piwik no script img

Abzug russischer TruppenRussland räumt Cherson

Die Stadt wurde erst annektiert – jetzt ziehen die Russen ab. Für die Ukraine ist das ein bedeutender Sieg, Putin hingegen kommt in Schwierigkeiten.

Ausgebranntes russisches Militärfahrzeug in Dnipropetrovsk. Kommt Putin in Bedrängnis? Foto: Celestino Arce Lavin/imago

Kiew taz | Die russischen Truppen verlassen die ostukrainische Stadt Cherson. Erst am 30. September hatte Russland die Stadt annektiert. Über den Rückzug der Truppen berichten ukrainische und russische Medien übereinstimmend.

„Sicherlich keine einfache Entscheidung“, kommentierte der russische Armeegeneral und Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine, Sergei Surowikin, den Rückzugsbefehl von Verteidigungsminister Schoigu. Aber es mache Sinn, das Leben der Soldaten und die Kampfkraft der Truppe zu erhalten. Gleichzeitig sei es sinnlos, ein gewisses Gebiet am rechten Ufer des Dnepr halten zu wollen, zitiert der ukrainische Dienst von BBC den General.

Die russischen Truppen, so die BBC, hinterließen in Cherson Attrappen von Soldaten und Teile der Russen bewegten sich auch aus Mariupol Richtung Russland zurück. Surowikin habe gegenüber seinem Verteidigungsminister Schoigu aber auch berichtet, dass man am rechten Dnepr-Ufer der Region Cherson ukrainische Angriffe zurückschlage und dem Feind dort schwere Verluste zufüge. Die ukrainischen Verluste, so der General, seien siebenmal höher als die russischen.

Gleichzeitig war am Mittwoch Nachmittag auch im bisher besetzten Snihurivka, einer Ortschaft an der administrativen Grenze zur Region Cherson, die ukrainische Flagge gehisst worden. Mit dem Abzug der russischen Truppen aus Cherson werde auch der Beschuss von Mykolayiv weniger werden, hofft Armeesprecherin Natalja Gumenjuk im ukrainischen Fernsehen.

Persönliche Lage für Putin

Doch auch nach dem Abzug der russischen Truppen aus Cherson bleibt abzuwarten, wann die ukrainischen Behörden und Truppen die Stadt wieder betreten können. Vor ihrem Abzug hätten die Russen alles vermint: insbesondere Wohnungen und die Kanalisation, schreibt Michail Podoljak, Berater des Chefs der Präsidialadministration, auf seinem Twitter-Account.

Man kam, raubte, feierte, mordete Zeugen, zerstörte die Häuser und ging wieder

Michail Podoljak, Berater der ukrainischen ­Präsidialadministration

Er fürchtet, dass die russische Artillerie die Stadt nun aus der Entfernung zerstören wolle. So sehe also die „russische Welt“ aus, so Podoljak: „Man kam, raubte, feierte, mordete Zeugen, zerstörte die Häuser und ging wieder.“

Politisch ist das ist ein „grandioser Sieg für die Ukraine“, ordnet das Portal strana.news den Abzug der Russen aus Cherson ein. „Und gleichzeitig eine Niederlage Russlands und Putins persönlich.“ Die ­Kampfmoral der russischen Gesellschaft und der Armee werde durch den Rückzug aus Cherson sicherlich nicht gestärkt. Und sollte es noch weitere Niederlagen und Rückzüge geben, werde auch Putin in Bedrängnis geraten. Dann stelle sich die Frage, ob der russische Präsident die Situation noch unter Kontrolle habe.

Noch ist der Rückzug der russischen Truppen aus Cherson aber nicht abgeschlossen. Dies werde auch einen gewissen Zeitraum in Anspruch nehmen, argumentiert Juri Butusow, Chefredakteur von Censor.net. Schließlich seien einige Brücken nicht mehr befahrbar. Da es nur wenige mögliche Evakuierungswege gebe, so Butusow, seien bei den russischen Truppen Chaos und Panik vorprogrammiert. „Und es liegt in unserem Interesse, dies noch zu verstärken“, zitiert das Portal nv.ua Butusow.

„Katastrophale Lage“ bei Svatove und Kremenna

Unterdessen ist am Mittwoch Kirill Stremousow, der Vizechef der von Moskau eingesetzten Verwaltung von Cherson, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dies bestätigte Wladimir Saldo, Chef der Besatzungsverwaltung von Cherson. Die Videobotschaft über den Tod von Stremousow sei allerdings vor dem Bekanntwerden des Todes von Stremousow aufgenommen worden, berichtet strana.news

Während man die Rückzug der Russen aus Cherson als Erfolg für die Ukraine verbuchen kann, sieht es an anderen Orten weniger gut aus für das Land. So wurde am Donnerstagmorgen in der Nähe von Saporischschja ein landwirtschaftlicher Betrieb mit zwei S-300-Raketen beschossen. Gleichzeitig spricht der Chef der Bezirksverwaltung von Luhansk, Sergej Gaidai, von einer „katastrophalen Lage“ in der Nähe von Svatove und Kremenna, wo russische Truppen konzentriert seien.

Indessen ist Russland auch von innen zunehmend geschwächt. Dutzende von Ehefrauen und Müttern aus der Region Kursk, deren Männer für den Krieg eingezogen wurden, sind in dem russischen Grenz­ort Ort Valuyki, 125 Kilometer nördlich von Svatove, in der Region Belgorod eingetroffen. Sie fordern, so berichtet der ukrainische Dienst von BBC, den Abzug ihrer Angehörigen aus der Kampfzone um Svatove in der Region Luhansk.

Ihre kurzen Gespräche mit ihren Söhnen und Ehemännern bestätigten die Berichte über schwere Verluste in den Einheiten, die unmittelbar nach ihrer Entsendung in die Ukraine an die Front geschickt worden waren. Soldaten, so berichten die Frauen, die versucht hätten, sich von der Front zurückzuziehen, habe man mit Erschießung gedroht.

Russische Soldaten verlassen die Front

Nach Angaben der Angehörigen waren mindestens Tausend Männer aus dieser Region, die im Oktober mobilisiert worden waren, nach einer zweiwöchigen Schulung in Woronesch am 1. und 2. November an die Front geschickt worden.

Ihr Mann habe sie vor zwei Tagen angerufen, berichtet eine Frau namens Kateryna der BBC. Er habe mit anderen Soldaten die Front verlassen, verstecke sich derzeit in einem Dorf, wo er an Hunger und Durst leide. Nur ein Mobiltelefon habe eine Einheit von 150 Soldaten, berichtet die Frau. Und mit diesem hätten die Männer nur einmal kurz ihre Familien anrufen können.

Sieben Männern, die sich geweigert hatten, an die Front zu gehen, berichtet eine weitere Frau der BBC, habe der Kompaniechef die Hände fesseln lassen, ihnen mit grüner Farbe ein Kreuz auf die Stirn malen lassen und sie geschlagen. Man habe gehört, so die Frau, dass die sieben erschossen worden seien.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • Wenn Russland. nun schon mit S-300 Landwirtschaftsbetriebe "ausser Gefecht setzen" muss, ist das so als würde man mit Kanonen auf Spatzen schießen, es sei denn man misst einem landwirtschaftlichen Betrieb eine hervorgehobene strategische Bedeutung bei.

  • Was nützt das der Ukraine?

    Selbst wenn sich Russland komplett aus der Ukraine zurück zieht, kann Russland die Ukraine jahrelang destabilisieren.



    Von Russland aus 2 oder 3 Raketen auf Kiew abfeuern, dann mal wieder eine Rakete auf Odessa, anschließend wieder Raketen auf Kiew usw. usw.



    "Gründe" dafür werden die Russen immer finden.

    Als Atommacht kann man sich das eben leisten. Deshalb streben ja auch viele Länder nach der Atombombe, weil sie wissen, dass sie das unangreifbar macht.

    Geländegewinne alleine beenden den Krieg also nicht, da muss grundsätzlicheres passieren.

    • @Rudolf123:

      Es ist blauäugig zu glauben, dass Putin eine Niederlage in der Ukraine überleben wird. Im wahrsten Sinne des Wortes.

      Ob es danach noch die Russische Föderation geben wird, sei mal dahingestellt.

      Auch sagt niemand, dass die Ukraine an den Grenzen halt machen muss, wenn Russland weiterhin jeden Tag Raketen abfeuert auf ukrainisches Gebiet. Das Zerstören der Raketenbasen wäre durchaus ein Akt der Selbstverteidigung.

      Abgesehen davon, kann man zwar Raketenterror nie ganz unterdrücken, aber diesen abzublocken ist möglich. Siehe Israel.

      • @Shasu:

        In dem Moment, wo die Ukraine auch nur eine Rakete auf das Festland von Russland schießt, würden EU und USA ihre Unterstützung der Ukraine sofort einstellen. Denn in diesem Fall kann Russland gar nicht anders als massiv zurück zuschlagen, ob mit Putin oder ohne. Und das wollen wir uns, die nur wenige tausend Kilometer davon entfernt leben, lieber nicht vorstellen. Denn die wirklich verheerenden Waffen sind noch gar nicht zum Einsatz gekommen. Und da meine ich nicht Atomwaffen. Es gibt konventionelle Bomben die ganze Landstriche ausradieren.

      • @Shasu:

        „Ob es danach noch die Russische Föderation geben wird, sei mal dahingestellt.“



        Na, ob da bei Ihnen nicht der Wunsch der Vater des Gedankens ist? Natürlich sind die russischen Raketen- und Drohnenangriffe auf die ukrainische Energie-Infrastruktur höchst effektiv, wenn damit jetzt schon 40% der Energieversorgung ausgeschaltet werden konnte … ein sehr großes Problem für die ukrainische Seite jetzt im Winter und das bagatellisieren die auch nicht, im Gegensatz zu Ihnen.



        Und dann stellen Sie sich bitte mal vor, was passieren würde, wenn die ukrainische Luftabwehr nicht so gut funktionieren würde, wie sie es glücklicherweise tut. Es trifft ja nur etwa jede zehnte Drohne ihr Ziel und das wirkt verheerend genug.



        Oder nehmen Sie die Lage in Cherson … was, wenn der russische Rückzug dort nur ein taktischer war? Jedenfalls ist den Ukrainern eine blutige Schlacht wie in Mariupol erspart geblieben, falls eine Rückeroberung mit erbitterten Häuserkämpfen überhaupt angedacht war … ich bezweifle das und sehe in der kampflosen russischen Aufgabe von Cherson keinen Beleg, dass der Krieg bald mit einem Sieg der Ukraine endet.



        Denn auch mit der vorhandenen Ortskenntnis der ukrainischen Streitkräfte muss der Dnipro als natürliche Barriere erst einmal überwunden werden, um weiter in den Süden - möglicherweise in Richtung Krim? - vorzurücken. Ohne Übergänge kochen sie da genau so mit heißem Wasser wie die russischen Truppen. Was die ukrainische Artillerie dort nicht schon vorher erledigt hatte, haben jetzt die Russen bei ihrem Abzug selbst besorgt. Es ist schlicht die Topographie der Landschaft, die kriegsverlängernd wirken kann.



        Sicher kennen Sie den Antikriegsfilm “A Bridge too far”, der u.a. die verlustreichen gescheiterten Versuche der Allierten schildert, mit dem Übersetzen über die großen Flüsse die Niederlande von den Nazis zu befreien. An Material und militärischer Überlegenheit hat es ihnen seinerzeit jedenfalls nicht gefehlt.

        • @Abdurchdiemitte:

          was, wenn der russische Rückzug dort nur ein taktischer war?



          Und welche Taktik ist das, die dahinter stehen könnte?



          „Denn auch mit der vorhandenen Ortskenntnis der ukrainischen Streitkräfte muss der Dnipro als natürliche Barriere erst einmal überwunden werden, um weiter in den Süden - möglicherweise in Richtung Krim? - vorzurücken.„



          Das ist falsch, die Ukrainer müssen dafür den Dnepr nicht überwinden, sie müssen ihre Truppen dort einfach nur, via Straße und Eisenbahn, 250 km bis 350 km an die Front im Gebiet Zaporizhzhja verlegen.



          Zugleich können sie mit ihren Artilleriesystemen mit hoher Reichweite nun vom rechten Dneprufer aus sämtliche Straßen und Eisenbahnverbindungen erreichen, die von der Krim in den besetzten Süden führen. Russische Stellungen, Quartiere und Depots am linken Dneprufer können Sie natürlich auch erreichen, weshalb absehbar ist, das dort dasselbe passieren wird wie am rechten: Der geordnete Nachschub bleibt aus, die Truppen werden durch ständigen Beschuss zermürbt und dezimiert, und spätestens sobald, in einigen Wochen vielleicht, die Ukrainer an der Zaporozher Front einen Vorstoß Richtung Süden, Aowsches Meer, beginnen, wird es Zeit für die nächste „taktische Maßnahme“ der russischen Armee, den Rückzug auf die Krim.

          • @Barbara Falk:

            Stimmt leider, es wird immer “schief”, wenn sich Nicht-Militärs wie ich in militärstrategischen Analysen versuchen … habe mich da hinreißen lassen, wohl weil hier ja seit Februar plötzlich eine Menge an selbsternannten Militäranalysten unterwegs sind. Wenn Sie da bessere Erkenntnisse oder Informationen haben, erkenne ich das natürlich neidlos an.



            Ich warne jedoch weiterhin vor jedweder Euphorie, dass die weitere Entwicklung des Kriegsverlaufs ein Spaziergang für die Ukraine bzw. die Sache schon entschieden sei. Die widersprüchliche Nachrichtenlage gibt das einfach nicht her.



            Aus meiner Sicht stellt sich auch nicht die Frage: Waffenlieferungen versus Verhandlungen … beides schließt sich meiner Meinung nach nicht aus und tatsächlich sind die diplomatischen Kanäle auf den verschiedensten Ebenen ja nie komplett zum Erliegen gekommen, glücklicherweise nicht, ob es um Gefangenenaustausch, das Getreideabkommen oder auch die direkten diplomatischen Kontakte der USA zu Russland geht, um eine nukleare Eskalation zu vermeiden. Das ist ja alles nicht unterzubewerten.



            Und dann nehme ich die Meldung der „Washington Post“ zur Kenntnis, dass dieser Krieg mittlerweile schon 240.000 (!) Todesopfer gekostet hat, davon alleine 100.000 Soldaten und 40.000 Zivilisten auf ukrainischer Seite (sonst ist immer nur von russischen Verlusten die Rede) … ist das nicht Anlass genug, wenigstens über Verhandlungen zu einem Waffenstillstand nachzudenken? Nur über das Schweigen der Waffen, nicht schon über den Donbass oder die Krim zu einer Vereinbarung zu kommen?



            Und dann: warum nicht an die Ergebnisse der im März/April in Istanbul getroffenen und dann abgebrochenen Verabredungen anknüpfen? Und dann vielleicht: Rückgabe der von Russland besetzten Gebiete gegen Neutralität der Ukraine … langfristig eingebunden in eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, in der sich alle Beteiligten wiederfinden können, weil damit eine Win-Win-Situation für beide Seiten in Aussicht gestellt werden kann?

    • @Rudolf123:

      was denn?

      • @nutzer:

        Etwas, was ein langfristiges friedliches Nebeneinander garantiert. Was das ist können Russen und Ukrainer nur selber bestimmen.

        Denn selbst wenn die Ukrainer den Krieg "gewinnen", werden 140 Millionen Russen direkte Nachbarn von 40 Millionen Ukrainern bleiben. Die verschwinden nicht. Und werden wie auch zukünftig versuchen, wie jeder Staat, ihre Interessen durchsetzen.

        • @Rudolf123:

          Die meisten Staaten versuchen nicht ihre Nachbarn auszulöschen.

  • Das wäre sehr gut. Hoffentlich kann nach den Kampfhandlungen, die sicher noch dauern werden, auch die von Russland deportierte Bevölkerung zurückkehren.