Kommentar von Bert Schulz zur Haltung des Verfassungsgerichts
: Ab jetzt im Wahlkampf

Der Zeitpunkt könnte viel schlechter nicht sein. Krisen von Pandemie bis Energieknappheit bestimmen den Alltag, und am Mittwoch hat der Berliner Verfassungsgerichtshof zudem mitgeteilt, dass die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksparlamenten wohl wiederholt werden müssen – weil sie nicht den verfassungsmäßigen Vorgaben entsprachen. Sie seien aufgrund vieler Pannen schlicht ungültig. Das Vertrauen der Ber­li­ne­r*in­nen sei daher – zurecht – erschüttert, so das Gericht.

Jenseits des Hohns, der sich nun mal wieder auf die Hauptstadt, ihre Po­li­ti­ke­r*in­nen und ihre Verwaltung ergießen wird, die nichts gebacken kriege: Für die Stimmung in der Bevölkerung insgesamt vor diesem politisch und ökonomisch schwierigen Herbst und Winter ist das brandgefährlich. Zusammen mit Ängsten wegen der vielen Krisen kann dies eine diffuse Abwehrhaltung gegen „die da oben“ befeuern und rechten Kräften Auftrieb geben.

Auch wenn das Verfassungsgericht am Mittwoch noch keine finale Entscheidung verkündet hat: Hinter die umfassende Klatsche für die Senatsinnenverwaltung kann es kaum mehr zurück – und will es offenbar auch gar nicht. Die jetzt bekannt gewordenen Pannen seien wiederum „nur die Spitze des Eisbergs“, betonte die Richterin und folgte damit der Schlussfolgerung, die schon eine vom damals verantwortlichen Senator Andreas Geisel (SPD) selbst beauftragte Kommission gezogen hatte: Die Fehler waren strukturelle Fehler, ihr Umfang wird nie ganz aufgeklärt werden. Trotzdem hatte die Innenverwaltung unter Geisels Nachfolgerin Iris Spranger (SPD) darauf beharrt, dass es sich nur um Fehler im Detail handle, die mit einer dezenten Wahlwiederholung in einigen Wahllokalen zu beheben sei.

Nun ist das Debakel da. Berlin ist – egal wie lange die finale Entscheidung des Gerichts noch auf sich warten lässt – wieder im Wahlkampf und darf sich im Februar oder März auf erneute Wahlen einstellen.

Die Zukunft von Geisel und Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) ist nun ungewiss. Laut Umfragen liegt ihre Partei klar unter den Ergebnis vom September 2021, würde derzeit nur drittstärkste Kraft und bei einer Wahl das Rote Rathaus verlieren. Für die Fliehkräfte im rot-grün-roten Bündnis bedeuten die Ausführungen des Gerichts Aufwind. Denn die internen Kri­ti­ke­r*in­nen haben sich insbesondere auf Giffey und Geisel eingeschossen.

Die nächsten Monate werden mit Krisen und Wahlkampf eine besondere Herausforderung, wenn Parteiprofilierung nicht auf Kosten der Akzeptanz der Demokratie insgesamt passieren soll.