Nach den Wahlen in Berlin: Schwarzer Rand um die Stadt
Innen Grün, außen Schwarz und Rot verschwindet fast ganz – so sieht Berlins politische Landkarte nach der Wahl aus. Ist die Stadt wirklich gespalten?
I m Wahlkreis Neukölln 3 zeigt sich viel von dem, was die Berlinwahl geprägt hat. Auf der Sonnenallee, jenseits des S-Bahn-Rings, wo die Außenbezirke beginnen, gräbt sich die Baustelle der asphaltschwarzen A100 durch Neukölln. Weiter, Richtung stadtauswärts, tauchen graue Häuser auf, bunt mit Grafftit besprüht – „unser Zuhause“ steht da in grellem Pink.
Und fast am Ende der Straße liegt die High-Deck-Siedlung. Ein Komplex aus Wohnhäusern, Rampen und hochgelagerten Pflasterwegen. Hier hat an Silvester ein Reisebus in einer Unterführung gebrannt, die Fassade der Häuser darüber ist noch immer geschwärzt vom Rauch. Verkehr, Wohnen, Sicherheit – Themen, die die Berliner*innen im Wahlkampf bewegt haben.
Die Wahl selbst fiel dann recht deutlich aus. Die Oppositionspartei CDU erreichte mit 28,2 Prozent gut 10 mehr als bei der Wahl 2021. Die regierende SPD wiederum gab mit 18,4 Prozent ganze 3 Prozent ab. Die Grünen verloren hingegen nur ein halbes Prozent und kamen gleichauf mit der Koalitionspartnerin SPD. Und die Dritte im Bündnis, die Linke, verlor knapp 2 Prozent und kam auf 12,2 Prozent.
Noch deutlicher wird das Ergebnis, wenn man die geografische Verteilung der Zweitstimmen auf einer Karte von Berlin betrachtet: Innerhalb des S-Bahn-Rings sind die Grünen stärkste Kraft, außerhalb des S-Bahn-Rings die CDU. Bei der vergangenen Wahl sah man dort noch einen schwarz-roten Flickenteppich, besonders verloren hat hier also die SPD. Der Spitzenkandidat der CDU, Kai Wegner, sagte dem Tagesspiegel, Berlin sei gespalten.
Schwarz Die CDU hat die Wahl mit 28,2 Prozent klar gewonnen, es ist das beste Ergebnis für die Christdemokraten seit 20 Jahren in der Hauptstadt. Insbesondere in den Außenbezirken ging fast jedes Direktmandat an die CDU. SPD und Grüne kommen hinter der CDU auf jeweils 18,4 Prozent – mit nur 53 Stimmen liegt die SPD derzeit vorne. Am Montag soll das amtliche Endergebnis der Berlinwahl offiziell feststehen.
Grün Die Regierungsbildung macht das knappe Rennen um Platz zwei nicht einfach. Die Grünen werden sowohl von der CDU umworben als auch von der SPD. Auch eine Groko wird derzeit sondiert. Aber dann müsste die Noch-Regierende Franziska Giffey (SPD) ihren Führungsanspruch aufs Rote Rathaus aufgeben. Die Spitzen im SPD-Landesverband gaben ihr – trotz des schlechtesten Ergebnisses seit 1950 für die Berliner SPD – Rückenwind für Rot-Grün-Rot.
Verwählt Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 2021 verlief chaotisch: lange Schlangen vor den Wahllokalen, falsche Stimmzettel, Abstimmungen nach 18 Uhr. Das Landesverfassungsgericht ordnete daraufhin eine komplette Wiederholung der Wahl am 12. Februar an. Ob auch die Bundestagswahl in 431 Berliner Wahlbezirken wiederholt wird, muss das Bundesverfassungsgericht noch entscheiden. (akl)
Wahlkampf kommt von Kampf
Der Wahlkreis Neukölln 3 liegt am S-Bahn-Ring – ein Zipfel des Wahlkreises liegt innen, ein Großteil außen. Zwischen der A100 und der High-Deck-Siedlung befindet sich ein Café. Dort gibt es Börek und belegte Brötchen, türkischen Tee und Kaffee. In der Ecke steht ein Tischchen auf einem roten gemusterten Teppich.
Für Derya Çağlar von der SPD war das Café ein Rückzugsort im Wahlkampf. „Wahlkampf heißt ja nicht umsonst Kampf“, sagt sie heute, knapp eineinhalb Wochen nach der Wahl. Und dieses Mal sei der besonders anstrengend gewesen. Die zweite Wahl innerhalb kürzester Zeit, noch dazu im Winter. Sie sei eine „Frostbeule“. Ihr roter Wintermantel, ihr „Markenzeichen“ im Wahlkampf, liegt neben ihr. Çağlar wusste, „dass es nicht so wird wie 2021“. An den Wahlkampfständen habe sie das gespürt.
Für sie hat es knapp gereicht, sie holte das Direktmandat im Wahlkreis. Mit 2,5 Prozent Vorsprung auf ihren Konkurrenten von der CDU. Viele SPD-Kandidat:innen schafften es nicht bei dieser Wahl. „Eine Zitterpartie“, sagt Çağlar.
Warum wählen Menschen die CDU? „Das weiß ich doch auch nicht“, sagt Çağlar lachend. Sie verweist auf die Erfolge der Regierung, auf die Krisen, unter denen sie arbeiten musste, aber auch auf die Probleme, die sie nicht lösen konnten. Vor allem die Themen Wohnen und Verwaltung hätten die Menschen beschäftigt. „Wir haben es in diesem einen Jahr – und auch in den Jahren zuvor – scheinbar nicht geschafft, den Ansprüchen der Menschen gerecht zu werden“, sagt sie. Sie glaubt aber auch: „Dem aktuellen Senat hat die Zeit gefehlt.“
Geschlossen in der Unzufriedenheit
Julia Reuschenbach ist Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin. Auch sie bescheinigt dem Senat in einigen Punkten gute Arbeit: die Unterbringung der ukrainischen Geflüchteten, das Wärmenetzwerk, also Anlaufstellen für einsame und frierende Berliner*innen, und Hilfspakte, wie Zuschüsse zu Heizungskosten. „Da ist vieles gut und zügig auf den Weg gebracht worden“, sagt sie.
Aber in Krisenzeiten gehen andere Themen unter. Die Wähler*innen seien sich relativ einig, sagt Reuschenbach, und zwar darin, dass es eine große Unzufriedenheit mit dem Senat gebe. „In diesem Punkt ist Berlin recht geschlossen.“
Das haben auch Çağlars Genoss*innen in Neukölln zu spüren bekommen. Bis auf Çağlar hat die SPD hier all ihre Direktmandate verloren, auch im Wahlkreis Neukölln 6. Hier trat Franziska Giffey selbst an, letztes Jahr holte sie noch über 40 Prozent, diesmal reichte es nicht einmal für 30. Und auch bei den Zweitstimmen liegt die SPD in allen Neuköllner Wahlkreisen entweder hinter den Grünen oder der CDU. Vergangenes Jahr holte man in den drei äußeren Wahlkreisen noch die meisten Zweitstimmen.
In ganz Berlin verlor die SPD rund 60.000 Wähler*innen an die CDU, 78.000 gingen gar nicht wieder zur Wahl. Çağlar glaubt, dass nicht nur der Frust über und der Protest gegen den aktuellen Senat eine Rolle gespielt hat, sondern auch, dass viele Wähler*innen das letzte Mal auf eine Koalition von SPD und CDU gehofft hatten. „Die waren dann enttäuscht.“
Regieren – notfalls mit der CDU
Vielleicht gibt es so eine Koalition ja im zweiten Anlauf. Die SPD sondiert zwar mit den Grünen und der Linken – denn Rot-Grün-Rot hat noch immer eine Mehrheit –, aber auch mit der CDU. Wer gestalten will, muss auch regieren, sagt Çağlar – aber „nicht um jeden Preis“. Auch mit der CDU.
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Und das, obwohl sie die Vornamenabfrage, mit der die Partei nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht herausfinden wollte, ob die Tatverdächtigen eine Migrationsgeschichte haben, „rassistisch“ und den Wahlkampf der CDU „populistisch“ nennt. „Egal was passiert, es wird vielen nicht gefallen. Ob Rot-Grün-Rot, Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün, es wird nicht jeden Wählerwillen widerspiegeln.“
„Wenn das jetzige Bündnis weitermacht, dann muss es liefern“, sagt Reuschenbach. Corona, Krieg, Energie – auch im Dauerkrisenmodus müssten Themen wie Wohnen und Verkehr nachhaltig bearbeitet werden, sonst werde der Unmut bei der nächsten Wahl noch mal größer und „vielleicht nicht mehr 'nur’ bei der CDU landen“, sagt sie in Anspielung auf die AfD, die ihr Wahlergebnis gegenüber 2021 nur leicht von 8 auf 9,1 Prozent steigern konnte. Diesmal.
Laut Umfragen von Infratest dimap waren für die Wähler*innen Sicherheit und Ordnung die wichtigsten Themen bei der Entscheidung. 23 Prozent gaben das an. Gleichzeitig glauben 87 Prozent der CDU-Wähler*innen, dass ihre Partei für Recht und Ordnung sorgen kann. Das glaubt auch die CDU selbst und will Taser, Videoüberwachung, mehr Polizist*innen, eine Sondereinheit für „Clankriminalität“ und eine Gefährderdatei für linke Gewalttäter.
In Pankow sogar hinter der AfD
„Silvester hat eine große Rolle gespielt“, sagt Çağlar. Aber der Diskurs danach sei entgleist. „Das sind unsere Jungs.“ Natürlich brauche es Strafen, sagt sie, aber auch Perspektiven. Und es gebe viele Jugendliche in Neukölln, die vernünftig seien. Sie erzählt von einem 14-jährigen Neu-Genossen aus der High-Deck-Siedlung, der sie im Wahlkampf unterstützt hat. Und auch der Gipfel gegen Jugendgewalt sei ein Erfolg gewesen. „Wir sind das Thema angegangen. Wichtig ist, dass daraus konkrete Taten folgen.“
Für Elke Breitenbach von der Linken war die Wahl keine Zitterpartie. Zumindest nicht in ihrem Wahlkreis Pankow 1 – sie hat hier, ganz im Norden von Berlin, noch nie das Direktmandat gewonnen. Dieses Mal holte es die CDU mit 41,6 Prozent. Auch bei den Zweitstimmen liegt die Union vorne, letztes Jahr gewann noch knapp die SPD. Die landet jetzt sogar noch hinter der AfD, die 17 Prozent der Zweitstimmen holt.
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Insgesamt haben die Grünen die meisten Zweitstimmen in Pankow geholt, mit einem Prozentpünktchen vor der CDU, dahinter liegen SPD und Linke. Pankow ist groß, es reicht vom hippen Prenzlauer Berg bis hoch an die Grenze von Brandenburg. Dort liegt auch der Wahlkreis Pankow 1, der die Gebiete Buch, Karow und einen Teil von Französisch Buchholz umfasst. Rund 34.000 Wahlberechtigte leben in diesem Wahlkreis – in Einfamilienhäusern und Plattenbauten, zwischen Wald, Einkaufspassagen und einem großen biomedizinischem Forschungskomplex.
Hier in Buch sei in den letzten Jahren viel gebaut worden, sagt Breitenbach. Auch viel „soziale Infrastruktur“. Ein Jugendzentrum, eine Bibliothek und das Bucher Bürgerhaus. Und die Schulen seien renoviert worden. Trotzdem hätten die Menschen am Stadtrand das Gefühl, man würde sich nicht um sie kümmern.
Erst die Nazis, dann Sahra Wagenknecht
Vom Bucher Bürgerhaus, einem dreistöckigen gelben Flachbau, führt eine Straße zu einer Unterkunft für Geflüchtete. Weiß, blau, gelb und rot stapeln sich Container übereinander, aus einem Tor rennen Kinder mit einem Ball über die Straße, zwei Jungen posieren hinter Breitenbach, als ein Foto geschossen wird.
Als Senatorin hatte Breitenbach versprochen, solche Containerunterkünfte aufzulösen und die Geflüchteten in vernünftigen Wohnungen unterzubringen, erzählt sie. Das tat sie auch, doch dann suchten wieder mehr Menschen Asyl in Deutschland und man erinnerte sich an die Container in Buch. „Ich bin wortbrüchig geworden“, sagt Breitenbach. Aber sie habe keine andere Möglichkeit gehabt. Es ist nicht die einzige Unterkunft für Geflüchtete in ihrem Wahlkreis und immer wieder gibt es darüber Streit.
Dara Kossok-Spieß (Grüne) Spandau
So ist es nicht immer leicht für die Linke im Norden Pankows – früher, erzählt Breitenbach, hätten Linke und SPD sogar Wahlstände in nächster Nähe zueinander aufgebaut, nachdem Nazis angegriffen hätten. Das sei aber besser geworden. Dieses Jahr hatte die Linke ganz andere Probleme: Sahra Wagenknecht und die unterschiedlichen Positionen der Partei zu Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine.
„Ich habe deshalb befürchtet, dass uns die Bundespartei und vor allem die Bundestagsfraktion in den Abgrund reißt“, sagt Breitenbach, die das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung und Selbstverteidigung betont. Vor diesem Hintergrund sei sie ganz zufrieden mit dem Wahlergebnis der Berliner Linken.
Teure Mieten trotz Bauboom im Norden
In der Nähe der Flüchtlingsunterkunft stehen auch ein paar Einfamilienhäuser. Wand an Wand in Gelb und Weiß bilden sie eine kleine Allee. Eine Bewohnerin habe Breitenbach erzählt, dass hier in der DDR viele Ärzt*innen aus dem nahen Klinikum gewohnt hätten. Und die hätten damals über den Plattenbau geklagt. „Weil sie weiter ins Grüne gucken wollten.“
Das Problem gibt es bis heute.
Bei Buch liegt die Moorlinse. Ein Feuchtgebiet mit viel Schilf außenrum und einem Aussichtsplattförmchen, von dem aus man über das Wasser blicken kann. Ganz in der Nähe soll ein Quartier mit 2.700 Wohnungen gebaut werden – Bewohner*innen und der Naturschutzbund Nabu wollten weniger. Auch Breitenbach sieht das so. „Hier kann gebaut werden. Aber weniger Wohnungen als geplant und mit Rücksicht auf die Natur, vor allem darf die Moorlinse nicht gefährdet werden.“
410.000 Menschen leben hier im Bezirk, seit den 1990ern sind rund 90.000 weitere hierher gezogen – das ist in etwa so viel, wie die Stadt Flensburg Einwohner*innen hat. Bis 2030 rechnet man mit weiteren 30.000.
Unterschiede sind noch keine Spaltung
Die Linke fordert einen bundesweiten Mietendeckel oder zumindest die Möglichkeiten, einen Mietendeckel in Berlin einzuführen. Die CDU will weiter bauen, 300.000 neue Wohnungen bis 2035 und ein Mieter*innengeld für mittlere Einkommen einführen. Doch das ganze Bauen hat bisher auch keine günstigen Wohnungen geschaffen, sagt Breitenbach.
An einer Baustelle liegt noch ein letztes CDU-Wahlplakat im Matsch. „Beste Bildung, in modernen Schulen“ steht darauf. „Klingt erst mal gut“, sagt Breitenbach. Den Erfolg der CDU kann sie aber auch nicht ganz erklären. „Mir ist das ein Rätsel“, sagt sie. Sie findet nicht, dass die CDU die richtigen Antworten auf die Probleme der Stadt hat.
Die Politikwissenschaftlerin Reuschenbach glaubt, dass Berlin ein Brennglas für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ist und hier Antworten auf große soziale Fragen gefunden werden müssen: Sicherheit, Wohnen, Mobilität. Das habe die Berlinwahl gezeigt. Und die Begegnung mit dem Problem sei, je nachdem ob man in der Innenstadt oder am Stadtrand wohnt, eine andere.
Für beides brauche es politische Antworten. Wohnen zum Beispiel: In der erweiterten Innenstadt würden die Menschen steigende Mieten und Gentrifizierung erleben, am Stadtrand sei noch Platz zum Bauen und die Menschen drängen raus, dort brauche es mehr Infrastruktur und bessere Anbindung. Was wiederum Druck ausübe. Ein Problem werde so unterschiedlich erlebt. „Das ist aber noch keine Spaltung“, sagt Reuschenbach.
Vergleiche lieber mit 2016
Auch Breitenbach glaubt nicht an eine Spaltung. „Wir haben unterschiedliche Menschen in der Stadt: jung, alt, reich, arm, Menschen aus unterschiedlichen Ländern. Die haben unterschiedliche Probleme und Bedürfnisse.“ Es sei Aufgabe einer Regierung, die unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen.
Das versucht auch die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Spandau im Westen Berlins. Dara Kossok-Spieß ist hier Fraktionsvorsitzende der Grünen und Landesvorständin der Partei. Unterschiedliche Interessen, sagt sie, brauchen eine „kunterbunte BVV“.
Die BVV ist das Parlament in einem Bezirk, es kontrolliert die Bezirksämter und wählt die Bezirksbürgermeister*innen. Auch die BVV war von der Wahlwiederholung betroffen. In Spandau erhielt die CDU diesmal fast 40 Prozent, über 12 Prozent mehr als bei der letzten Wahl 2021. Die SPD kam auf 23,3 Prozent und verlor damit mehr als 4,4 Prozent, die Grünen kamen nur noch auf 9,9 Prozent, minus 2 Prozent.
Das ist ein Sitz in der BVV weniger als 2021. Kossok-Spieß aber sagt: „Das war eine Wiederholungswahl, deshalb vergleiche ich es mit 2016. Dann haben wir zwei Sitze mehr.“ In Spandau leben rund 250.000 Menschen – die Grünen hätten hier rund 230 Mitglieder, sagt Kossok-Spieß. Dafür ist sie zufrieden mit dem Ergebnis.
„Grüne Hure“, „Volksverräterin“ – Willkommen in Spandau
Im Staakener Einkaufscenter am Rand von Spandau gibt es einen Woolworth, einen Edeka, ein paar Imbisse und Leerstand. Der Boden ist gefliest, an der Decke hängen ein paar Pflänzchen und aus Boxen dudelt Popmusik. „Oase in Spandau“ steht an einer Wand. Kossok-Spieß kennt diese Oase seit ihrer Jugend, inzwischen macht sie hier Wahlkampf.
„Es war nicht schön, hier zu stehen“, sagt Kossok-Spieß. Sie sei beschimpft worden, als „grüne Hure“, als „Volksverräterin“. Aber sie sagt: „Wir müssen raus aus unserer Wohlfühlzone, nur dann kommen wir raus aus 19,4 Prozent in Berlin und 9,9 Prozent in Spandau.“ Und beschimpft werden die Grünen auch in Mitte, sagt sie. Hinter dem Staaken-Center ragen bunte Hochhäuser in den grauen Himmel über Spandau. Hier in der Obstalleesiedlung ist Kossok-Spieß groß geworden – ihre Mutter lebt bis heute in einem der Hochhäuser.
Viele Leute würden hierher ziehen, sagt sie – auch weil sie sich die Mieten in der Innenstadt nicht mehr leisten könnten. In Spandau leben daher ganz unterschiedliche Menschen. 17 Prozent der Menschen in Spandau haben einen Migrationshintergrund, 21 Prozent haben keinen deutschen Pass.
Rund ein Fünftel der Spandauer*innen ist älter als 65. 23,6 Prozent der Menschen haben ein Armutsrisiko. Warum erreichen die Grünen hier weniger Menschen als in den inneren Bezirken? „Das kennen wir auch aus anderen Großstädten, dass die Grünen in der Innenstadt sehr stark sind“, sagt Reuschenbach.
Grünenfeindliche Klischees
Kossok-Spieß fragt sich, wie die Grünen ihre Politik kommunizieren können. Denn bisher würden sie vor allem für Themen wahrgenommen, die in der Innenstadt gut ankommen. „Die Friedrichstraße interessiert viele Spandauer nicht.“ Dafür hätte man hier eine eigene „Friedrichstraße“, die Neuendorfer Straße soll in einem Abschnitt gesperrt werden – in Absprache mit der BVG, weil die vollen Busse nicht mehr durchkommen.
„Berlin ist für alle da. Auch für Autofahrer“ – damit hatte die CDU geworben. Und so schwappt die Debatte aus der Innenstadt dann doch an den Rand. „Das hat uns geframet: Die Grünen haben da gesperrt, die haben hier gesperrt, die sperren überall“, sagt Kossok-Spieß. „Aber wir sind mehr als das Klischee vom im Café am Laptop sitzenden Fahrradfahrer.“
Derya Çağlar (SPD) Neukölln
Das Industriepapier der Grünen etwa sei kaum wahrgenommen worden, auch ist sie überzeugt von grüner Sozialpolitik. „Unser Service muss es sein, Politik so runterzubrechen, dass die Wähler*innen verstehen, wozu das im Alltag gut ist.“ Die 320 Seiten Wahlprogramm hätte sie gelesen, weil sie es als Landesvorständin tun musste.
Und die CDU? „Ich glaube, dass die CDU es geschafft hat, die Ängste der Menschen zu spüren und zu benennen“, sagt sie. Sie verstehe die Angst, sie verstehe den Wunsch nach Stabilität, aber dass die CDU Lösungen hat, bezweifelt sie. „Der Wahlkampf war populistisch“, sagt sie. Die CDU hätte auf die Grünen eingedroschen.
Am rechten Rand zu fischen zahlt sich nicht aus
Auch Reuschenbach sagt: „Der Wahlkampf ist eine Zeit, in der zugespitzt werden muss.“ Eine Polarisierung mache Unterschiede zwischen Parteien deutlich und das sei „wünschenswert“ für den „parteipolitischen Wettbewerb“. Auch um Wähler*innen zu mobilisieren und dazu zu bringen, sich mit Parteiprogrammen auseinanderzusetzen. „Schwierig wird es, wenn populistische, stigmatisierende und rassistische Ressentiments geschürt werden“, sagt Reuschenbach. So wie bei der Vornamenabfrage.
„Aus politikwissenschaftlicher Perspektive kann man auch nur davor warnen“, sagt sie. Denn das Andienen an rechtspopulistische Sprache würde begünstigen, dass Wähler*innen am Ende eher das Original wählen, also die AfD. Der Wahlsieg der CDU in Berlin würde das auch nicht widerlegen, denn viele Menschen hätten die CDU vor allem aus Protest und weniger aus Überzeugung gewählt.
Trotz allem kann sich Kossok-Spieß eine Koalition mit der CDU vorstellen – etwas auszuschließen würde den Grünen nichts bringen. „Wir sind nicht die kleine Schwester der SPD und ewige Opposition können wir uns nicht leisten.“ Das klingt nicht nach Spaltung. Erst recht nicht in Spandau – wo auch der „Kai“ (Wegner) wohnt. In Spandau ist man per du – außer mit der AfD.
Gute Voraussetzungen also für eine Zusammenarbeit über Lagergrenzen hinweg? „Das ist die Kunst der Politik“, sagt Kossok-Spieß. „Die verschiedenen Interessen übereinanderlegen und einen Kompromiss finden.
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