Krieg im Nahen Osten: Die Risse vertiefen sich

Extremisten schüren den Hass zwischen Israelis und Palästinensern. Am Tag nach dem Krieg ist die Zivilbevölkerung gefragt, den Frieden neu anzutreiben.

Trauernde Menschen, einige halten sich die Augen zu

Luftalarm im israelischen Holon, während Anghörige ihren Toten betrauern Foto: Evelyn Hockstein/reuters

Wie sieht der Tag nach dem Krieg aus? Man betrauert die Toten, versucht ein Gefühl von Sicherheit wiederherzustellen in der Hoffnung, dass es vorerst keine neuen Opfer geben wird. Blickt man in diesen Tagen auf den Landstrich zwischen Mittelmeer und Jordan, auf den Schmerz, der die Menschen dort erdrückt, und den Hass, der sich immer mehr ausbreitet, ist es schwer, sich einen solchen Tag vorzustellen.

Und es wird einen solchen Tag auch nicht geben können, wenn nicht eine Bedingung erfüllt ist: Die politischen Führungen auf beiden Seiten müssen ausgewechselt werden. Dass die radikalislamische Hamas in ihrer jetzigen Form nicht weiterexistieren darf, steht seit ihren Gräueltaten vom 7. Oktober außer Frage. Spätestens jetzt ist klar, dass es der Hamas um blutrünstiges Morden geht und die Vernichtung Israels.

Nicht um einen palästinensischen Befreiungskampf und auch nicht um die palästinensische Bevölkerung, die sie weiterhin als zivile Schutzschilde missbraucht. Doch es geht auch nicht ohne einen Regierungswechsel in Israel. Nicht nur, weil die israelische Regierung am 7. Oktober und vor allem im Vorfeld des Überfalls auf fatale Weise versagt hat. Nicht nur, weil sie das Land zerreißt und die Familien der Geiseln im Stich zu lassen droht. Sondern, weil auch sie den Hass schürt, der auf beiden Seiten immer verbitterter wird.

Es ist ein Denken, das nur noch ein „Wir oder die anderen“ kennt. Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, bewaffnet derzeit die jüdische israelische Bevölkerung mit 10.000 zusätzlichen Waffen in gemischten arabisch-jüdischen Städten, in Grenzregionen und in Siedlungen im Westjordanland. Zugegeben: Die wenigen unter den Be­woh­ne­r*in­nen der südlichen Kibbuzim und Ortschaften, die am 7. Oktober eine Waffe hatten, haben sich und andere vor den Terroristen schützen können.

Doch eine Bewaffnung der israelischen Zivilbevölkerung in der jetzigen Atmosphäre ist gefährlich. Die Sicherheit muss anders gewährleistet werden: durch die Entmachtung der Hamas, durch die Verhinderung eines erneuten militärischen und geheimdienstlichen Versagens und durch politische Lösungen.

Brutale Polizeigewalt

Fatal ist das brutale Vorgehen der Polizei innerhalb Israels. Ja, es gab die Jubelkommentare auf Face­book, worin palästinensische Is­raelis die Gräueltaten der Hamas feierten. Das ist widerlich und in diesen Tagen kaum zu ertragen. Doch die polizeiliche Verfolgung geht zu weit, sie trifft auch diejenigen, die schlicht ihren Schmerz über die Bombardierung von Gaza ausdrücken wollen, sie richtet sich auch gegen jüdische Aktivist*innen, die weiterhin gegen die Besatzung protestieren.

Dazu kommen Drohungen aus der Bevölkerung. Aus Angst vor Übergriffen wechselten schon einige linke jüdische Ak­ti­vis­t*in­nen ihre Wohnungen. Sied­le­r*in­nen verteilen in palästinensischen Orten im West­jor­dan­land Flugblätter, worin sie die „Große Nakba“ ankündigen, ­geben den Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen „eine letzte Chance“, das Westjor­danland Richtung Jordanien zu verlassen. Sie wollen „jeden Feind vernichten“ und die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen mit Gewalt vertreiben.

Regierungsmitglieder sprechen sich dafür aus, alle Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen aus dem Gazastreifen auf die Sinaihalbinsel abzuschieben. Gaza solle ausgelöscht werden. Wie soll ein Zusammenleben der jüdischen und palästinensischen Israelis aussehen, wie soll eine politische Lösung zwischen einer zukünftigen palästinensischen Führung und Israel möglich werden, wenn dieses Denken in alle Ritzen dringt?

Umfragen zeigen, wie sehr die Unterstützung für die is­rae­lische Regierung schrumpft. Die Likud-Partei von Regierungschef Benjamin Netanjahu fiele bei Neuwahlen von ihren aktuell 32 auf nur noch 19 Sitze. Die ultrarechten Parteien, die derzeit mit 14 Mandaten die Geschicke des Landes lenken, kämen nur noch auf vier oder fünf Sitze. Vieles hängt nun an der israelischen Zivilbevölkerung. Sie hat in den letzten Monaten bewiesen, wie besorgt und wie wach sie ist, wie viel sie kann.

Wenn sie versteht, dass es nicht nur Demokratie, sondern auch neue Friedensbemühungen braucht – allem Schmerz zum Trotz –, gibt es Hoffnung. Sie hat starke Vor­den­ke­r*in­nen in ihren Reihen: palästinensische und jüdische Israelis, die nach wie vor zusammenstehen. Stimmen, die klarer als je zuvor ­sagen, dass man gegen die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Hamas gleichzeitig kämpfen kann und muss.

Auf dass es den Tag nach dem Krieg geben möge, an dem Tote betrauert werden können in dem Wissen, dass dem Konflikt auf absehbare Zeit keine weiteren Menschen zum Opfer fallen werden.

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Jahrgang 1979, Auslandsredakteurin, zuvor von 2019 bis 2023 Korrespondentin für Israel und die palästinensischen Gebiete.

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