Arabischer Israeli über die Zukunft: „Es gibt genügend Platz für alle“

Thabet Abu Ras ist Palästinenser, Israeli und Friedensaktivist. Er blickt auch nach dem 7. Oktober zuversichtlich auf eine Zweistaatenlösung.

Eine Person steht vor zerstörten Häusern

„Juden und Araber werden am nächsten Tag weiter zusammenleben.“ Foto: Ammar Awad/reuters

wochentaz: Herr Abu Ras, Sie sind palästinensischer Israeli und Friedensaktivist. Ein Teil Ihrer Familie lebt in Gaza. Wie geht es Ihnen gerade?

Thabet Abu Ras: Ich bin ein palästinensischer Bürger im Staat Israel. Ich gehöre also zu denen, die zwischen den Stühlen sitzen, weil ich gleichzeitig Palästinenser und Israeli bin. Diese Doppelidentität ist in diesen Tagen besonders kompliziert. Ich bin hin- und hergeris­sen zwischen meinem Dasein als israelischer Staats­bürger, der sich furchtbar fühlt, weil ich einige Freunde durch die Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober verloren habe, und gleichzei­tig habe ich Ver­wandte und Freunde in Gaza durch die Luftan­griffe der israelischen Luftwaffe verloren.

Sie sind als Co-Direktor der jüdisch-arabischen Organisation Abraham Initiatives darum bemüht, den Graben zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis zu überbrücken. Wie beurteilen Sie die Situation?

Thabet Abu Ras, Co-Direktor der jüdisch-arabischen NGO Abraham Initiatives. Er promovierte an der Universität Arizona im Bereich Politische Geographie und lebt mit seiner Familie in Israel.

Dieser Krieg hat die Kluft, die es immer schon gab, weiter ausein­ander gerissen. Er hat uns in unseren Integrationsbemühun­gen zehn, fünfzehn Jahre zurück­geworfen und wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Situation.

Wir, die arabische Minderheit, haben in der israelischen Gesellschaft viel zu verlieren, wir wissen, dass wir nicht gleichberechtigt sind. Die Situation in Israel ist gerade sehr fragil. Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich …

… zwei extrem rechte Minister im Kabinett Netanjahu …

… und mit ihnen Siedler und Faschisten innerhalb der israelischen Gesellschaft versuchen jetzt, die arabisch-jüdischen Beziehungen in den gemischten Städten und in anderen Regionen auseinanderzureißen, so wie während des letzten Krieges im Mai 2021. Wir haben gesehen, was in Netanja mit den arabischen Studierenden passiert ist.

Dort versuchte Ende Oktober eine Gruppe von jüdischen Israelis, in ein Studentenwohnheim einzudringen, in dem palästinensisch-israelische Studierende lebten. Viele von ihnen riefen „Tod den Arabern“.

Wir von den Abraham Initiatives haben Koordinatoren für sozialen Zusammenhalt, die in fünf verschiedenen Städten daran arbeiten, Juden und Araber zusammenzubringen. Sie organisieren auch Freiwillige, die auf den Straßen patrouillieren, um jegliche Provokation durch Araber oder Juden zu verhindern. Die Situation ist gefährlich. Aber wir haben gleichzeitig viel Kraft und Unterstützung. Und wir sind dabei, mit den öffentlichen Meinungsbildnern in der arabischen und der jüdischen Gemeinschaft zu sprechen, dass sie öffentliche Erklärungen abgeben.

Staatspräsident Itzhak Herzog, der Oppositionspolitiker Benny Gantz, die arabischen Politiker Ayman Odeh, Mansour Abbas und Ahmed Tibi – sie alle erinnern daran, dass wir am nächsten Tag weiter zusammenleben werden. Juden und Araber sind hier, um zu bleiben. Ich glaube also nicht, dass es Ben Gvir gelingen wird, die gemischten, arabisch-jüdischen Städte aufzustacheln wie im Jahr 2021.

Woher nehmen Sie Ihre Zuversicht?

Ich sehe es ja täglich. Ich bin mit den Führungspersonen in verschiedenen Ortschaften im Gespräch. Ich muss sagen, dass auch die Bürgermeister aus dem rechten Spektrum, viele von der Likud-Partei, in den gemischten Städten gerade alles dafür tun, um Zusammenstöße zu vermeiden. Die Bemühungen des israelischen Sicherheitssystems liegen jetzt im Süden. Außer der extremen Rechten ist derzeit niemand an einer Eskalation innerhalb von Israel interessiert. Eben diese extreme Rechte verliert jedoch auf allen Ebenen an Boden. Die Regierung wird, glaube ich, sehr bald gestürzt werden.

Sie glauben, dass Netanjahu, der sich mit aller Macht an sein Amt klammert, nicht mehr lange regieren wird?

Ja. Der öffentliche Druck ist riesig. Netanjahu wird nicht weitermachen können. Die arabischen Politiker sind Teil des Drucks. Es gibt im Moment viel Koordination zwischen arabischen und zionistischen Parteien wie der von Benny Gantz und Yair Lapid, um die politische Realität in Israel zu verändern.

Welche Vision haben Sie für Gaza?

Ich glaube, dass Israel eine friedliche Lösung finden muss, um die Geiseln zu befreien, Gefangene auszutauschen, die Hamas zu entwaffnen und eine internationale Friedenskonferenz einzuberufen, die zur Gründung eines unabhängigen und souveränen palästinensischen Staates an der Seite Israels führt. Es gibt Lösungen, die beide Parteien mit dem Engagement der internationalen Gemeinschaft und der arabischen Welt finden können. Wir können nicht damit fortfahren, Gaza auszulöschen. Zumal Israel vielleicht eine Art Sieg über die Hamas erringen kann, aber die Hamas wird sich nicht auslöschen lassen. Man muss nur an das soziale Netzwerk der Hamas denken und an ihre Zweige in all den Flüchtlingslagern und Städten in Gaza. Auch im Westjordanland stehen die meisten Bürgermeister der Ideologie der Hamas nahe.

Aber würde die Hamas einer solchen Lösung zustimmen?

Ich glaube, dass die Gesellschaft des Gazastreifens der Zerstörung müde ist. Sie sind der Kriege überdrüssig. Sie würden gerne Hoffnung sehen. Möglicherweise hat die Hamas das jetzt verstanden. Und dass sie Kompromisse eingehen sollte.

Was soll mit den israelischen Geiseln geschehen, die sich in den Händen der Hamas im Gazastreifen befinden?

Die Hamas sollte alle zivilen Geiseln bedingungslos freilassen. Sofort. Damit blieben noch einige Dutzend israelische Soldaten als Geiseln, und die sollten im Austausch für palästinensische politische Gefangene freigelassen werden.

Auch im Westjordanland verschärfen sich die Fronten derzeit.

Seit Anfang des Jahres sind über 300 Palästinenser im Westjordanland getötet worden. Siedlungen werden auf Kosten der Palästinenser ausgebaut. Derzeit erleben wir die erzwungene Umsiedlung von einigen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen aus ihren Dörfern. Wir sehen, wie die Siedler Palästinenser bei der Olivenernte angreifen und einen von ihnen getötet haben. Es gibt also tatsächlich viel jüdischen Terror im Westjordanland. Und das hat überhaupt nichts mit der Hamas zu tun.

Wie kann eine politische Lösung nach den jetzigen Ereignissen aussehen? Hat es noch Sinn, sich auf die Zweistaatenlösung zu berufen, oder kann sie in die Mottenkiste?

Wir können uns nicht erlauben, die Zweistaatenlösung zu entsorgen. Doch die klassische Zweistaatenlösung funktioniert nicht mehr. Wir müssen zwei unabhängige, getrennte Staaten gründen, als Ausdruck der Selbstbestimmung beider Gruppen. Doch dabei müssen mehrere Probleme gelöst werden: Die Siedlungsproblematik, die Flüchtlingsfrage, Jerusalem. Um die zu lösen, müssen wir kreativer denken. Deswegen glaube ich an die Initiative „Zwei Staaten – ein Heimatland“, die ich mit begründet habe. Wir gehen davon aus, dass es zwei Staaten geben muss, aber dass das geografische Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer das Heimatland der Palästinenser und der Juden ist. Im gesamten Gebiet sollten sich alle Bewohner uneingeschränkt bewegen dürfen. Es gibt genügend Platz für alle.

Viele Frie­dens­ak­ti­vis­t*in­nen haben nach dem 7. Oktober ihre Hoffnung verloren. Sie nicht?

Ich bin – auf schreckliche Weise – nach dem 7. Oktober hoffnungsvoller als vorher. Die Ereignisse sind ein Weckruf für die Palästinenser, die Israelis und die internationale Gemeinschaft, um einen dauerhaften Frieden zu erreichen – für mein Volk, die Palästinenser, und für mein Land, Israel. Es gibt so unsagbar viel Schmerz, viel Leid für Israelis wie Palästinenser, aber es gibt keinen anderen Weg, als Frieden zwischen den beiden Parteien zu schließen. Frieden wird unter Feinden geschlossen, nicht unter Freunden. Es handelt sich um einen politischen Konflikt, der auf politischem und friedlichem Wege gelöst werden sollte. Wir müssen sicherstellen, dass Gaza nie mehr eine Bedrohung für Israel sein wird und gleichzeitig müssen wir fünf Millionen Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland Hoffnung geben. Deshalb hoffe ich, dass die USA und mit ihnen die internationale Gemeinschaft eine internationale Friedenskonferenz leiten werden, die einen palästinensischen Staat an der Seite Israels hervorbringt.

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