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Was Sie schon immer über eine Wahlwiederholung wissen wollten …

… sich aber schon gar nicht mehr zu fragen trauten: Eine Woche nach dem De-facto-Urteil des Verfassungsgerichts stehen die Zeichen auf Wahlkampf. Dabei ist noch offen, wann gewählt wird. Beim Bundestag sieht die Lage dagegen deutlich anders aus

Von Bert Schulz und Stefan Alberti

Berlin steht vor einer Wiederholung der Wahlen, oder?

Am Mittwoch hat der Verfassungsgerichtshof, Berlins höchstes Gericht, erklärt, dass die jüngsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten seiner Auffassung nach ungültig sind. „Nur die vollständige Wiederholung der Wahlen kann deren Verfassungskonformität wieder herstellen“, sagte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting zu Beginn einer Anhörung wegen mehrerer Einsprüche gegen die Wahl vom 26. September 2021. Offiziell aber ist das noch kein Urteil. sondern bloß eine „vorläufige Einschätzung“ des Gerichts.

Also ist alles offen?

Nur theoretisch. Nach Einschätzung eigentlich aller Be­ob­ach­te­r*in­nen und Po­li­ti­ke­r*in­nen kann das Gericht nicht mehr hinter seine verkündete Position zurück. Die neun Ver­fas­sungs­rich­te­r*in­nen haben sich mit ihrer Einschätzung zu weit aus dem Fenster gelehnt. Auch Selting erklärte, dass die Beurteilung sich höchstens „an der ein oder anderen Stelle“ noch ändern könne.

Und wann wird nun gewählt?

Das steht noch nicht fest. Das Gericht hat nach der Anhörung drei Monate Zeit, um sein Urteil zu verkünden. Spätestens am 28. Dezember muss es so weit sein. Danach wiederum muss laut dem Landeswahlgesetz innerhalb von 90 Tagen gewählt werden. Letztmöglicher Termin ist also der 28. März 2023.

Kam die Einschätzung des Gerichts überraschend?

Ja. Das Bundesverfassungsgericht hat eine recht enge Auslegung, in welchen Fällen Wahlpannen und -fehler zu Wiederholungen führen können. Danach muss eigentlich eine sogenannte Mandatsrelevanz gegeben sein, sprich: die Fehler müssen konkrete Auswirkung auf die Sitzverteilung oder die Vergabe der Direktmandate haben. Dies ist nach Ansicht vieler Ver­fas­sungs­recht­le­r*in­nen aber nur in wenigen Berliner Wahlkreisen – die meisten gehen von drei strittigen Direktmandaten aus – gegeben. Das Berliner Verfassungsgericht argumentierte aber anders.

Wie denn?

Die Vierfachabstimmung am 26. September 2021 fand unter schwierigen Bedingungen statt: gewählt wurden Bundestag, Abgeordnetenhaus und Bezirksverordnetenversammlungen, zudem stand der Enteignungs-Volksentscheid an. Parallel sorgte der Marathon für zahlreiche Blockaden, und außerdem gab es zahlreiche Corona-Auflagen. In der Folge kam es zu zahlreichen Pannen: Stimmzettel fehlten oder wurden falsch ausgegeben; es gab schlicht zu wenig Wahlurnen, daher kam es zu Schlangen, vielfach wurde bis weit nach 18 Uhr gewählt.

Und das war nicht einfach eine Anhäufung unglücklicher Umstände?

Nach Auffassung des Gerichts waren diese Pannen vorhersehbar; verantwortlich für die Fehler seien deswegen Landeswahlleitung und die zuständige Senatsverwaltung für Inneres unter dem damaligen Senator Andreas Geisel (SPD), heute Stadtentwicklungssenator. Zudem geht das Gericht davon aus, dass die bekannten Pannen nur „die Spitze des Eisbergs“ seien; es würde wohl nie aufgeklärt, wie viele potenzielle Wäh­le­r*in­nen betroffen und deren Recht auf eine Wahl in Präsenz eingeschränkt wurde.

Für welche Po­li­ti­ke­r*in­nen geht der Wahlkampf nun von vorne los?

Für all jene, die im September 2021 für das Berliner Abgeordnetenhaus und die zwölf Be­zirks­parlamente kandidiert haben. Denn eine neue Aufstellung von Listen und Kan­di­da­t*in­nen wird es – da es sich um eine Wahlwiederholung handelt – nicht geben. Die Verzeichnisse der Wäh­le­r*in­nen werden aber aktualisiert. Das heißt: Wer inzwischen 18 geworden oder als Erwachsener neu nach Berlin gezogen ist, darf mitwählen.

Und wenn eine Partei absolut nicht will, dass jemand erneut für sie kandidiert? Etwa die Grünen im Bezirk Mitte, die gerade erst ihre damalige Nummer eins, Stephan von Dassel, als Bürgermeister abgewählt haben?

Von der Kandidatur zurücktreten können nur die Bewerberinnen und Bewerber selber – die müssen das der Wahlleitung schriftlich mitteilen. Für Politiker, die sich von ihrer Partei ungerecht behandelt fühlen, wäre es theoretisch die ideale Möglichkeit, sich zu revanchieren.

Was ist mit dem Volksentscheid?

Der Entscheid, bei dem knapp 60 Prozent für die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen gestimmt haben, bleibt gültig. Das Ergebnis war zu eindeutig, es gab auch keine Einsprüche dagegen bei Gericht.

Und die Bundestagswahl?

Darüber entscheidet der Bundestag selbst auf Vorschlag des Wahlprüfungsausschusses. Die Vertreter der Ampelkoalition darin haben jetzt vorgeschlagen, in rund 300 der 2.286 Wahlbezirke nochmals abstimmen zu lassen. Zwischenzeitlich war mal von 420 zu hören. Beides liegt weit unter der Forderung des Bundeswahlleiters, die Wahl in der Hälfte der zwölf Berliner Wahlkreise zu wiederholen. Das gilt umso mehr, als nur mit der Zweitstimme abgestimmt werden soll – die über die Erststimme bestimmten Wahlkreissieger von 2021 haben also ihre Bundestagssitze sicher. Offiziell muss dem noch der Ausschuss, der sich nächste Woche wieder trifft, und danach das Plenum des Bundestags zustimmen.

Und dann wird zügig gewählt?

Voraussichtlich nicht. Die Ausschussvorsitzende Daniela Ludwig (CSU) ging am Mittwoch davon aus, dass es zu einem Verfahren am Bundesverfassungsgericht kommen wird. Wie viel Zeit dort bis zu einem Urteil noch vergeht, ist völlig offen.

Apropos Wahlkampf: Wie wird der in Berlin aussehen? Immerhin hat die jetzige Nummer zwei im Senat, Bettina Jarasch (Grüne), gute Chancen, Franziska Giffey (SPD) abzulösen.

Das ist die große Frage. Angesichts der aktuellen Krisen überbieten sich jetzt Senatsmitglieder dabei, auf die Verantwortung ihres Amts und die Demut davor zu verweisen. Durchgängiges Versprechen: Berlin gut regieren, statt sich im Wahlkampf zu blockieren. Wie sich das umsetzen lässt, bleibt abzuwarten – Parteifunktionäre waren da bereits weniger zurückhaltend.

Aber Berlin könnte eine neue Regierungschefin bekommen?

Durchaus. In der neuesten Umfrage ist Franziska Giffeys SPD noch drittstärkste Kraft – und das mit 17 Prozent ziemlich abgeschlagen: Es führen Grüne und CDU mit 22 und 21 Prozent, während die Linkspartei auf 12 Prozent kommt. Insgesamt reicht es damit weiter für eine Koalition der jetzigen drei Regierungsparteien, aber mit anderer Gewichtung.

Was macht das Abgeordnetenhaus bis dahin?

Weiter wie bisher: Die Abgeordneten sind weiter für ihre Arbeit legitimiert, ihre Entscheidungen seit 2021 bleiben wie die des Senats auch gültig.

Und wie soll verhindert werden, dass es bei einer Wahlwiederholung erneut Chaos gibt?

Dafür gibt es seit dem 1. Ok­tober ein neues Landeswahlamt mit einem neuen Chef, dem Verwaltungswissenschaftler Stephan Bröchler. Das ist ein Ergebnis der Aufarbeitung der Wahlpannen von 2021. Die damalige Wahlleiterin war kurz nach dem 26. September zurückgetreten. Der Bericht einer Expertenkommission zu den Pannen steht an diesem Donnerstag auf der Tagesordnung des Abgeordnetenhauses.

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