Wiederaufbau der Ukraine: Solidarität und jede Menge Fragen

Bei Beratungen um den Wiederaufbau der Ukraine haben die EU-Länder dominiert. Derweil führte der Bundespräsident Gespräche in einem Luftschutzbunker.

Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier in einer Bäckerei in Kiew

Korjukiwka, Ukraine am Dienstag: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht eine Brotfabrik Foto: Michael Kappeler/dpa

BERLIN taz | An markigen Worten fehlt es nicht. Von Mammutaufgaben ist die Rede, von gewaltigen Herausforderungen, von grenzenloser Solidarität – und es werden Versprechen gegeben, die über Generationen halten sollen. Die Bundesregierung, die bis Ende des Jahres den Vorsitz der G7 innehat, und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben zur nächsten Runde für den Wiederaufbau der Ukraine eingeladen. Es wird um Vertrauen geworben bei den ukrainischen Vertretern und bei den Geldgeber-Staaten.

Die Probleme sind in der Tat gewaltig. Der Krieg in der Ukraine ist in vollem Gange und die russische Armee bombardiert zunehmend Kraftwerke, Straßen, Zufahrten und Wohngebäude. Die Wirtschaftsleistung der Ukraine ist eingebrochen, Exporte etwa von Getreidelieferungen werden nach wie vor blockiert oder erschwert. Das Land braucht jetzt Geld, um Sozialleistungs-, oder Finanzsysteme aufrechtzuerhalten, um Gehälter für Lehrer oder Ärzte auszuzahlen. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zufolge braucht sein Land kommendes Jahr 38 Milliarden US-Dollar. Zugleich muss auch an die Zeit „nach dem Sieg über Russland“ gedacht werden, so formuliert es Selenski, live aus der Ukraine zugeschaltet.

Und immer wieder fällt ein Begriff: Es müsse ein Marshall-Plan für die Ukraine her. Das US-Aufbauprogramm für Deutschland und ganz Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bestand aus Hilfen in Milliardenhöhe, Kreditzusagen und Schuldenerlassen. Für den Wiederaufbau der Ukraine werde die „Stärke der gesamten Völkergemeinschaft“ notwendig sein, betonte Scholz.

Während der Kanzler in Berlin die Solidarität mit der Ukraine bekräftigt, ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew eingetroffen. Es ist sein erster Besuch in der Ukraine seit Beginn des Krieges. Eigentlich wollte Steinmeier bereits Mitte April nach Kiew reisen – wurde dann aber von Seiten der Ukraine ausgeladen. Ihm sei es wichtig, sagte er nun, „gerade jetzt, in der Phase der niederträchtigen russischen Luftangriffe im ganzen Land“ ein Zeichen der Solidarität zu senden. Er sicherte weiter militärische, politische, finanzielle und humanitäre Hilfe zu.

Wer koordiniert was?

Steinmeier wollte nicht nur Selenski treffen, sondern besuchte auch das nord-ukrainische Städtchen Korjukiwka nahe der belarussischen Grenze. In Korjukiwka ging es ebenfalls um Wiederaufbauhilfe. Die Stadt hat mit zerstörter Infrastruktur durch russischen Beschuss zu kämpfen. Kurz nach Steinmeiers Ankunft wurde Luftalarm ausgelöst. Der Bundespräsident, Bürgermeister Ratan Achmedow und eine Gruppe von Bür­ge­r*in­nen mussten ihre Gespräche in einem Luftschutzkeller führen.

Von der Leyen schwört derweil in Berlin die Weltgemeinschaft auf Zusammenarbeit ein: Die G7, die EU, Finanzinstitutionen wie den IWF, die Weltbank, die Europäische Investitionsbank. Die G7 haben für 2023 bereits Budgethilfen von rund 20,7 Milliarden US-Dollar zugesagt, mehr als 33 Milliarden US-Dollar sollen es werden. Die USA sind derzeit der größte Geldgeber, innerhalb der EU ist Deutschland an der Spitze. Was den bisherigen Gesamtschaden für die Ukraine betrifft, gehen die Berechnungen teilweise weit auseinander. Die Weltbank spricht von etwa 350 Milliarden US-Dollar bis Sommer, der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von aktuell 750 Milliarden US-Dollar.

Die Vielfalt der Ak­teu­r:in­nen wirft außerdem etliche Fragen auf. Wer koordiniert die Hilfen, bestimmt über die Verteilung des Geldes? Unter welchen Kriterien? „Die Ukraine wird die Führung übernehmen“, sagt von der Leyen. Denn das Land habe eine klare Vision, EU-Mitglied zu werden. Für sie ist die „Straße zum Wiederaufbau der Weg zu dieser Vision“. Damit macht von der Leyen auch klar, dass die EU eine entscheidende Rolle bei der Koordination des Aufbaufonds übernehmen wird.

Ein Vorschlag für eine entsprechende Plattform liegt bereits auf dem Tisch. Den Aufbau von Infrastruktur und wirtschaftliche Zusagen braucht es, um geo- und sicherheitspolitische Garantien zu gewähren. Selenski bringt hier die USA ins Spiel, auf die der ukrainische Präsident auch weiterhin setzt. Ein hochrangiger US-Vertreter spricht aber bei keiner der Diskussionsrunden. Von der Leyen, Scholz und der ukrainische Ministerpräsident Schmyhal dominieren.

Die Zeit drängt

Bei der ersten Wiederaufbau-Konferenz im Juli im schweizerischen Lugano einigte man sich auf sieben Prinzipien: Partnerschaft, Fokus auf Reformen, Transparenz, demokratische Teilhabe, Einbeziehung verschiedener Interessenvertreter, Gleichberechtigung der Geschlechter und Nachhaltigkeit. Nichtregierungsorganisationen machen seitdem Druck, dass die Zivilgesellschaft bei der Umsetzung dieser Prinzipien eingebunden werden – und der Fokus nicht nur auf etwa Privatinvestitionen von Firmen liegt.

Viel Zeit bleibt den G7, der EU, den internationalen Finanzinstutionen nicht für eine Entscheidung und einen konkreten Fahrplan für Koordination und Verteilung. Es bleibt kein Spielraum für Überbürokratisierung oder ein Verstricken in Absprachen. Denn die nächste Konferenz findet erst im Frühjahr 2023 in Großbritannien statt, die Lösungen braucht es jetzt.

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