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Politik für Geflüchtete: in Pankow nicht erwünscht. Elke Breitenbach (Linke) vor Containern Foto: Tina Eichner

Nach den Wahlen in BerlinSchwarzer Rand um die Stadt

Innen Grün, außen Schwarz und Rot verschwindet fast ganz – so sieht Berlins politische Landkarte nach der Wahl aus. Ist die Stadt wirklich gespalten?

I m Wahlkreis Neukölln 3 zeigt sich viel von dem, was die Berlinwahl geprägt hat. Auf der Sonnenallee, jenseits des S-Bahn-Rings, wo die Außenbezirke beginnen, gräbt sich die Baustelle der asphaltschwarzen A100 durch Neukölln. Weiter, Richtung stadtauswärts, tauchen graue Häuser auf, bunt mit Grafftit besprüht – „unser Zuhause“ steht da in grellem Pink.

Und fast am Ende der Straße liegt die High-Deck-Siedlung. Ein Komplex aus Wohnhäusern, Rampen und hochgelagerten Pflasterwegen. Hier hat an Silvester ein Reisebus in einer Unterführung gebrannt, die Fassade der Häuser darüber ist noch immer geschwärzt vom Rauch. Verkehr, Wohnen, Sicherheit – Themen, die die Ber­li­ne­r*in­nen im Wahlkampf bewegt haben.

Die Wahl selbst fiel dann recht deutlich aus. Die Oppositionspartei CDU erreichte mit 28,2 Prozent gut 10 mehr als bei der Wahl 2021. Die regierende SPD wiederum gab mit 18,4 Prozent ganze 3 Prozent ab. Die Grünen verloren hingegen nur ein halbes Prozent und kamen gleichauf mit der Koalitionspartnerin SPD. Und die Dritte im Bündnis, die Linke, verlor knapp 2 Prozent und kam auf 12,2 Prozent.

Noch deutlicher wird das Ergebnis, wenn man die geografische Verteilung der Zweitstimmen auf einer Karte von Berlin betrachtet: Innerhalb des S-Bahn-Rings sind die Grünen stärkste Kraft, außerhalb des S-Bahn-Rings die CDU. Bei der vergangenen Wahl sah man dort noch einen schwarz-roten Flickenteppich, besonders verloren hat hier also die SPD. Der Spitzenkandidat der CDU, Kai Wegner, sagte dem Tagesspiegel, Berlin sei gespalten.

Schwierige Regierungsbildung

Schwarz Die CDU hat die Wahl mit 28,2 Prozent klar gewonnen, es ist das beste Ergebnis für die Christdemokraten seit 20 Jahren in der Hauptstadt. Insbesondere in den Außenbezirken ging fast jedes Direktmandat an die CDU. SPD und Grüne kommen hinter der CDU auf jeweils 18,4 Prozent – mit nur 53 Stimmen liegt die SPD derzeit vorne. Am Montag soll das amtliche Endergebnis der Berlinwahl offiziell feststehen.

Grün Die Regierungsbildung macht das knappe Rennen um Platz zwei nicht einfach. Die Grünen werden sowohl von der CDU umworben als auch von der SPD. Auch eine Groko wird derzeit sondiert. Aber dann müsste die Noch-Regierende Franziska Giffey (SPD) ihren Führungsanspruch aufs Rote Rathaus aufgeben. Die Spitzen im SPD-Landesverband gaben ihr – trotz des schlechtesten Ergebnisses seit 1950 für die Berliner SPD – Rückenwind für Rot-Grün-Rot.

Verwählt Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 2021 verlief chaotisch: lange Schlangen vor den Wahllokalen, falsche Stimmzettel, Abstimmungen nach 18 Uhr. Das Landesverfassungsgericht ordnete daraufhin eine komplette Wiederholung der Wahl am 12. Februar an. Ob auch die Bundestagswahl in 431 Berliner Wahlbezirken wiederholt wird, muss das Bundesverfassungsgericht noch entscheiden. (akl)

Wahlkampf kommt von Kampf

Der Wahlkreis Neukölln 3 liegt am S-Bahn-Ring – ein Zipfel des Wahlkreises liegt innen, ein Großteil außen. Zwischen der A100 und der High-Deck-Siedlung befindet sich ein Café. Dort gibt es Börek und belegte Brötchen, türkischen Tee und Kaffee. In der Ecke steht ein Tischchen auf einem roten gemusterten Teppich.

Für Derya Çağlar von der SPD war das Café ein Rückzugsort im Wahlkampf. „Wahlkampf heißt ja nicht umsonst Kampf“, sagt sie heute, knapp eineinhalb Wochen nach der Wahl. Und dieses Mal sei der besonders anstrengend gewesen. Die zweite Wahl innerhalb kürzester Zeit, noch dazu im Winter. Sie sei eine „Frostbeule“. Ihr roter Wintermantel, ihr „Markenzeichen“ im Wahlkampf, liegt neben ihr. Çağlar wusste, „dass es nicht so wird wie 2021“. An den Wahlkampfständen habe sie das gespürt.

Für sie hat es knapp gereicht, sie holte das Direktmandat im Wahlkreis. Mit 2,5 Prozent Vorsprung auf ihren Konkurrenten von der CDU. Viele SPD-Kandidat:innen schafften es nicht bei dieser Wahl. „Eine Zitterpartie“, sagt Çağlar.

Frühling vor Beton: In Buch leben die meisten Be­woh­ne­r*in­nen in Mehrfamilienhäusern Foto: Tina Eichner

Warum wählen Menschen die CDU? „Das weiß ich doch auch nicht“, sagt Çağlar lachend. Sie verweist auf die Erfolge der Regierung, auf die Krisen, unter denen sie arbeiten musste, aber auch auf die Probleme, die sie nicht lösen konnten. Vor allem die Themen Wohnen und Verwaltung hätten die Menschen beschäftigt. „Wir haben es in diesem einen Jahr – und auch in den Jahren zuvor – scheinbar nicht geschafft, den Ansprüchen der Menschen gerecht zu werden“, sagt sie. Sie glaubt aber auch: „Dem aktuellen Senat hat die Zeit gefehlt.“

Geschlossen in der Unzufriedenheit

Julia Reuschenbach ist Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin. Auch sie bescheinigt dem Senat in einigen Punkten gute Arbeit: die Unterbringung der ukrainischen Geflüchteten, das Wärmenetzwerk, also Anlaufstellen für einsame und frierende Ber­li­ne­r*in­nen, und Hilfspakte, wie Zuschüsse zu Heizungskosten. „Da ist vieles gut und zügig auf den Weg gebracht worden“, sagt sie.

Aber in Krisenzeiten gehen andere Themen unter. Die Wäh­le­r*in­nen seien sich relativ einig, sagt Reuschenbach, und zwar darin, dass es eine große Unzufriedenheit mit dem Senat gebe. „In diesem Punkt ist Berlin recht geschlossen.“

Das haben auch Çağlars Ge­nos­s*in­nen in Neukölln zu spüren bekommen. Bis auf Çağlar hat die SPD hier all ihre Direktmandate verloren, auch im Wahlkreis Neukölln 6. Hier trat Franziska Giffey selbst an, letztes Jahr holte sie noch über 40 Prozent, diesmal reichte es nicht einmal für 30. Und auch bei den Zweitstimmen liegt die SPD in allen Neuköllner Wahlkreisen entweder hinter den Grünen oder der CDU. Vergangenes Jahr holte man in den drei äußeren Wahlkreisen noch die meisten Zweitstimmen.

In ganz Berlin verlor die SPD rund 60.000 Wäh­le­r*in­nen an die CDU, 78.000 gingen gar nicht wieder zur Wahl. Çağlar glaubt, dass nicht nur der Frust über und der Protest gegen den aktuellen Senat eine Rolle gespielt hat, sondern auch, dass viele Wäh­le­r*in­nen das letzte Mal auf eine Koalition von SPD und CDU gehofft hatten. „Die waren dann enttäuscht.“

Regieren – notfalls mit der CDU

Vielleicht gibt es so eine Koalition ja im zweiten Anlauf. Die SPD sondiert zwar mit den Grünen und der Linken – denn Rot-Grün-Rot hat noch immer eine Mehrheit –, aber auch mit der CDU. Wer gestalten will, muss auch regieren, sagt Çağlar – aber „nicht um jeden Preis“. Auch mit der CDU.

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Und das, obwohl sie die Vornamenabfrage, mit der die Partei nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht herausfinden wollte, ob die Tatverdächtigen eine Migrationsgeschichte haben, „rassistisch“ und den Wahlkampf der CDU „populistisch“ nennt. „Egal was passiert, es wird vielen nicht gefallen. Ob Rot-Grün-Rot, Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün, es wird nicht jeden Wählerwillen widerspiegeln.“

„Wenn das jetzige Bündnis weitermacht, dann muss es liefern“, sagt Reuschenbach. Corona, Krieg, Energie – auch im Dauerkrisenmodus müssten Themen wie Wohnen und Verkehr nachhaltig bearbeitet werden, sonst werde der Unmut bei der nächsten Wahl noch mal größer und „vielleicht nicht mehr 'nur’ bei der CDU landen“, sagt sie in Anspielung auf die AfD, die ihr Wahlergebnis gegenüber 2021 nur leicht von 8 auf 9,1 Prozent steigern konnte. Diesmal.

Am Wahlstand beschimpft: Dara Kossok-Spieß (Grüne) im Berliner Außenbezirk Spandau Foto: privat

Laut Umfragen von Infratest dimap waren für die Wäh­le­r*in­nen Sicherheit und Ordnung die wichtigsten Themen bei der Entscheidung. 23 Prozent gaben das an. Gleichzeitig glauben 87 Prozent der CDU-Wähler*innen, dass ihre Partei für Recht und Ordnung sorgen kann. Das glaubt auch die CDU selbst und will Taser, Videoüberwachung, mehr Polizist*innen, eine Sondereinheit für „Clankriminalität“ und eine Gefährderdatei für linke Gewalttäter.

In Pankow sogar hinter der AfD

„Silvester hat eine große Rolle gespielt“, sagt Çağlar. Aber der Diskurs danach sei entgleist. „Das sind unsere Jungs.“ Natürlich brauche es Strafen, sagt sie, aber auch Perspektiven. Und es gebe viele Jugendliche in Neukölln, die vernünftig seien. Sie erzählt von einem 14-jährigen Neu-Genossen aus der High-Deck-Siedlung, der sie im Wahlkampf unterstützt hat. Und auch der Gipfel gegen Jugendgewalt sei ein Erfolg gewesen. „Wir sind das Thema angegangen. Wichtig ist, dass daraus konkrete Taten folgen.“

Für Elke Breitenbach von der Linken war die Wahl keine Zitterpartie. Zumindest nicht in ihrem Wahlkreis Pankow 1 – sie hat hier, ganz im Norden von Berlin, noch nie das Direktmandat gewonnen. Dieses Mal holte es die CDU mit 41,6 Prozent. Auch bei den Zweitstimmen liegt die Union vorne, letztes Jahr gewann noch knapp die SPD. Die landet jetzt sogar noch hinter der AfD, die 17 Prozent der Zweitstimmen holt.

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Insgesamt haben die Grünen die meisten Zweitstimmen in Pankow geholt, mit einem Prozentpünktchen vor der CDU, dahinter liegen SPD und Linke. Pankow ist groß, es reicht vom hippen Prenzlauer Berg bis hoch an die Grenze von Brandenburg. Dort liegt auch der Wahlkreis Pankow 1, der die Gebiete Buch, Karow und einen Teil von Französisch Buchholz umfasst. Rund 34.000 Wahlberechtigte leben in diesem Wahlkreis – in Einfamilienhäusern und Plattenbauten, zwischen Wald, Einkaufspassagen und einem großen biomedizinischem Forschungskomplex.

Hier in Buch sei in den letzten Jahren viel gebaut worden, sagt Breitenbach. Auch viel „soziale Infrastruktur“. Ein Jugendzentrum, eine Bibliothek und das Bucher Bürgerhaus. Und die Schulen seien renoviert worden. Trotzdem hätten die Menschen am Stadtrand das Gefühl, man würde sich nicht um sie kümmern.

Erst die Nazis, dann Sahra Wagenknecht

Vom Bucher Bürgerhaus, einem dreistöckigen gelben Flachbau, führt eine Straße zu einer Unterkunft für Geflüchtete. Weiß, blau, gelb und rot stapeln sich Container übereinander, aus einem Tor rennen Kinder mit einem Ball über die Straße, zwei Jungen posieren hinter Breitenbach, als ein Foto geschossen wird.

Als Senatorin hatte Breitenbach versprochen, solche Containerunterkünfte aufzulösen und die Geflüchteten in vernünftigen Wohnungen unterzubringen, erzählt sie. Das tat sie auch, doch dann suchten wieder mehr Menschen Asyl in Deutschland und man erinnerte sich an die Container in Buch. „Ich bin wortbrüchig geworden“, sagt Breitenbach. Aber sie habe keine andere Möglichkeit gehabt. Es ist nicht die einzige Unterkunft für Geflüchtete in ihrem Wahlkreis und immer wieder gibt es darüber Streit.

Wir sind nicht die kleine Schwester der SPD und ewige Opposition können wir uns nicht leisten

Dara Kossok-Spieß (Grüne) Spandau

So ist es nicht immer leicht für die Linke im Norden Pankows – früher, erzählt Breitenbach, hätten Linke und SPD sogar Wahlstände in nächster Nähe zueinander aufgebaut, nachdem Nazis angegriffen hätten. Das sei aber besser geworden. Dieses Jahr hatte die Linke ganz andere Probleme: Sahra Wagenknecht und die unterschiedlichen Positionen der Partei zu Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine.

„Ich habe deshalb befürchtet, dass uns die Bundespartei und vor allem die Bundestagsfraktion in den Abgrund reißt“, sagt Breitenbach, die das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung und Selbstverteidigung betont. Vor diesem Hintergrund sei sie ganz zufrieden mit dem Wahlergebnis der Berliner Linken.

Teure Mieten trotz Bauboom im Norden

In der Nähe der Flüchtlingsunterkunft stehen auch ein paar Einfamilienhäuser. Wand an Wand in Gelb und Weiß bilden sie eine kleine Allee. Eine Bewohnerin habe Breitenbach erzählt, dass hier in der DDR viele Ärz­t*in­nen aus dem nahen Klinikum gewohnt hätten. Und die hätten damals über den Plattenbau geklagt. „Weil sie weiter ins Grüne gucken wollten.“

Das Problem gibt es bis heute.

Bei Buch liegt die Moorlinse. Ein Feuchtgebiet mit viel Schilf außenrum und einem Aussichtsplattförmchen, von dem aus man über das Wasser blicken kann. Ganz in der Nähe soll ein Quartier mit 2.700 Wohnungen gebaut werden – Be­woh­ne­r*in­nen und der Naturschutzbund Nabu wollten weniger. Auch Breitenbach sieht das so. „Hier kann gebaut werden. Aber weniger Wohnungen als geplant und mit Rücksicht auf die Natur, vor allem darf die Moorlinse nicht gefährdet werden.“

410.000 Menschen leben hier im Bezirk, seit den 1990ern sind rund 90.000 weitere hierher gezogen – das ist in etwa so viel, wie die Stadt Flensburg Ein­woh­ne­r*in­nen hat. Bis 2030 rechnet man mit weiteren 30.000.

Unterschiede sind noch keine Spaltung

Die Linke fordert einen bundesweiten Mietendeckel oder zumindest die Möglichkeiten, einen Mietendeckel in Berlin einzuführen. Die CDU will weiter bauen, 300.000 neue Wohnungen bis 2035 und ein Mie­te­r*in­nen­geld für mittlere Einkommen einführen. Doch das ganze Bauen hat bisher auch keine günstigen Wohnungen geschaffen, sagt Breitenbach.

An einer Baustelle liegt noch ein letztes CDU-Wahlplakat im Matsch. „Beste Bildung, in modernen Schulen“ steht darauf. „Klingt erst mal gut“, sagt Breitenbach. Den Erfolg der CDU kann sie aber auch nicht ganz erklären. „Mir ist das ein Rätsel“, sagt sie. Sie findet nicht, dass die CDU die richtigen Antworten auf die Probleme der Stadt hat.

Zitterpartie in Neukölln: Derya Caglar (SPD) holte ein Direktmandar Foto: Sabrina Wagner

Die Politikwissenschaftlerin Reuschenbach glaubt, dass Berlin ein Brennglas für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ist und hier Antworten auf große soziale Fragen gefunden werden müssen: Sicherheit, Wohnen, Mobilität. Das habe die Berlinwahl gezeigt. Und die Begegnung mit dem Problem sei, je nachdem ob man in der Innenstadt oder am Stadtrand wohnt, eine andere.

Für beides brauche es politische Antworten. Wohnen zum Beispiel: In der erweiterten Innenstadt würden die Menschen steigende Mieten und Gentrifizierung erleben, am Stadtrand sei noch Platz zum Bauen und die Menschen drängen raus, dort brauche es mehr Infrastruktur und bessere Anbindung. Was wiederum Druck ausübe. Ein Problem werde so unterschiedlich erlebt. „Das ist aber noch keine Spaltung“, sagt Reuschenbach.

Vergleiche lieber mit 2016

Auch Breitenbach glaubt nicht an eine Spaltung. „Wir haben unterschiedliche Menschen in der Stadt: jung, alt, reich, arm, Menschen aus unterschiedlichen Ländern. Die haben unterschiedliche Probleme und Bedürfnisse.“ Es sei Aufgabe einer Regierung, die unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen.

Das versucht auch die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Spandau im Westen Berlins. Dara Kossok-Spieß ist hier Fraktionsvorsitzende der Grünen und Landesvorständin der Partei. Unterschiedliche Interessen, sagt sie, brauchen eine „kunterbunte BVV“.

Die BVV ist das Parlament in einem Bezirk, es kontrolliert die Bezirksämter und wählt die Bezirksbürgermeister*innen. Auch die BVV war von der Wahlwiederholung betroffen. In Spandau erhielt die CDU diesmal fast 40 Prozent, über 12 Prozent mehr als bei der letzten Wahl 2021. Die SPD kam auf 23,3 Prozent und verlor damit mehr als 4,4 Prozent, die Grünen kamen nur noch auf 9,9 Prozent, minus 2 Prozent.

Das ist ein Sitz in der BVV weniger als 2021. Kossok-Spieß aber sagt: „Das war eine Wiederholungswahl, deshalb vergleiche ich es mit 2016. Dann haben wir zwei Sitze mehr.“ In Spandau leben rund 250.000 Menschen – die Grünen hätten hier rund 230 Mitglieder, sagt Kossok-Spieß. Dafür ist sie zufrieden mit dem Ergebnis.

„Grüne Hure“, „Volksverräterin“ – Willkommen in Spandau

Im Staakener Einkaufscenter am Rand von Spandau gibt es einen Woolworth, einen Edeka, ein paar Imbisse und Leerstand. Der Boden ist gefliest, an der Decke hängen ein paar Pflänzchen und aus Boxen dudelt Popmusik. „Oase in Spandau“ steht an einer Wand. Kossok-Spieß kennt diese Oase seit ihrer Jugend, inzwischen macht sie hier Wahlkampf.

„Es war nicht schön, hier zu stehen“, sagt Kossok-Spieß. Sie sei beschimpft worden, als „grüne Hure“, als „Volksverräterin“. Aber sie sagt: „Wir müssen raus aus unserer Wohlfühlzone, nur dann kommen wir raus aus 19,4 Prozent in Berlin und 9,9 Prozent in Spandau.“ Und beschimpft werden die Grünen auch in Mitte, sagt sie. Hinter dem Staaken-Center ragen bunte Hochhäuser in den grauen Himmel über Spandau. Hier in der Obstalleesiedlung ist Kossok-Spieß groß geworden – ihre Mutter lebt bis heute in einem der Hochhäuser.

Viele Leute würden hierher ziehen, sagt sie – auch weil sie sich die Mieten in der Innenstadt nicht mehr leisten könnten. In Spandau leben daher ganz unterschiedliche Menschen. 17 Prozent der Menschen in Spandau haben einen Migrationshintergrund, 21 Prozent haben keinen deutschen Pass.

Rund ein Fünftel der Span­dau­er*in­nen ist älter als 65. 23,6 Prozent der Menschen haben ein Armutsrisiko. Warum erreichen die Grünen hier weniger Menschen als in den inneren Bezirken? „Das kennen wir auch aus anderen Großstädten, dass die Grünen in der Innenstadt sehr stark sind“, sagt Reuschenbach.

Grünenfeindliche Klischees

Kossok-Spieß fragt sich, wie die Grünen ihre Politik kommunizieren können. Denn bisher würden sie vor allem für Themen wahrgenommen, die in der Innenstadt gut ankommen. „Die Friedrichstraße interessiert viele Spandauer nicht.“ Dafür hätte man hier eine eigene „Friedrichstraße“, die Neuendorfer Straße soll in einem Abschnitt gesperrt werden – in Absprache mit der BVG, weil die vollen Busse nicht mehr durchkommen.

„Berlin ist für alle da. Auch für Autofahrer“ – damit hatte die CDU geworben. Und so schwappt die Debatte aus der Innenstadt dann doch an den Rand. „Das hat uns geframet: Die Grünen haben da gesperrt, die haben hier gesperrt, die sperren überall“, sagt Kossok-Spieß. „Aber wir sind mehr als das Klischee vom im Café am Laptop sitzenden Fahrradfahrer.“

Egal was passiert – ob Rot-Grün-Rot, Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün – es wird nicht jeden Wählerwillen widerspiegeln

Derya Çağlar (SPD) Neukölln

Das Industriepapier der Grünen etwa sei kaum wahrgenommen worden, auch ist sie überzeugt von grüner Sozialpolitik. „Unser Service muss es sein, Politik so runterzubrechen, dass die Wäh­le­r*in­nen verstehen, wozu das im Alltag gut ist.“ Die 320 Seiten Wahlprogramm hätte sie gelesen, weil sie es als Landesvorständin tun musste.

Und die CDU? „Ich glaube, dass die CDU es geschafft hat, die Ängste der Menschen zu spüren und zu benennen“, sagt sie. Sie verstehe die Angst, sie verstehe den Wunsch nach Stabilität, aber dass die CDU Lösungen hat, bezweifelt sie. „Der Wahlkampf war populistisch“, sagt sie. Die CDU hätte auf die Grünen eingedroschen.

Am rechten Rand zu fischen zahlt sich nicht aus

Auch Reuschenbach sagt: „Der Wahlkampf ist eine Zeit, in der zugespitzt werden muss.“ Eine Polarisierung mache Unterschiede zwischen Parteien deutlich und das sei „wünschenswert“ für den „parteipolitischen Wettbewerb“. Auch um Wäh­le­r*in­nen zu mobilisieren und dazu zu bringen, sich mit Parteiprogrammen auseinanderzusetzen. „Schwierig wird es, wenn populistische, stigmatisierende und rassistische Ressentiments geschürt werden“, sagt Reuschenbach. So wie bei der Vornamenabfrage.

„Aus politikwissenschaftlicher Perspektive kann man auch nur davor warnen“, sagt sie. Denn das Andienen an rechtspopulistische Sprache würde begünstigen, dass Wäh­le­r*in­nen am Ende eher das Original wählen, also die AfD. Der Wahlsieg der CDU in Berlin würde das auch nicht widerlegen, denn viele Menschen hätten die CDU vor allem aus Protest und weniger aus Überzeugung gewählt.

Trotz allem kann sich Kossok-Spieß eine Koalition mit der CDU vorstellen – etwas auszuschließen würde den Grünen nichts bringen. „Wir sind nicht die kleine Schwester der SPD und ewige Opposition können wir uns nicht leisten.“ Das klingt nicht nach Spaltung. Erst recht nicht in Spandau – wo auch der „Kai“ (Wegner) wohnt. In Spandau ist man per du – außer mit der AfD.

Gute Voraussetzungen also für eine Zusammenarbeit über Lagergrenzen hinweg? „Das ist die Kunst der Politik“, sagt Kossok-Spieß. „Die verschiedenen Interessen übereinanderlegen und einen Kompromiss finden.

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14 Kommentare

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  • "das Andienen an rechtspopulistische Sprache würde begünstigen, dass Wäh­le­r*in­nen am Ende eher das Original wählen, also die AfD. Der Wahlsieg der CDU in Berlin würde das auch nicht widerlegen, denn viele Menschen hätten die CDU vor allem aus Protest und weniger aus Überzeugung gewählt."

    Ich kann nicht ganz folgen. Kann mir das mal jemand erklären?

    • @Kommen Tier:

      Ich glaube, das bedeutet, dass man in Teilen mit Problembenennungen der AfD übereinstimmt. Es wird aber zu zielgruppensensibler Sprache geraten.

  • @SURYO

    Ist da ein grosser Unterschied?

    • @tomás zerolo:

      Klar. Die CDU vertritt viele Anliegen der Grünenwähler, auch, wenn die das nicht gerne zugeben.

  • Ich finde es eher erstaunlich und in gewisser Weise auch ermutigend, dass die Berliner bei einer Protestwahl die CDU wählen und nicht die AfD.

  • Grüne und CDU sind beides musterhafte konservative Parteien, wobei die Grünen sich, hoffentlich, noch immer oft genug erinnern, dass Umweltschutz bzw. Naturbewahrung zu ihren Konservativseinskernkompetenzen gehört.

    Zitat: Innerhalb des S-Bahn-Rings sind die Grünen stärkste Kraft, außerhalb des S-Bahn-Rings die CDU.

    Sprich: Ein enges Nahverkehrsnetz wie innerhalb des S-Bahn-Ringes wird trotz mancher Ausfälle von S- und U-Bahn als Plus für die Umwelt empfunden. Der S-Bahn-Ring wirkt da vielleicht wie ein "Antiautofahrerischer Schutzwall" gegen die CDU-Autolobby ;-)

    Die CDU ist nicht mehr so verstockt konservativ, wie es die CSU vielleicht noch ist. "Wir schaffen das" war eine CDU-Losung, die genauso gut von den Grünen stammen könnte. Auch in diesem Punkt sind die Grünen und CDU sich nahe: Nächstenliebe für die Verfolgten und Notentronnenen, wenn auch v.a. bei der Union mit dem Touch von Integrationspolitik als innerdeutsche Arbeitskräftegenerierungsmaschine. Bei manchen Fluchtgrundländern wie der Ukraine sollte aber berücksichtigt werden, dass Arbeitskräfte von da dieser Maschine nun überwiegend nur auf Zeit zur Verfügung stehen. Die Legislaturperiode wäre also auch für eine grünschwarze Koalition spannend, weil sie eh in mancher Beziehung keine dauerhaften Verhältnisse schaffen, aber die vorrübergehenden optimal managen müsste.

  • Ich glaube die Grenzen liegen in Wirklichkeit woanders. Zum Beispiel innerhalb der CDU. Da haben diesmal offensichtlich viele nicht die AFD gewählt, warum auch immer. Die Grenze von CDU und SPD hat sich hingegen als sehr schwach erwiesen. Das liegt daran, dass die SPD versucht hat, sich als eine etwas sanftere CDU zu verkaufen, mit viel Betonung auf Sicherheit, viel Ausbremsen der Koalitionspartner und ganz wenig eigenen Ideen. Die Grenzen innerhalb des sogenannten linken Spektrums sind relativ fest, die Linken sind nicht grün und bei vielen Wohlsituierten schwankt man vielleicht zwischen CDU und Grünen, denkt aber keine Sekunde über die SPD nach. Dass jetzt sowohl Zehlendorf als auch Teile Neuköllns schwarz aussehen, zeigt doch wohl deutlich, dass sie eben nicht vergleichbar sind. Generell ist bei der Wahl nicht mehr passiert, als dass die SPD massiv an die CDU verloren hat, weil sie zu ähnlich aber schlechter war und weil Giffey eine extreme Enttäuschung war.

  • Überraschung! Berlin besteht gar nicht nur aus einer Bubble von altbaubewohnenden urbanen Hipstern!

  • Ohne der Autorin nahe zu treten, die Wahrnehmung ist doch sichtbar gestört. Von außen betrachtet befinden sich im Staaken-Center: 2 Arztpraxen, eine Pizzeria, Apotheke, Sparkasse, Späti, Obst und Gemüseladen, Bäckerei mit Café, Radio und Elektrogeschäft mit Weißware ( Kühlschrank, Waschmaschinen), Reinigung. Im Hinterhof befindet sich ein kleines Sozialzentrum mit Arzt- Praxen. Wer Elend sehen will findet es an jeder Ecke in Berlin, aber für Heerstraße Nord ist dieses Zentrum ein kleiner Lichtblick eben wegen Maulbeer- Allee und Blasewitzer Ring, einen Minigolfplatz gibt es auch noch und das Schreibwarengeschäft und den Friseur dazu.

  • Tja, so ist das halt, wenn man wichtige Themen nicht angeht oder unrealistische Lösungsvorschläge präsentiert (die Umsetzung ist zudem...):



    - Wohnen --> Enteignen, Mietendeckel und dann? Bereits jetzt werden Wohnungen fast nur noch als Tauschwohnungen oder zur Untermiete angeboten



    - Sicherheit --> sollte eigentlich jeden interessieren



    - Verwaltung --> X Jahre und kein Deut besser mit SPD und Linken

  • Ich akzeptiere Mehrheiten

    Ich glaube selbst wenn Berlin durch Korruption und Unfähigkeit der RRG-Regierung untergehen würde, die Berliner wollen trotzdem RRG. Verstehen kann ich das nicht, aber ich akzeptiere Mehrheiten.

  • Ein spannendes Framing liefert die Taz-Onlineredaktion mit der Überschrift "Schwarzer Rand um die Stadt".

    Als würden die äußeren Bezirke eigentlich gar nicht zur Stadt gehören.

    Als würden damit auch die CDU-Wähler gar nicht so richtig dazu gehören.

    Fast als wären sie vielmehr eine Bedrohung für die Stadt.

    Dieser angenehm sachliche und informative Artikel hat so eine Überschrift nach meiner Meinung nicht verdient.

    • @rero:

      Genau das hab ich auch gedacht. Das sagt sehr viel über die Selbstwahrnehmung und damit im übrigen auch über die (nicht nur in Berlin zu beobachtende) Stadt/Land Spaltung aus.

  • "Sie glaubt aber auch: „Dem aktuellen Senat hat die Zeit gefehlt.“" --> Mit Verlaub aber die Berliner SPD regiert seit 20 Jahren. Wie viel Zeit brauchen die Berliner Genossen denn?

    Und ja, mir ist bewusst, dass Frau Çağlar darauf anspielt, dess der *aktuelle* Senat zu wenig Zeit hatte. Die Frage ist nur, was den *aktuellen* Senat von denen der letzten 20 Jahre so großartig unterscheidet. Polemisch gesagt, hatte der aktuelle Senat eine der größten sicherheitspolitischen Krisen seit dem Anis Amri Anschlag und es ist dem Senat außer dem Rassismus-Ruf gegen alle Kritiker wenig bis gar nichts zur Lösung der vielfachen strukturellen Probleme eingefallen.

    Der Artikel zeigt den Katzenjammer der Wahlverlierer ziemlich genau, der sich in verschiedenen Geschmacksrichtungen und Varianten des Satzes "Sie findet nicht, dass die CDU die richtigen Antworten auf die Probleme der Stadt hat." zeigt. Das sehen die Wähler der CDU offenbar anders. Vielleicht sollten die Verantwortlichen von RGR daher von ihrem hohen Ross des "wir wissen, was das Beste für euch ist" heruntersteigen und den Wählern zuhören, was die sich eigentlich wünschen.

    Meine Vermutung wäre: Sicherheit, günstiger Wohnraum, funktionierende Verwaltung als Top-3 in der Reihenfolge. Aber das ist bloß geraten.