Tania Martini
Martini Shot
: Welche Linke wollt ihr?

Didier Eribon war gerührt, als auf der Pariser Place de la Bataille-de-Stalingrad das alte Arbeiterlied „Ma France“ des Kommunisten Jean Ferrat erklang. Jean-Luc Mélenchons La France insoumise (LFI) hatte dorthin zur Wahlparty geladen. Le Pens Rassemblement National war vom neuen Linksbündnis verhindert worden – das war die erleichternde Nachricht, da konnte schon ein wenig Pathos aufkommen. Chansonnier Ferrat war elf Jahre alt, als sein jüdischer Vater, der vor russischen Pogromen nach Frankreich geflüchtet war, verschleppt und in ­Auschwitz ermordet wurde. Der kleine Jean überlebte dank kommunistischer Widerstandskämpfer, die ihn versteckten.

Mélenchon geriert sich selbst gerne als potenzielles Opfer von Faschisten. Das soll das rote Dreieck, das er häufig an seinem Revers trägt, wohl ausdrücken, während er und viele seiner Mitstreiter die Solidarität mit Juden aufgekündigt zu haben scheinen. Den jüdischen Dachverband CRIF nannte er eine „aggressive Gemeinschaft, die den Rest des Landes belehren will“. Einer seiner Genossen fand, dass die Vergewaltigung eines jüdischen Mädchens in Courbevoie zu sehr in den Medien thematisiert wurde. Und Rima Hassan, die man oft an Mélenchons Seite sieht, verkündete, der jüdische Staat ließe palästinensische Gefangene von Hunden vergewaltigen und stähle ihre Organe.

An diese und weitere Ungeheuerlichkeiten aus den Reihen der LFI und anderer Parteien aus dem neuen Linksbündnis erinnern nun 100 französische Intellektuelle in einem offenen Brief und fordern, den Nouveau Front populaire zu blockieren. Ob das eine gute Idee ist, darüber lässt sich streiten; nicht zu leugnen ist, dass LFI den antijüdischen Hass in Kauf nimmt. Im offenen Brief spricht man gar von einer antijüdischen Wahlstrategie; unterschrieben haben ihn bekannte Intellektuelle wie Boualem Sansal, Georges Bensoussan, Pierre-André ­Taguieff sowie Daniel Knoll, dessen alte Mutter, die die Schoah überlebt hatte, 2018 in ihrer Wohnung von einem Nachbar aus antisemitischen Motiven ermordet wurde. „Es ist kein Verdienst, den Antisemitismus der Vergangenheit zu verurteilen, wenn man gegenüber dem Antisemitismus der Gegenwart nicht unerbittlich ist“, so die Unterzeichnenden.

Jan Philipp Reemtsma zeigte kürzlich in einer brillanten Rede, die gerade in einem kleinen Band in der Hamburger Edition erschienen ist („ ‚Sagt, hab ich recht?‘ “), wie im Grunde stets „am Antisemitismus den Juden die Schuld“ gegeben wird. Die Frage, ob jemand Antisemit ist oder ab wann Israelkritik Antisemitismus ist, verwirft er zugunsten der Frage, „welcher Argumentationsmuster sich eine bestimmte politische Agitation bedient, welche Affekte sie stimuliert“.

Welche Affekte stimulieren Mélenchon und seine Genossen? Will man eine Linke, die antijüdische Ressentiments schürt oder dazu schweigt? Mit Hannah Arendt geantwortet: „Those who choose the lesser evil forget very quickly that they chose evil.“