Sondersitzung nach „Tag X“-Protest: Eine milde „Umschließung“?
Die Polizeitaktik bei den Leipziger "Tag X"-Protesten nach der Verurteilung von Lina E. wird im Innenausschuss des Landtags kontrovers diskutiert.
Dem Quartett wurde die Bildung einer kriminellen Vereinigung im linksextremen Milieu vorgeworfen. In Leipzig hatten die Ordnungsbehörden für das Wochenende nach dem Urteil das Demonstrationsrecht stark eingeschränkt. Elf Stunden lang kesselte die Polizei eine Gruppe von etwa tausend Personen zur Identitätsfeststellung ein.
Die Reduzierung eines angemeldeten Aufzugs auf eine stationäre Kundgebung und die spätere „Umschließung“ sei eine Folge der Gefahrenprognosen und der gewalttätigen Straftaten von Demonstranten gewesen, rechtfertigte der Innenminister das Vorgehen der Polizeidirektion Leipzig. Das Stadtfest, ein Grönemeyer-Konzert und das Fußball-Endspiel im Sachsenpokal hätten ungestört stattfinden können.
„Die geplante Schlacht von Leipzig – das hat nicht stattgefunden“, erklärte Schuster. Seine Wortwahl lag damit nicht weit entfernt von der des AfD-Abgeordneten Sebastian Wippel. Der sprach von der Absicht der linksextremen Szene, „eine ganze Stadt zu tyrannisieren und einen Stadtteil in Schutt und Asche zu legen“.
Versammlungsfreiheit „faktisch entleert“
Auch die CDU-Fraktion im sächsischen Landtag unterstützt die Leipziger Polizeitaktik vorbehaltlos. Oppositionsvertreter wie die Linken-Innenpolitikerin Kerstin Köditz, aber auch die beiden Partner der Union in der Kenia-Koalition, verurteilten Attacken von Demonstranten. „Eine nicht geringe Zahl von Demonstranten war nach Leipzig gekommen, um Gewalt zu suchen“, stellte Valentin Lippmann für die Bündnisgrünen fest. Das sei nicht entschuldbar.
Andererseits halten Grüne, Linke und Teile der SPD die Einkesselung einer so großen und nicht durchweg gewaltbereiten Gruppe für unverhältnismäßig. Lippmann sprach von einer „hohen Zahl von Unverdächtigen“. „Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wurde faktisch entleert“, scherte sich der grüne Innenpolitiker wenig um die Koalitionsdisziplin. Die Gefahrenprognosen überzeugten ihn nach wie vor nicht.
„Kollateralschäden dürfen dabei nicht billigend in Kauf genommen werden“, kritisierte auch sein SPD-Kollege Albrecht Pallas, der selbst als Polizeibeamter tätig war. Seine Liste von 30 Fragen blieb noch weitgehend unbeantwortet.
Die Linke Köditz vermisst auch nach der sechsstündigen Ausschusssitzung klare Informationen des Innenministeriums über die tatsächlichen Vorgänge im Kessel. „Es ist ein Zufall gewesen, wer in diese Umschließung hineingekommen ist“, resümiert sie. „Das war eine Ansage gegen die Versammlungsfreiheit.“ Widersprüchliche Angaben gibt es über eine angebliche Versorgung mit Essen, Getränken und Toiletten in dieser kalten Samstagnacht.
Innenminister Schuster verteidigt Einsatz
In der MDR-Fernsehdebatte „Fakt ist“ am Montagabend nach der Ausschusssitzung bezeichnete Innenminister Schuster die „Umschließung“ nochmals als das mildeste Mittel. Viel zu riskant und provokant wäre vielmehr der Versuch gewesen, identifizierte Straftäter aus der Menge herauszuholen. Unklar bleibt weiterhin, ob sich der Werfer eines Molotowcocktails überhaupt unter den Eingeschlossenen befand. Seine Attacke wertete die Polizei als Mordversuch und löste ein härteres Vorgehen aus.
Der Innenminister behauptet auch weiterhin, jeder, der sich unschuldig fühlte, hätte den Kessel verlassen können. Augenzeugen berichten allerdings, dass sie dann ihr Handy hätten abgeben müssen. In den sozialen Medien und in anonymen Schreiben an das Innenministerium schildern Minderjährige unterbundene Telefonkontakte mit ihren Eltern und ihre teils entwürdigende Behandlung bei Leibesvisitationen.
Unbeirrt spricht Armin Schuster dennoch von einer „ausgestreckten Hand“ der Polizei. Die polizeiinterne Nachbereitung des Einsatzes sei aber noch nicht abgeschlossen.
In der MDR-Fernsehsendung erfuhr man auch von einer erstaunlichen, einstündigen Begegnung des Innenministers mit der direkt gewählten Linken-Landtagsabgeordneten Juliane Nagel aus Leipzig-Connewitz. Sie war eine der Anmelderinnen einer Versammlung und wurde ebenfalls bedrängt. Für den Minister ist das Gespräch Teil einer neuen kooperativen Strategie in Leipzig, zu der unter anderem die Abschaffung der Waffenverbotszone in der Eisenbahnstraße gehört. Mit seinen Schlussbemerkungen verblüffte Schuster viele: „Leipzig braucht eine linke Szene, dieser Kiez gehört zur Stadt!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung