Alkoholkonsum bei Jugendlichen: Die Verharmlosung hat ein Ende
Exzessiver Alkoholkonsum ist bei jungen Menschen weniger angesagt denn je. Das sollte gerade die Älteren ihre Konsumgewohnheiten überdenken lassen.
D er 14-jährigen Freundin stundenlang die Haare aus dem Gesicht halten, während sie sich die Seele aus dem Leib kotzt; dem bewusstlosen Mitschüler einen Krankenwagen rufen, damit man ihm im Krankenhaus den Magen auspumpen kann: Klingt hart, doch vor 10 Jahren war es allwöchentliche Realität vieler Jugendlicher – auch meine. Diese halbverborgene, teilweise traumatische Welt der Adoleszenz wurde von Jugendlichen wie Erwachsenen in fast nostalgischer Verklärung als „Kulturgut“ oder „Charakterbildung“ verharmlost. Das scheint sich langsam zu ändern – endlich.
Im Jahr 2022 ist der exzessive Alkoholkonsum bei jungen Menschen auf einen neuen Tiefstand gesunken. Laut einer Studie der Kaufmännischen Krankenkasse – KKH wurden deutschlandweit 10.680 Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren wegen einer akuten Alkoholvergiftung in einer Klinik behandelt. Das sind 5 Prozent weniger als 2021 und ganze 13 Prozent weniger als 2020. Im Vergleich mit den Zahlen von 2019 ist es ein Rückgang von 40,5 Prozentpunkte. Angesichts von Homeschooling und Ausgangs- und Kontaktverboten ist die Coronapandemie als Erklärung naheliegend. Doch scheint die Pandemie vor allem einen bereits bestehenden Trend beschleunigt zu haben.
Denn seit Jahren geht der Konsum von Alkohol und Zigaretten bei Jugendlichen laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zurück. Das mag daran liegen, dass Drogen gesamtgesellschaftlich stärker problematisiert werden. Durch Suchtprävention und das Internet können junge Menschen heute viel mehr über die Risiken wissen als noch vor einigen Jahren. Alkohol zum Beispiel ist ein Nervengift. Es wirkt direkt auf das Gehirn und schädigt Hirnfunktionen langfristig.
Einen ähnlich rückläufigen Trend gibt es beim Rauchen, auch dort steigen die Zahlen der Nie- und Nichtrauchenden seit den 2000er Jahren beständig an. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein für Gesundheit und Fitness. Seit mehreren Jahren verzichten Menschen beispielsweise unter der Initiative #dryjanuary für einen Monat auf Alkohol. Das bedeutet dennoch nicht, dass Jugendliche gar nicht konsumieren. Der Konsum von Cannabis zum Beispiel hat laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in den 2010er Jahren zugenommen.
Einfach nicht trinken
Gleichzeitig haben Jugendliche heute vielfältigeres Wissen über die Welt. Durch digitale Medien sind sie nicht nur aufgeklärter über die Risiken von Alkohol und Drogen allgemein, sie begegnen auch diverseren Lebensentwürfen, setzen ihre Prioritäten anders. Die eigenen Grenzen zu ziehen und einfach nicht zu trinken, ist heute viel akzeptierter als in den Generationen zuvor. Ist die Jugendkultur deshalb weniger exzessiv? Nicht unbedingt. Sie ist womöglich nur weniger gesundheitsgefährdend. Statt Alkoholexzessen gibt es heute andere Formen des Drucks dazuzugehören. Schönheits- und Gesundheitsnormen stehen dem exzessiven Alkoholkonsum da oft entgegen.
Mögliche Erklärungen für den Rückgang des „Komasaufens“ sind komplex, die Fakten aber sind eindeutig. Die Studie der KKH lässt einmal mehr hoffen, dass die gesellschaftliche Normalisierung von Alkohol in jüngeren Generationen endlich zu Ende geht. Die aktuelle Cannabisdebatte hat jüngst gezeigt, mit welchen Doppelstandards in der deutschen Drogendebatte hantiert wird. Cannabis sei eine Einstiegsdroge, Alkohol Genuss. Mit dieser Verharmlosung muss endlich Schluss sein. Es gibt keinen gesunden Alkoholkonsum, und die jungen Menschen von heute wissen das besser als jede Generation vor ihnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken