Inflation frisst Bürgergeld

Mehr Kooperation, Weiterbildung und weniger Sanktionen: Ab 2023 soll Bürgergeld das alte Hartz IV ablösen. Der Regelsatz steigt um 50 Euro – zu wenig, sagen die Sozialverbände

Wenn Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (links, SPD) dir erzählt, dass der Regelsatz nur um 50 Euro steigt: PR-Termin im Jobcenter Lichtenberg mit einer Arbeitssuchenden Foto: Annette Riedl/dpa

Von Jasmin Kalarickal

Gleich am Mittwochmorgen wird Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im „ZDF-Morgenmagazin“ in die Defensive gedrängt. Er soll sich zum neuen Bürgergeld erklären. Der Moderator konfrontiert ihn mit der Aussage einer langjährigen Hartz-IV-Bezieherin, die von der geplanten Erhöhung um 50 Euro wenig habe angesichts der Inflation und steigender Stromkosten.

Heil bleibt ruhig und nickt. „Ich weiß, dass auch das neue Bürgergeld eine Grundsicherung ist, die ein Existenzminimum absichert – nicht mehr, aber auch nicht weniger“, antwortet er. Dann leitet er über zu all den Verbesserungen, die das neue Bürgergeld mitbringen soll: Weniger Bürokratie, mehr Weiterbildung, mehr Kooperation, weniger Sanktionen. „Der Geist des neuen Systems“ sei der der „Ermutigung und Befähigung“, erklärt Heil.

Am Mittwoch hat das Bundeskabinett die Einführung des neuen Bürgergelds beschlossen. Heils Gesetzentwurf wird nun im Bundestag beraten. Zum 1. Januar 2023 soll das heutige Hartz-IV-System abgelöst werden.

Für die Sozialdemokraten ist die Bürgergeldreform auch ein Stück weit politische Traumabewältigung, der endgültige Abschied von Hartz IV. Denn mit der Reform, die 2023 rund 4,8 Milliarden Euro kostet, soll ein neuer Ansatz gelten: Weniger Härte und Sanktionen, dafür mehr Weiterbildungsmöglichkeiten und mehr Geld.

Konkret sieht der Gesetzentwurf aus dem Arbeitsministerium Folgendes vor: Die Höhe der Sätze wird steigen. Ab 2023 soll der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene von 449 Euro auf 502 Euro steigen – das sind 53 Euro mehr. Zudem soll künftig bei der jährlichen Anpassung der Regelsätze die Inflation schneller berücksichtigt werden. Bisher wird die Inflation nur sehr spät berücksichtigt und kann tatsächliche Mehrbelastungen kaum ausgleichen. Doch die grundsätzliche Berechnung des Existenzminimums bleibt unverändert: Die Regelsätze orientieren sich an den durchschnittlichen Ausgaben der Einkommensschwächsten – zudem werden Ausgaben für „nicht bedarfsrelevante Güter“, etwa Zigaretten oder Zimmerpflanzen, herausgerechnet. Diese Methode des Kleinrechnens steht seit Jahren in der Kritik.

Eine große Neuerung des Bürgergeldes ist jedoch die Abschaffung des sogenannten Vermittlungsvorrangs, der eine Arbeitsaufnahme höher wertet als Weiterbildung. In der Praxis bedeutet das oft, dass Menschen in schlecht bezahlte Aushilfsjobs gedrängt werden, anstatt die Chance zu bekommen, sich weiterzuqualifizieren. Nun soll ein Paradigmenwechsel her: So sieht das Bürgergeld ein monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro vor.

Zudem soll vieles unbürokratischer und nachsichtiger werden. Bürgergeld-Bezieher*innen sollen in den ersten zwei Jahren in ihrer Wohnung bleiben können, auch wenn sie eigentlich zu groß ist. In dieser Zeit dürfen auch Ersparnisse bis zu 60.000 Euro behalten werden, für jede weitere Person im Haushalt 30.000 Euro mehr. Diese Regelung wurde bereits während der Coronapandemie eingeführt und wird jetzt verstetigt. Doch auch nach diesen zwei Jahren dürfen Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r*in­nen mehr „Schonvermögen“ besitzen als bisher. Zudem sollen die Zuverdienstgrenzen erhöht werden.

„Das Wichtigste fehlt: eine ehrliche Erhöhung der Regelsätze“

Jessica Tatti, Linke

Was die Gemüter jedoch am meisten erregt, ist das Thema Sanktionen. Diese werden nach dem Gesetzentwurf zwar nicht abgeschafft, aber deutlich abgemildert. Im ersten halben Jahr des Bürgergeldbezugs – im Entwurf heißt es „Vertrauenszeit“– soll es keine Sanktionen geben, außer bei Terminversäumnis. Anschließend kann das Bürgergeld wieder um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Härtere Sanktionen für unter 25-Jährige werden abgeschafft. Erst vor Kurzem wurde eine Studie des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsforschung vorgestellt, die zu dem Ergebnis kam, dass Sanktionen nicht nachhaltig in Arbeit bringen, sondern einschüchtern und krank machen können.

Während Sozialverbände die Sanktionen und vor allem zu niedrige Regelsätze kritisieren, polterte etwa der Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer, dass die Reform den Anreiz zu arbeiten mindere. Auch die Union kritisierte Fehlanreize – es ist der übliche Reflex, Ge­ring­ver­die­ne­r*in­nen und Arbeitslose gegeneinander auszuspielen. Die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Jessica Tatti, zog ein gemischtes Fazit: „Es finden sich Licht und Schatten, das Wichtigste aber fehlt: eine ehrliche Bemessung und Erhöhung der Regelsätze.“

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