Politische Gefangene in Russland: Aus Strafkolonien verschwunden

Mindestens sechs politische Gefangene sind nicht mehr in ihren bisherigen Haftanstalten – ohne jede Erklärung. Steht ein Gefangenenaustausch bevor?

Eine frau mit Batik-T-Shirt hinter Gitterstangen, im Vordergrund zwei uniformierte Polizisten

Künstlerin Sascha Skotschilenko vor Gericht in St. Petersburg, 16. November 2023. Jetzt ist sie verschwunden Foto: Dmitri Lovetsky/ap

MOSKAU taz | Als Almas Gatin in der Strafkolonie Nummer 28 der russischen Kleinstadt Beresniki in der Region Perm ankommt, mehr als 1.000 Kilometer nordöstlich von Moskau entfernt, weisen ihm die Mitarbeiter die Tür. Er wolle für Lilia Tschanyschewa, seine Frau, ein Paket abgeben? „So eine Gefangene ist aus der Einrichtung irgendwohin verschwunden“, teilen sie ihm mit. Wohin, sagen sie nicht.

Die 42-jährige Lilia Tschanyschewa hatte in ihrer Heimatstadt Ufa einst den regionalen Stab des mittlerweile in Haft getöteten russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny geleitet. Im November 2021 wurde sie wegen der „Schaffung einer extremistischen Gemeinschaft“ – zu dem Zeitpunkt waren alle Nawalny-Organisationen für „extremistisch“ erklärt worden – festgenommen und später zunächst zu 7,5 Jahren, dann zu 9,5 Jahren Haft verurteilt worden.

Information an die Mutter des Gefangenen Kevin Lick (18)

„So einen gibt es in dieser Einrichtung nicht“

Ihr Mann hatte seine Arbeit aufgegeben, war zu ihr in die Nähe gezogen. Er kennt die Schikanen russischer Behörden. Alle Angehörigen von Verurteilten, zumal politischen Gefangenen in Russland, kennen sie.

18-jähriger Schüler wegen Landesverrat verurteilt

Auch die Mutter des erst 18-jährigen Kevin Lick, eines wegen „Landesverrats“ zu vier Jahren verurteilten deutsch-russischen Staatsbürgers, hörte in diesen Tagen ähnliches wie Almas Gatin: „So einen Gefangenen gibt es in dieser Einrichtung nicht.“

Lick soll in Maikop, der Heimatstadt seiner Mutter in der russischen Republik Adygeja im Nordkaukasus, „militärische Objekte“ fotografiert und diese einem „Vertreter eines ausländischen Staates geschickt“ haben, lauteten die Anschuldigungen gegen den Jugendlichen. Erst mit zwölf war Lick mit seiner Mutter aus Deutschland nach Russland gezogen. Diese hatte hier eine bessere Zukunft für ihr Kind gesehen.

Wo ihr Sohn nun ist, weiß Viktoria Lick seit zwei Tagen nicht mehr. Wie es auch die Angehörigen und Anwälte von Ilja Jaschin und Oleg Orlow, von Sascha Skotschilenko und Xenia Fadejewa nicht wissen.

Der oppositionelle Moskauer Lokalpolitiker Jaschin hatte in seiner Youtube-Sendung über Butscha berichtet und wurde im Dezember 2022 zu 8,5 Jahren wegen „Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee“ verurteilt. Der 71-jährige Menschenrechtler Orlow, Mitgründer der mittlerweile liquidiertenMenschenrechtsorganisation „Memorial“, sitzt für 2,5 Jahre wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ in Sysran in der Region Samara ein.

Die Petersburger Künstlerin Skotschilenko hatte in einem Supermarkt die Preisschilder gegen Informationen zu den Opfern in der Ukraine ausgetauscht und wurde, ähnlich wie Jaschin, wegen „Falschinformationen zur russischen Armee“ zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die 32-jährige Fadejewa war, ähnlich wie Tschanyschewa, Koordinatorin des Nawalny-Stabs in Tomsk in Sibirien. Auch sie wurde wegen „Schaffung einer extremistischen Gemeinschaft“ zu neun Jahren Haft verurteilt. Erst Anfang Juli war sie in die Strafkolonie Nummer 9 nach Nowosibirsk verlegt worden.

„Etappierung“ nennt man das Verschwinden aus dem Knast

Dass Häftlinge plötzlich aus ihren Haftanstalten verschwinden, ist in Russland gar nicht so ungewöhnlich – wenn auch sehr alarmierend. „Etappierung“ heißt die menschenentwürdigende Maßnahme im ohnehin brutalen russischen Strafvollzug. Die Verschickung, die wie aus dem Nichts kommt und Wochen oder gar Monate dauern kann, geht noch auf die Zarenzeit zurück, als die Häftlinge etappenweise von Ort zu Ort gebracht wurden.

Dass nun mindestens sechs politische Gefangene, fast auf den Tag genau, aus ihren Haftanstalten verschwinden, sei „kein Zufall“, sagt Olga Romanowa, die Gründerin der Stiftung „Russland hinter Gittern“, die mittlerweile aus dem Exil arbeitet. Die Aktivistin hofft, das Verschwinden könnte ein Zeichen für einen baldigen Gefangenenaustausch sein – „vielleicht gegen Zivilgefangene in der Ukraine, die dort wegen Kooperation mit dem russischen Regime einsitzen.

Einen Austausch gegen den Tiergartenmörder Krassikow sehe ich nicht, das ist noch eine Stufe höher.“ Doch vielmehr rechnet sie allerdings mit einer „Verschlimmerung der Haftbedingungen für die sechs“. Die Behörden könnten die Urteile „umqualifizieren“, sie könnten neue Verfahren anordnen. „Mir scheint, die Verantwortlichen in den Strafkolonien hätten einen Befehl bekommen: Die Politischen kaltzumachen.“

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