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„Wenn wir Betroffene stärken wollen, wird das nicht kostenlos sein“

Ein Recht auf Aufklärung für alle Betroffenen fordert die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus und warnt vor blinden Flecken besonders bei der evangelischen Kirche

Interview Tanja Tricarico

taz: Frau Claus, nach jahrelangem Wegducken hat die EKD nun eine Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche vorgestellt. Das Studienteam spricht von der „Spitze der Spitze des Eisbergs“.

Kerstin Claus: Die Einordnungen, die die Wissenschaftlerinnen heute vorgenommen haben, sind ja sehr eindeutig. Sexuelle Gewalt ist auch in der evangelischen Kirche vielfältig verübt worden, durch Pfarrer genauso wie durch pädagogisch tätige ehrenamtliche Kräfte und viele weitere. In diesem Sinne kann ich diesen Ausdruck der Spitze der Spitze des Eisbergs verstehen, wenn die Dispziplinarakten die einzige Grundlage sind, die systematisch ausgewertet wurde. Ich gehe sehr davon aus, dass sich gerade über diese Studie weitere Betroffene melden werden.

Es geht auch explizit um kirchliche Einrichtungen wie die Diakonie. Sehen Sie Bedarf, da auch in der Katholischen Kirche Nachforschungen anzustellen?

Ich sehe den Bedarf, überall dort nachzuforschen, wo Kinder und Jugendliche sich in ihrem Alltag – sei es Schule, sei es Jugendhilfe, Einrichtungen der Caritas oder der Diakonie, aber auch in ihrer Freizeit, im Sport oder bei anderen Angeboten – aufhalten und aufgehalten haben. Das Spannende für mich heute war auch, dass deutlich gesagt wurde: Täter waren vielfach mehrfach Täter, und nur wenn die ersten Meldungen ernst genommen werden und dann auch nachgeforscht wird, kann tatsächlich auch präventiv reagiert werden.

Die katholische Kirche setzt sich seit Jahren mit der Thematik auseinander, jetzt erst die evangelische. Warum?

Es gab heute dieses geflügelte Wort von „Wir sind die bessere Kirche“ als eine Haltung, die den Wissenschaftlerinnen entgegengeschlagen ist. Eine solche Haltung verursacht haufenweise blinde Flecken, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aus dieser Haltung heraus entsteht ein Narrativ, dass man sagt: Naja, das sind Einzelfälle, und das sind einzelne Täter. Dahinter konnte sich die Kirche sehr lange sehr gut verstecken.

Eine Betroffene forderte bei der Vorstellung der Studie die Stärkung ihres Amtes, anstatt die Aufarbeitung in der Kirche zu belassen.

Foto: imago

Kerstin Claus

Jahrgang 1969, ist seit März 2022 Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.

Da wird ja sichtbar, dass Betroffene kein Vertrauen mehr in die Kirche haben, dass sie die Aufarbeitung aus eigener Kraft hinbekommt. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, Aufarbeitung zu stärken und gesetzlich zu verankern. Es muss klar sein, dass Aufarbeitung ein grundlegendes Recht von Betroffenen ist und dass die individuelle Position von Betroffenen in solchen Prozessen gestärkt wird. Dieses Gesetz ist in Arbeit und in der Ressortabstimmung. Dazu gehört auch die strukturelle gesetzliche Verankerung des Amtes der Missbrauchsbeauftragten, aber auch der Aufarbeitungskommission.

Dafür werden Sie Geld und Personal brauchen.

Wenn wir Betroffene stärken wollen, dann wird das nicht kostenlos möglich sein. In der momentanen Haushaltslage ist diese Debatte schwierig. Aber ich möchte, dass es darüber eine parlamentarische und eine öffentliche Debatte gibt.