Proteste gegen Netanjahu: Israels Regierung gerät unter Druck

Gegner des Kabinetts Netanjahu gehen wieder auf die Straße, der Rückhalt für den Ministerpräsidenten sinkt. Die USA intensivieren diplomatischen Einsatz.

Demonstranten stehen vor der Residenz von Benjamin Nethanjahu und fordern seinen Rücktritt - sie tragen T-Shirts und Plakate mit einer roten Hand auf seinem Porträt

Israelis fordern am Samstag vor Netanjahus Residenz in Jerusalem seinen Rücktritt Foto: Debbie Hill/UPI/imago

BERLIN taz | Sie sind zurück in den Straßen, die israelischen Protestierenden, die mehr als ein halbes Jahr lang gegen die Justizreform anriefen. Anfang Oktober wurden die Proteste durch den großangelegten Terrorangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel jäh unterbrochen. Nun sind sie mit aktualisierten Botschaften zurück, die die Wut und den Schmerz über die Ereignisse des 7. Oktobers mit sich tragen. „Bibi muss weg“, riefen Tausende vor der Residenz von Premierminister Benjamin Netanjahu in Jerusalem. Einige durchbrachen die Polizeiabsperrung. Es kam zu Rangeleien.

Auch im Zentrum von Tel Aviv versammelten sich Tausende. „Bring them home“ stand auf ihren Schildern, mit denen sie forderten, dass die Rückkehr der von der Hamas in den Gazastreifen entführten Geiseln absolute Priorität sein müsse. Kurz nach dem Ende der Demonstration ertönten die Sirenen, die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen ankündigten.

Niemand weiß, wie und wann der Krieg enden wird. Trotzdem – oder deswegen – glauben die meisten Israelis, dass Netanjahus politisches Ende unmittelbar bevorsteht. Auch Gayil Talshir, Politikwissenschaftlerin an der Hebräischen Universität Jerusalem und Netanjahu-Expertin, hat daran keinen Zweifel: „Die Regierung wird sich nicht mehr lange halten können“, sagt sie am Telefon.

Umfragen zeigen, dass hauptsächlich Netanjahu für das katastrophale Scheitern am 7. Oktober verantwortlich gemacht wird. Die Umfragewerte für die israelische Regierung befinden sich im freien Fall. Die Likud-Partei von Regierungschef Netanjahu erhielte bei Neuwahlen von ihren aktuell 32 nur noch 19 Sitze. Die ultrarechten Parteien kämen nur noch auf vier oder fünf Sitze. Aktuell besetzen sie 14.

Regierung lasse Opfer im Stich

Es sind längst nicht nur Linke, die ihren Unmut laut zeigen. Die heftige Kritik kommt von den Familien der am 7. Oktober Getöteten oder Entführten. Er kommt von den Menschen, die aus Sorge vor einem Kriegseintritt der Hisbollah von der Nordgrenze Israels evakuiert wurden und die von der Regierung so gut wie keine Unterstützung erhalten. Von Menschen, die die Massaker miterlebten und nun von der Regierung alleingelassen werden.

Harsche Kritik kommt auch aus Netanjahus eigenen Reihen: Am 1. November trat der Vorsitzende eines Regionalrats, dessen Gebiet an den Gaza­streifen grenzt, öffentlich aus der Likud-Partei aus und forderte andere Likud-Mitglieder auf, es ihm nachzutun. Hilfe für die Evakuierten aus den Ortschaften nahe dem Gaza­streifen kommt bislang über private Spenden und Organisationen, nicht von der Regierung – staatliche Unterstützung durch die Regierung sei auch nicht in Sicht.

Politikwissenschaftlerin Talshir rechnet mit einem sehr baldigen Ende der Regierung, sobald sich die Situation in Gaza in irgendeiner Weise stabilisiert hat – unter der Voraussetzung, dass die Hisbollah nicht in den Krieg einsteigt. Sie geht davon aus, dass diejenigen, die die parlamentarischen Möglichkeiten für einen Regierungswechsel vorantreiben, nicht bis zum Ende des Krieges damit warten werden. Auch deshalb, weil allen klar ist, dass Netanjahu Interesse an einem langen Krieg hat. Er weiß, was ihn danach erwartet.

Denkbar wäre der Sturz der Regierung durch ein konstruktives oder destruktives Misstrauensvotum. Doch für genauso möglich hält es Talshir, dass die Proteste so gigantisch werden, dass sie Netanjahu förmlich aus dem Amt zwingen, auch wenn sich niemand einen freiwilligen Abgang Netanjahus vorstellen kann. Die einzige Option, die kursiert: Netanjahu könnte mit einem Deal in seinem Gerichtsverfahren möglicherweise um eine Haftstrafe herumkommen und so zum Rücktritt überredet werden.

Und nicht nur innenpolitisch wächst der Druck. US-Präsident Joe Biden soll Netanjahu im letzten Gespräch dazu aufgefordert haben, sich zu überlegen, welche Lehren er seinem Nachfolger weitergeben wolle. Netanjahus Zeit laufe ab.

Diplomatische Bemühungen laufen auf Hochtouren

Die USA haben ein Interesse daran, die Stabilität im Nahen Osten wiederherzustellen und den Einfluss Irans und Russlands zurückzudrängen. Ein wichtiger Schritt dafür wäre ein Normalisierungsabkommen zwischen Saudi-Arabien und Israel. Angesichts des Krieges hat Saudi-Arabien dies eine Woche nach Kriegsausbruch gestoppt. Dass mit Netanjahus ultrarechter Regierung nicht die Schritte gegangen werden können, die dem Nahen Osten Stabilität bringen, wird immer deutlicher. Das rechtsextreme Kabinettsmitglied Amichai Eliyahu sorgte am Sonntag mit einer Äußerung im Radio für internationalen Aufruhr: Er halte das Abwerfen einer Atombombe über Gaza für eine Option. Netanjahu suspendierte Eliyahu bis auf Weiteres von sämtlichen Regierungssitzungen.

US-Außenminister Antony Blinkens diplomatische Bemühungen laufen derweil auf Hochtouren. Bereits zum dritten Mal innerhalb eines Monats ist er in der Region unterwegs. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drängte er dazu, eine vorübergehende „humanitäre Pause“ zuzulassen und die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu schützen. Forderungen von Ver­tre­te­r*in­nen arabischer Länder nach einem sofortigen Waffenstillstand wies er bei einem Treffen in Amman am Sonntag zurück. Ein Waffenstillstand würde der Hamas nur die Möglichkeit geben, „sich neu zu formieren“ und zu wiederholen, was sie am 7. Oktober getan hat, begründete Blinken seine Ablehnung.

Die Lösung für das im Gazastreifen entstehende Machtvakuum – sollte es Israel gelingen, die Hamas zu entmachten – sieht Blinken in einer Machtübernahme der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmoud Abbas im Gazastreifen. Ein Treffen zwischen Blinken und Palästinenserpräsident Abbas endete am Sonntag zwar ohne gemeinsames Statement. Der palästinensischen Nachrichtenagentur WAFA zufolge, dem Sprachrohr der Autonomiebehörde, habe Abbas jedoch erklärt, bereit zu sein, Verantwortung im Gazastreifen zu übernehmen, wenn dies eine umfassende politische Lösung einschließt. Blinkens Sprecher Matthew Miller sagte, die beiden hätten auch über die Notwendigkeit gesprochen, „die extremistische Gewalt gegen Palästinenser“ im Westjordanland zu stoppen. Seit Ausbruch des Krieges haben Angriffe extremistischer Siedler im Westjordanland weiter zugenommen. Medienberichten zufolge hat der Sicherheitsdienst Shin Bet die Regierung vor einem Ausbruch von Gewalt im Westjordanland gewarnt, wenn die Gewalt durch Siedler, die innerhalb der Regierung Rückhalt genießen, nicht eingedämmt wird.

Den Rückhalt in der Öffentlichkeit, den Netanjahus Regierung verliert, gewinnt den Umfragen zufolge der zentristische Benny Gantz. Die rechten Extremisten verlieren an Boden. Es könnte der Beginn für gute Nachrichten aus dem Nahen Osten sein.

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