sagt Habeck. Es sei eine gemeinsame Analyse gewesen, solche Themen stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Das stimmt so wohl nicht ganz, es gab andere in der Partei, die als Lehre aus den Wahlniederlagen des vorigen Jahres früher über Gerechtigkeitsfragen redeten. Auch von der Basis kam starker Druck, wieder umzusteuern. Am Ende aber, zumindest das ist glaubhaft, kam auch Habeck zur gleichen Erkenntnis. Bei diesem Thema ist auch der linke Parteiflügel zufrieden mit dem Kandidaten: So viel Raum wie dieses Jahr hätten soziale Fragen in Grünen-Kampagnen selten erhalten, heißt es dort.
Und trotzdem bleibt die Frage, ob es reicht; ob der neue Kurs zu den Wähler*innen durchdringt und ob sie den Grünen ihre Versprechen auch abnehmen. Dass der Wahlkampf dieses Mal besonders kurz ist, macht die Image-Korrektur nicht leichter. Und medial, so der Eindruck in Habecks Umfeld, haben sie es mit den Gerechtigkeitsfragen schwer. Die Sorgen der Menschen und die Themen der Talkshows fielen auseinander, heißt es dort.
Den Wahlkampf dominieren andere Themen, vor allem Migration, Abschiebungen und Abschottung. Nachdem am Donnerstag in München ein Mann aus Afghanistan mit dem Auto in eine Verdi-Demo gerast ist, wird sich das bis zur Wahl kaum mehr ändern. Auch die Grünen selbst kommen um diese Debatte nicht herum. Um für Wechselwähler*innen in der Mitte eine Option zu bleiben, präsentierte Habeck im Januar öffentlichkeitswirksam einen 10-Punkte-Plan, der unter anderem schnellere Abschiebungen vorsieht. Nach Kritik aus der Partei ließ er ihn ein paar Tage liegen, nach der Tat von München holt er ihn wieder hervor. Für die Talkshows und die Presse ist das wahnsinnig interessant. Es bräuchte schon eine Brechstange, um daneben noch ein anderes Thema zu setzen. Einen 10-Punkte-Plan gegen hohe Preise gibt es vom Grünen-Kandidaten aber trotz allem nicht.
Am Morgen vor seiner Stimmabgabe ist Habeck in Flensburg an der Duborg-Skolen. Viele Schüler*innen gehören der dänischen Minderheit an, die Unterrichtssprache ist Dänisch, die Schule wird zum Großteil vom dänischen Staat finanziert. Aus der schicken Aula – Backsteinwände, LED-Spots an der Decke – hat man einen Panoramablick über die Förde. In dänische Kindergärten und Schulen schickten früher auch Habeck und seine Frau ihre Söhne.
Heute nimmt er an einer Podiumsdiskussion der Wahlkreiskandidaten teil. Erste Frage: Was sollte das wichtigste Thema dieser Wahl sein? „Frieden und Klimaschutz. Und das Ganze hängt eng damit zusammen, dass die Demokratie erhalten bleibt“, antwortet der Grüne. „Soziale Sicherheit“, sagt die SPD-Kandidatin neben ihm. Bei der Debatte fragt ein Schüler nach der Mietenpolitik. Er will später gern in Hamburg studieren, hat aber jetzt schon Sorgen vor der Wohnungssuche. Die SPD-Frau antwortet (Bafög hoch, Wohnungsbau ankurbeln, Mietpreisbremse verlängern). Habeck sagt nichts. Manchmal steht das Soziale in seinem Wahlkampf doch nur an Stelle 1b.
Und warum ist ihm das Thema überhaupt wichtig, jenseits des taktischen Kalküls? Es gibt andere in der Politik, die dazu erfolgreich Erzählungen um die eigene Person gesponnen haben. Ricarda Lang zum Beispiel, die prominenteste Sozialpolitikerin der Grünen, hat so oft von ihrer Kindheit mit einer alleinerziehenden Mutter gesprochen, dass mittlerweile viele glauben, sie sei in der schlimmsten Favela der Schwäbischen Alb aufgewachsen. Habeck könnte über die Aufsteigerbiografien seiner Eltern reden, über Geldsorgen als junger Vater und Schriftsteller. Aber fragt man ihn am Telefon nach einer solchen Schlüsselerfahrung, wirkt es erst mal, als verstünde er die Frage nicht ganz.
Braucht es für soziale Gerechtigkeit denn einen Grund? Nach einer Weile kommt doch etwas: Dass es eine starke gesellschaftliche Infrastruktur braucht, habe er gelernt, als die Söhne klein waren. „Wir haben selbstständig gearbeitet und waren darauf angewiesen, die Kinder in der Kita unterbringen zu können. Wenn die zu Hause waren, ging wenig – das kennen sicher viele Eltern.“
Dann gehen seine Gedanken noch ein paar Jahre zurück, zur Studienzeit an der Uni Roskilde, und jetzt kommt er richtig ins Erzählen. „Es mag auch an meiner Dänemark-Affinität liegen“, sagt er. „Wenn man mal in Kopenhagen studiert, sieht man, dass die öffentlichen Institutionen ganz anders ausgelegt sind. Man hält sich dort gerne auf. Dieses skandinavische Modell von Gerechtigkeit ist etwas anderes, als nur Sozialtransfers zu erhöhen. Sondern: Man stellt den öffentlichen Raum, Schulen, Universitäten, Stadtteilzentren, allen günstig zur Verfügung.“
An der Stelle könnte man wieder Kalkül unterstellen: Wer auf Wähler*innen abzielt, die sonst für die CDU stimmen, wer im Kopf schon bei Koalitionsverhandlungen mit der Union ist, kommt mit Schulsanierungen weiter als mit dem Bürgergeld. Bei Habeck ist es aber zumindest nicht nur das. Das hört man auch aus den Variationen seiner Wahlkampfrede heraus.
Stark ist er, wenn er von den Schulturnhallen erzählt, in denen er sich früher die Handballturniere seiner Söhne angeschaut hat. Den halben Tag rennen die Kinder herum, ohne einmal was zu trinken – weil sie sich so sehr vor den Toiletten ekeln. Die Anekdote bleibt hängen. In der Nase entsteht ein Geruch, vor den Augen ein Bild: Der Habeck reißt Ihnen jetzt nicht mehr die Heizung aus dem Keller, sondern die alte Kloschüssel aus der Turnhalle.
Schwach ist er bei anderen Punkten, die im Gerechtigkeitskapitel des grünen Wahlprogramms stehen. Am Nachmittag in der Flensburger Champagner-Halle kommt wieder eine Frage nach den Mieten. Bräuchte es nicht Enteignungen? Habecks Antwort: „Das umsetzbarste Mittel der Regulatorik ist die sogenannte Mietpreisbremse. Die muss verlängert werden und Schlupflöcher müssten geschlossen werden.“ Fremdwörter und Passivsätze. Niemand, der zu viel Miete zahlt und keiner, der sie in die Tasche steckt.
Ähnlich wie Mitte Januar, als Habeck im Fernsehen über seinen Plan für die Finanzierung der Krankenkassen sprach: Die kleinen Leute sollen weniger Abgaben auf ihren Lohn zahlen. Reiche, die von ihren Aktiengewinnen leben, sollen dafür mehr abgeben. Er formulierte es nur nicht so schön eingängig und machte es der Bild damit leicht, den Vorschlag ins Gegenteil zu verzerren. „So will Habeck Ihr Erspartes schrumpfen“, schrieb sie. „Diese Idee würde Kleinsparer sehr hart treffen!“ Für ein paar Tage hatten die Grünen doch mal ein Thema gesetzt. Nur anders, als sie es sich gedacht hatten.
Könnte Habeck nicht selbst etwas mehr zuspitzen? Mehr Konfrontation gegen die Reichen reinbringen? Einen Hauch von linkem Populismus, um stärker durchzudringen? „Ich spitze schon zu, wenn es sich anbietet, aber ich rede nicht auf Kommando wie ein Gorilla“, sagt Habeck am Telefon auf dem Weg zu Stefan Raab. „Das ist nicht mein Stil.“
Stimmt wohl. Nahe an seinem Maximum ist Habeck Anfang Januar bei einer Veranstaltung des Deutschlandfunks im Berliner Humboldt-Forum. Bevor die Sendung startet, quatschen sich der Moderator und sein Gast vor dem Publikum warm. Habeck erklärt die globale Milliardärssteuer, die das Wahlprogramm als Teil der Gegenfinanzierung vorsieht. „Bezogen auf die Vermögen der Milliardäre in Deutschland würde das fünf, sechs Milliarden Einnahmen jedes Jahr bringen. Ich würde vorschlagen, dieses Geld für die Bildung zu nehmen“, sagt er.
Danach möchte er noch etwas klarstellen. „Bevor es jetzt zu sozialneidisch klingt, will ich mal sagen, dass sehr viele Leute mit sehr hohen Vermögen mit ihrem Geld sehr viel gute Sachen tun. Das will ich nur mal zu Protokoll geben.“
„Bitte lauter“, ruft in dem Moment eine Frau dazwischen. Auf den hinteren Plätzen ist Habeck schlecht zu hören.
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