: Psychisches Leid ist doppeltes Leid
Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung sterben früher. Oft fürchten sie sich vor Arztterminen und werden schlechter versorgt. Helfen können Ansätze, die Körper, Psyche und Soziales zusammendenken
Aus Berlin Simon Barmann
Als sich bei Nancy Müller die Krankenkasse meldet, um ihren Antrag auf eine neue Pflegestufe zu prüfen, fühlte sie sich wie gelähmt. Ihr Herz raste, die Angst ließ den Kloß in ihrem Hals immer größer werden. Als ihre Tochter sie ermutigen wollte, pampte sie sie an: „Du musst es ja selbst nicht aushalten.“ Immer weiter wuchs der Druck auf ihrer Brust, nachts lag sie wach. Unentwegt malte sie sich das Gespräch mit der Krankenkasse aus – wie sie versuchen muss, ruhig zu bleiben, die Fragen zu beantworten. Wie sie sich zwingen muss, vor Aufregung nicht nur rumzustammeln und vor Unsicherheit nicht in Tränen auszubrechen. Über Tage hinweg konnte Nancy Müller an nichts anderes denken. Die Angst machte es ihr unmöglich, etwas anderes zu tun – einkaufen, oder unter Leute gehen, dazu fühlte sie sich außer Stande.
Der Termin ist mittlerweile zwei Monate her. Doch es war weder das erste noch das letzte Mal, dass sie dieses Gefühl der Panik überkam, erinnert sich Müller Anfang Herbst im Garten der Reha-Steglitz im Süden Berlins, einer Einrichtung für psychisch Erkrankte und pflegebedürftige Menschen. Dort hilft man der 73-Jährigen, besser mit solchen Terminen zurechtzukommen. Nancy Müller ist nicht ihr echter Name, sie bevorzugt es, anonym zu bleiben, auch um offen über ihre Diagnosen sprechen zu können.
Zurückgelehnt, fast entspannt, sitzt sie in einem weißen Plastikstuhl an einer langen Tafel im Garten und doch ist ihr Blick ernst, während sie spricht. Schon etliche Male habe der Gedanke, ihre gesundheitliche Situation schildern zu müssen, in ihr Angst ausgelöst. Jedes Mal aufs Neue wähnte sie sich in einer ausweglosen Situation – unvorstellbar, sie meistern zu können.
Nancy Müllers Stimme ist rau, vielleicht auch vom jahrzehntelangen Rauchen. Beim Sprechen gestikuliert sie viel und wirkt dabei in manchen Momenten viel jünger. Tiefe Falten liegen auf ihrer Stirn und auch neue Abdrücke haben ihre Spuren hinterlassen. Auf den Wangen zeichnet sich ab, wo eben noch die Sauerstoffmaske auf ihr Gesicht drückte. Ihre Sauerstofflasche ist nur eine Armlänge entfernt, untergebracht im Rollator neben ihr.
Seit Jahren ist Nancy Müller schwer krank, einerseits psychisch: Sie hat eine Angst- und Panikstörung, vor allem vor kleinen, beengten Räumen, und eine immer wiederkehrende schwere Depression. Hinzu kommt der Körper. Wegen einer schweren Lungenerkrankung bereitet ihr das Atmen Mühe. Zudem haben ihre verstopften Gefäße zu einem schweren Nierenleiden geführt und drohen nun die Gefäße zum Gehirn zu verschließen. „Und dann ständig diese stehenden Hosen“, sagt sie und deutet auf ihre Beine. So beschreibt sie die Wassereinlagerungen, deretwegen sie auf den Rollator angewiesen ist. Eigentlich weiß Nancy Müller, dass die Termine bei Ärzten oder mit dem Gesundheitsdienst für sie überlebenswichtig sind. Nur ihre psychische Erkrankung und der Horror, den sie bei solchen Terminen spürt, macht ihr immer wieder einen Strich durch die Rechnung.
Im Schnitt sterben Menschen, die wie Nancy Müller an einer schweren psychischen Erkrankung leiden, mindestens zehn Jahre früher. Grund dafür sind nicht etwa die psychischen Erkrankungen selbst, die den Lebenswillen brechen könnten, sondern somatische, also körperliche Krankheiten – das haben etliche Studien gezeigt. Geht es um Lungen-, Herz- oder andere somatische Erkrankungen, erhalten psychisch Erkrankte oft eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Forscher sprechen deshalb von einer Versorgungslücke mit schweren Folgen.
Zwei Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind schwer psychisch krank. Hinzu kommen die weniger schwer Erkrankten. Jedes Jahr sind in Deutschland insgesamt über 27 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Und unter allen psychisch Erkrankten leiden mehr als zwei Drittel zusätzlich an körperlichen Krankheiten. Allein kommen sie damit zumeist nicht zurecht. Zumal auch Krankheiten wie Krebs wiederum das Risiko erhöhen, psychisch zu erkranken.
Besonders chronische Erkrankungen kommen bei ihnen gehäuft vor, etwa Bluthochdruck, Übergewicht, Lungenerkrankungen und Krebserkrankungen. Das sind genau die Krankheiten, die zu weit mehr als der Hälfte aller Todesfälle in Deutschland führen. Und für die Betroffenen bedeuten sie in der Regel noch mehr Arzttermine.
Diese erfordern Vertrauen und Offenheit auf beiden Seiten. Ein Arzttermin ist ein Moment von großer Intimität. Gleichzeitig muss dabei oft alles sehr schnell gehen, eine Fülle an Informationen prasselt auf die Patienten ein. Nancy Müller fürchtet sich, in solchen Situationen zu versagen, und sorgt sich, nicht die richtigen Informationen zu geben. Sie scheut neue Kontakte und hat Angst vor unberechenbaren Situationen. „Alles, was außerhalb der Norm kommt, wirft mich aus der Bahn“, sagt sie. Oft kann sie sich im Nachhinein nicht an die Aussagen des Arztes erinnern oder sie vergisst, wie sie die Medikamente einnehmen sollte.
Weil Müller so tough wirkt, mag man das im ersten Moment kaum glauben. „Ich habe eine große Klappe, aber dahinter sieht es anders aus“, sagt sie. „Wie ich nach außen wirke, das ist der lustige Clown, den ich mir aufsetze“. Viele psychisch Erkrankte würden sich eine Fassade aufbauen, um durch den Alltag zu kommen. In den Momenten der Überforderung übernehme dann aber die Angst, dann sei nichts mehr da von der Selbstsicherheit, erzählt sie.
Die Gründe, warum Menschen mit psychischer Erkrankung häufig auch eine somatische Erkrankung haben, sind weitreichend. Zum einen haben psychoaktive Medikamente oft Nebenwirkungen, die Krankheitsrisiken erhöhen. So können Medikamente gegen Depression und Psychosen zu erheblicher Gewichtszunahme führen, dadurch steigt das Risiko für Bluthochdruck, erhöhte Körperfette und verstopfte Gefäße. Aber auch Stress, ein ungesunder Lebensstil, Suchterkrankung oder ein geringer sozioökonomischer Status fördern chronische Erkrankungen. Alles Probleme, von denen psychisch Kranke besonders oft betroffen sind.
Betroffene wie sie können diese Faktoren kaum allein ändern, das weiß auch Nancy Müller. Sie greift neben sich nach einem rosa Etui mit dem Aufdruck „wake up and dream“. Darin verstaut sie ihre selbstgestopften Zigaretten. Müller raucht seit ihrem 15. Lebensjahr. „Ich weiß, es ist bescheuert“, sagt sie, bevor sie sich eine Zigarette anzündet. Aber sie kommt nicht mehr weg davon. Und besonders viel rauche sie in Phasen, in denen es ihr schlecht gehe und ihre Ängste besonders groß sind. „Es ist eine Scheißsucht, so ist das einfach.“
Jörg Bergstedt, Leiter des Tageszentrums der Reha-Steglitz
Obwohl Suchterkrankungen häufig psychische Erkrankungen begleiten, erhalten die Betroffenen seltener Beratungsangebote. Und wo weniger Prävention ist, steigt das Risiko, somatisch zu erkranken. Auch andere Präventivmaßnahmen kommen bei psychisch Erkrankten zu kurz, etwa die Krebsfrüherkennung oder Ernährungsberatung. Dabei sind gerade sie umso mehr auf diese Angebote angewiesen. Trotzdem sind das nur Statistiken, nicht aber verallgemeinerbare Fakten. Deshalb müssen Ärzt*innen jede*n Betroffene*n individuell betrachten, diagnostizieren und evaluieren, welche Behandlung und welche präventiven Maßnahmen notwendig sind. Das braucht Zeit, die im Gesundheitssystem rar ist.
„Da war zum Beispiel der Arzttermin vor ein paar Monaten“, erzählt Müller. Nach einem Besuch bei ihrem Hausarzt wegen schmerzender und geschwollener Gelenke wurde sie zu einer Rheumatologin geschickt. Die Ärztin habe sie dann aber nicht mal richtig untersucht. „Stattdessen zeigte sie mir ein Bild von Rheumahänden und pflaumte mich an, warum ich überhaupt käme“, sagt sie. Die Rheumatologin attestierte ihr kein Rheuma, dafür eine hypochondrische Angststörung. Dafür gibt es einen eigenen Fachbegriff: Diagnosis overshadowing. Die psychische Erkrankung überlagert in der ärztlichen Sicht die somatische Erkrankung. Das Resultat sind nicht gestellte und verspätete Diagnosen.
Wegen solcher Erfahrungen ließ Müller über viele Jahre hinweg immer wieder Termine ausfallen. Bis sie 2018 Sonja Dymke traf. Dymke arbeitet als Soziotherapeutin im Tageszentrum der Reha und hilft Patient*innen, das zu bewältigen, was für andere alltäglich ist. Sie öffnet mit ihnen die Behördenpost, bezahlt mit ihnen Rechnungen und unterstützt sie darin, Betreuung zu organisieren, wie zum Beispiel häusliche Pflege. Nancy Müller braucht sie, um Arzttermine auszumachen.
Wie kürzlich, als die 73-Jährige dringend eine Magenspiegelung benötigte. Dymke musste letztlich elf Praxen abtelefonieren, um einen Termin zu bekommen. „Das kann eine angstgeplagte Person nicht leisten“, sagt sie. Sie begleitet Müller aber auch bis in die Praxis oder ins Krankenhaus. Manchmal gehe ihre Arbeit bis zum OP-Tisch, sagt sie. Vor einiger Zeit war Nancy Müllers Nierenarterie so verstopft, dass kaum mehr Blut hindurchfloss und die Niere zu übergiften drohte. In ihr sträubte sich alles dagegen, ins Krankenhaus zu gehen. Zum Glück war Dymke direkt da. Ohne sie hätte Müller den Weg nicht geschafft.
Eine solche Soziotherapie muss von einem Arzt verordnet werden, Kriterium ist eine gewisse Schwere der Beeinträchtigung. Zugang dazu hat Müller überhaupt erst durch die Reha-Steglitz gefunden. Von der hatte sie über eine Freundin erfahren. Müller erinnert sich noch gut, was sie damals dachte. „Mein erster Instinkt war: ich bin doch selbst bekloppt im Kopf, da muss ich nicht in eine Einrichtung gehen, in der alle bekloppt sind“, sagt sie und lacht auf. Mittlerweile betrachte sie die Menschen hier als ihre Familie: „Am Ende ist es ja so, dass es uns allen scheiße geht, jedem auf seine Art, und da können wir uns unterstützen.“ Sie zeigt auf eine junge, zurückhaltende Frau, die mit ihr am großen Tisch im Garten der Einrichtung sitzt. „Bei ihr sehe ich sofort, wenn es ihr schlecht geht. Dann fließen einfach die Tränen und ich verstehe sie.“ In der Klinik könne jede*r ihren Platz finden. Manche kommen nur zum Mittagessen oder zum sozialen Austausch, und andere nehmen, wie Müller, vor allem die Beratungsangebote wahr.
Solche Orte müssen Betroffene allerdings finden. Alle Angebote der Welt können nicht helfen, wenn die Betroffenen sie nicht wahrnehmen. Vor allem dann, wenn es Menschen sehr schlecht geht, schafften sie es gar nicht erst, Anlaufstationen wie das Tageszentrum zu finden, sagt Jörg Bergstedt, der Leiter des Tageszentrums der Reha-Steglitz. „Eine große Schwäche ist, dass verschiedene Akteure nicht kontinuierlich gut verzahnt arbeiten“, sagt er. Dadurch fielen Patient*innen durch das Raster oder fänden den Zugang zu Versorgungsstrukturen nicht. Bergstedt und sein Team bemühen sich deshalb um niedrigschwellige Angebote. Noch besser sei es, so Bergstedt, die Menschen dort anzusprechen, wo sie sich aufhalten, etwa zu Hause oder auf der Straße. Und auch die Zusammenarbeit mit den Kliniken könnte noch weiter verbessert werden. Häufig werde bei Entlassungen unterschätzt, dass die Patient*innen während ihres Aufenthalts im Krankenhaus zwar noch stabil wirken, das Kartenhaus dann aber zu Hause sehr schnell wieder zusammenstürze, sagt Bergstedt. In ihrem gewohnten Umfeld gerieten die Patient*innen nicht selten in eine Abwärtsspirale, bis sie dann irgendwann erneut im Krankenhaus landeten. Unter Fachleuten wird dieses Phänomen als Drehtüreffekt bezeichnet. „Wir müssen zusammen mit der Klinik Patient*innen besser auf die Entlassung vorbereiten“, sagt er. Ein Ziel sei es, Strukturen zu schaffen, die Patient*innen zwischen Krankenhaus, Arztpraxen und sozialen Unterstützungsangeboten vermitteln. Das könnte erleichtern, dass Einrichtungen wie die Reha-Steglitz und Krankenhäuser noch besser in den Austausch treten könnten. „Wir haben in Deutschland in der Gesetzgebung eine zu starke Trennung zwischen dem Krankenhaus, dem ambulanten Bereich und Angeboten der sozialen Teilhabe. In verschiedenen Gremien arbeiten wird daran, das aufzuweichen, um die Menschen nicht so häufig zu verlieren“, erklärt Bergstedt.
Ein wichtiger Schritt dafür war die Etablierung der ambulanten Komplexversorgung. Das ist ein offizieller Zusammenschluss von Ärzt*innen, Psycholog*innen, Ergotherapeut*innen und Soziotherapeut*innen. Ihr Ziel ist es, schwer psychisch Erkrankte engmaschig und interdisziplinär behandeln zu können, also: somatisch, psychologisch und sozial. Dafür arbeiten sie auch mit Krankenhäusern zusammen, um den Übergang zwischen den Sektoren zu schaffen. Um so verzahnt arbeiten zu können, tauschen sie sich zudem in regelmäßigen Besprechungen über die Patient*innen aus. 2003 noch war das Versorgungsnetz in Berlin, in dem Dymke integriert ist, ein Modellprojekt für dieses Vorhaben. Mittlerweile aber gibt es über 22 solcher Versorgungsnetze in Deutschland und seit Oktober 2022 werden sie auch offiziell von den Kassenärztlichen Vereinigungen gefördert. Für Bergstedt ist die Anbindung an ein Versorgungsnetz ein unheimlicher Zugewinn, sagt er. Denn so können die Betroffenen nicht nur durch das Zentrum sozial unterstützt werden, sondern finden über das Zentrum außerdem Anschluss an eine gute und umfassende Gesundheitsversorgung.
Müllers Antrag auf eine höhere Pflegestufe wurde kürzlich abgelehnt. Sie war niedergeschmettert, als sie davon erfuhr, erzählt sie am Telefon. Gemeinsam mit Dymke wolle sie aber Widerspruch einlegen. Dymke und Müller glauben, die Begründung der Krankenkasse weise mehrere Fehleinschätzungen auf. Das sei auch so etwas, was sie allein nicht schaffen würde. „Ich musste mein Leben lang stark sein, meine Kinder alleine großziehen und konnte nie Schwäche zeigen“, sagt Müller. Das habe ihr letztlich irgendwann den Stecker gezogen.
„Aber als psychisch kranker Mensch zu wissen, da ist jemand, der mir hilft – das ist ein großes Glück“.
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