Wahlkampf in Großbritannien: Wenn der andere im Regen steht
Anfang Juli wählt Großbritannien. Die Tories stecken in der Krise, die sozialdemokratische Labour-Partei hat gute Chancen. Doch Linke sind enttäuscht.
Es ist einfach, in Großbritannien Gründe zu finden, warum die Konservativen am 4. Juli abgewählt gehören. Das klingt etwa so: „Jeder weiß, dass unser Land nicht mehr funktioniert. Unsere Wirtschaft steckt im Chaos, wir kontrollieren unsere Grenzen nicht, die Kriminalität ist außer Kontrolle, unser Gesundheitssystem bricht zusammen, unsere Streitkräfte sind mangelhaft ausgerüstet, unsere Alten verrotten in schlechten Pflegeeinrichtungen. Derweil verfallen unsere Schulen, unsere Straßen sind löchrig, unser öffentlicher Verkehr ist unzuverlässig, unser Wasser ist verdreckt, unsere Energie ist teuer, und uns fehlen ein paar Millionen Wohnungen.“
Das ist kein Labour-Flugblatt. Es ist die neueste Kolumne der rechten Kommentatorin Julia Hartley Brewer im Boulevardblatt Sun, das gern die Behauptung pflegt, wahlentscheidend zu sein. Die Sun war lange stramm konservativ. Und jetzt?
Der Frust der Briten nach 14 Jahren Tory-Regierung sitzt so tief, dass der Chef der oppositionellen Labour-Partei Keir Starmer scheinbar gar nichts machen muss, um haushoch zu gewinnen. Den Sun-Vorwurf „Nichts funktioniert mehr“ erhob auch Starmer in seinem ersten Kampagnenvideo am Mittwoch, direkt nachdem Premierminister Rishi Sunak von den Tories beim Wahlkampfauftakt im Regen stand.
Unbeliebtes Spitzenpersonal
„Das Labour-Team konnte sein Glück kaum fassen“, beschreibt die linke Kolumnistin Polly Toynbee im Guardian den denkwürdigen Moment, als, wie der konservative Kolumnist Fraser Nelson im Daily Telegraph rekonstruiert, die in 10 Downing Street versammelten Minister „erbleichend“ mitansahen, „wie draußen Sunaks Anzug stetig den Regen aufsog und seine Worte fast vollständig in der Labour-Wahlkampfmusik um die Ecke untergingen“.
Ist der britische Wahlkampf also schon gelaufen? So einfach ist das nicht.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Keir Starmer folgte als Labour-Chef 2020 auf Jeremy Corbyn, der die Wahl 2019 gegen Boris Johnson krachend verloren hatte. Starmer trieb den linken Flügel aus der Partei hinaus – Corbyn kandidiert jetzt in seinem Londoner Wahlkreis als Unabhängiger. Viele linke Aktivisten sind bei den Grünen gelandet, oder bei der propalästinensischen Workers Party. Je sicherer ein Labour-Wahlsieg erscheint, desto ungefährlicher erscheint es linken Wählern, jetzt schon mal eine Proteststimme abzugeben – gegen Keir Starmer. Ebenso wie auf der rechten Seite viele Konservative im Angesicht des Tory-Untergangs zu den Rechtspopulisten von Reform UK wechseln, wie es Julia Hartley-Brewer in der Sun nahelegt.
Weder Sunak noch Starmer sind wirklich beliebt. Starmer war für Corbyn und Sunak war für Johnson, bevor beide ihre Vorgänger in die Wüste schickten. Linken dreht sich der Magen um, wenn Starmer dem Premier vorwirft, zu viele Flüchtlinge ins Land zu lassen, oder Labour „die wahre Partei des Patriotismus“ nennt. Starmer verspricht jetzt Wirtschaftswachstum und öffentliche Investitionen – genau wie Sunak.
Kaum Unterschiede im Programm
Mitte Mai enthüllte Starmer „sechs Bekenntnisse“ als „erste Schritte“ nach der Regierungsübernahme: Ausgabenkontrolle, Gründung eines CO2-freien staatlichen Energieversorgers, 40.000 zusätzliche Arzttermine pro Woche; eine Grenzschutzeinheit gegen Bootsflüchtlinge, mehr Nachbarschaftspolizei, 6.500 zusätzliche Lehrkräfte.
Das unterscheidet sich nur in Nuancen vom Tory-Programm. Am Freitag wurde Starmer in einem Interview daran erinnert, was er früher alles versprochen hatte und über Bord warf: Abschaffung der Studiengebühren, Verstaatlichung privatisierter Dienstleistungen, höhere Steuern für Reiche, 28 Milliarden Pfund (33 Milliarden Euro) Klimainvestitionen pro Jahr. Was ist damit? Als Antwort eierte Starmer herum und erklärte, man müsse sich eben zwischen Ende der Studiengebühren und kürzeren Wartezeiten beim Arzt entscheiden. Er wirkte defensiv und dünnhäutig.
Darin erinnert Starmer an die einstige Tory-Premierministerin Theresa May, die 2017 ebenfalls mit einem 20-Prozent-Vorsprung in den Wahlkampf startete und dann fast verlor. Ihr Glück war Labours Krise unter Corbyn. Starmers Glück jetzt ist der desolate Zustand der Tories unter Sunak. Für einen Wahlsieg dürfte das reichen. Aber auch fürs Regieren?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Umgang mit Trauer
Deutschland, warum weinst du nicht?
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Nahost-Konflikt vor US-Wahl
„Netanjahu wartet ab“
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Rechtsruck in den Niederlanden
„Wilders drückt der Regierung spürbar seinen Stempel auf“