Debatte um deutsche Waffenlieferungen: Zwischen Skylla und Charybdis

Die Gefahr einer nuklearen Katastrophe muss auf Distanz gehalten werden. Es geht um ein verantwortungsbewusstes Navigieren in einer Dilemma-Situation.

Aus einer russischen Teekanne steigt atomarer Rauch auf

Illustration: Katja Gendikova

Ein Ende der russischen Aggression in der Ukraine ist auch nach fünf Kriegsmonaten nicht absehbar. Putins Armee kommt im Abnutzungsgefecht im Donbass nur langsam und unter Inkaufnahme erheblicher Verluste an Menschen und Material voran. Die ukrainischen Streitkräfte sind sogar in der Lage, lokale Gegenangriffe zu führen, wo die russischen Truppen zur Verteidigung übergegangen sind.

Sie bekämpfen mit Himars-Raketen aus US-Produktion Waffenlager und Nachschubwege in der Tiefe des von Russland besetzten ukrainischen Territoriums. Das Gravitationszentrum der militärischen Hilfsleistungen für die Ukraine liegt eindeutig in Washington. Aufklärungsdaten in Echtzeit, Waffenlieferungen und Waffenausbildung sowie logistische Unterstützungsmaßnahmen der Vereinigten Staaten tragen entscheidend zur ukrainischen Verteidigung bei.

Die im Verhältnis zu den USA weit geringeren Unterstützungsmaßnahmen der europäischen Staaten sind nur im Verbund mit den amerikanischen Hilfsleistungen wirksam. Die ukrainische Führung entscheidet damit zwar formal souverän über ihre Kriegsziele und darüber, ob und wann sie zu Verhandlungen mit Moskau bereit ist. Sie ist jedoch von den amerikanischen Unterstützungsleistungen abhängig, die den Handlungsspielraum des ukrainischen Präsidenten Selenski praktisch einrahmen. Auf der Hinterbühne des Geschehens wirkt die geopolitische Ebene des Konflikts, das machtpolitische Ringen zwischen Moskau und Washington.

Völkerrechtlich gesehen hat die Ukraine eindeutig das Recht, die von Russland besetzten und annektierten Gebiete, einschließlich der Krim, zurückzufordern oder zurückzuerobern. Grundlage dafür ist das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ im Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Die Ukraine wird einer territorialen Lösung mit Abtrennung der besetzten Gebiete nicht zustimmen, und keine ernst zu nehmende Regierung der Welt dürfte in der überschaubaren Zukunft das von Russland eroberte ukrainische Territorium als zur Russischen Föderation gehörig oder als quasi-autonomes Staatengebilde anerkennen.

Der Kreml ist nicht bereit, zu verhandeln

Auf einem ganz anderen Blatt stehen die tatsächlichen Möglichkeiten der Ukraine, ihre territoriale Integrität in näherer Zukunft wiederherzustellen. Politiker und Experten, die etwa in deutschen Talkshows, manchmal in salonbellizistischer Manier, über eine militärische Rückeroberung der durch Russland seit dem 24. Februar besetzten Gebiete reden und dafür massive Waffenlieferungen fordern, sollten sich einige Realitäten vor Augen führen.

Über den aktuellen Umfang und den Zustand der ukrainischen Streitkräfte ist zwar wenig bekannt. Die Ukraine müsste jedoch für eine große Gegenoffensive eine etwa dreifache Überlegenheit über die russischen Truppen aufbauen. Vermutlich müssten schwere Waffen wie Kampfpanzer, Schützenpanzer, Rohr- und Raketenartillerie in insgesamt vierstelliger Stückzahl und eine hohe Zahl infanteristischer Kämpfer in Stellung gebracht werden.

Denn im Gegenangriffsszenario würden nunmehr die russischen Streitkräfte in ausgebauten Stellungen in Städten und Ortschaften kämpfen und die Vorteile des militärischen Verteidigers in bebauten Räumen in Anspruch nehmen. Die bisherigen Trümmerlandschaften würden noch einmal durch das Inferno artilleristischer Feuerwalzen umgegraben. Es wäre in der Tat mit noch weit größeren ukrainischen Verlusten und unendlichem Leid verbunden.

Zugleich hat es aber auch wenig Sinn, die Ukraine und den Westen zu einem Waffenstillstand aufzufordern und den Krieg durch Verhandlungen mit Moskau zu beenden. Dafür fehlt es schlicht an den notwendigen Voraussetzungen. Allein der Kreml ist bis auf Weiteres in keiner Weise bereit, zu verhandeln und die Kampfhandlungen einzustellen.

Die westlichen Regierungen müssen überdies bei allen Waffenlieferungen das Risiko der räumlichen Ausweitung und Eskalation des Konflikts im Auge behalten. Dieses Risiko ist real, denn im oft zitierten „Nebel des Krieges“ (Clausewitz) können Kämpfe auch ungeplant außer Kontrolle geraten und eskalieren, etwa durch Raketen, die durch Systemfehler auf Nato-Gebiet einschlagen. Inzwischen ist erkennbar, dass Washington bemüht ist, den Umfang der Waffenlieferungen so zu bemessen, dass vermutete rote Linien im Kreml nicht überschritten werden.

Eine stabile Koexistenz mit Russland liegt im europäischen Interesse

Die USA zielen offenbar darauf, die Verteidigung der ukrainischen Armee im Osten und Süden des Landes zu stabilisieren, quasi „to keep them in the fight“. Kiew soll eine möglichst starke Ausgangsposition für spätere Verhandlungen verschafft werden. Präsident Biden hat dies in seinem Beitrag in der New York Times von Ende Mai unter der Überschrift „What America will and will not do in Ukraine“ klar signalisiert. Das ist keine Siegrhetorik.

Biden dürfte dabei auch einkalkulieren, dass mit der Art und Weise des Vorgehens der USA gegen den russischen Krieg in der Ukraine Weichenstellungen für die künftigen strategischen Beziehungen mit Moskau vorgenommen werden. Das ist ein Punkt, der in der einseitig auf Waffentransfers fokussierten deutschen Debatte weitgehend ausgeblendet wird. Strategische Stabilität in den Abschreckungsbeziehungen mit Russland bleibt für die USA Staatsraison. Die Nato und Russland rutschen absehbar in eine anhaltende Konfrontation, die gravierender sein wird, als dies zum Höhepunkt des Kalten Krieges war.

Moskau dürfte künftig auf Atomwaffen setzen

Es ist anzunehmen, dass Moskau angesichts der erheblichen Verstärkung der Nato-Kräfte an der Ostflanke und mit Blick auf seine durch den Krieg auf Jahre geschwächte Armee künftig noch stärker auf seine zahlreichen taktischen Atomwaffen setzen wird. Wenngleich mit der derzeitigen Kreml-Führung kein Vertrauen mehr aufgebaut werden kann, liegt es im deutschen und europäischen Interesse, eine hinreichend stabile Koexistenz mit Russland zu wahren, die nicht nur auf Abschreckung, sondern auch auf eine zumindest rudimentäre Rüstungskontrolle setzt. Das kürzlich beim Nato-Gipfel in Madrid verabschiedete neue Strategische Konzept der Allianz hält dafür die Türen offen.

Russland ist eine atomare Supermacht auf Augenhöhe mit den USA mit rund 1.800 taktischen Atomwaffen mit Reichweiten für einen europäischen Kriegsschauplatz. Natürlich ist es das Ziel der russischen Atomdrohungen, eine Abschreckungswirkung zu erzeugen, Ängste in Politik und Bevölkerung zu schüren und den Westen von der weiteren Unterstützung des ukrainischen Militärs abzuhalten.

Es ist jedoch verwegen und leichtfertig, die Glaubwürdigkeit und Entschlossenheit der Führung im Kreml mit entwarnenden Spekula­tionen oder Glaubenssätzen herunterzureden. Putin, der einen großen militärischen Angriff auf ein vom Westen unterstütztes Nachbarland gewagt hat, dessen Ruf bereits internatio­nal ruiniert ist, dessen Wirtschaft aufgrund der massiven Sanktionen in eine schwere Rezession rutscht, könnte eine nukleare Eskalation wagen, um in der Sackgasse das Ruder herumzureißen.

Kommunikationskanäle bleiben wichtig

Vor diesem Hintergrund ist die permanente, vertrauliche strategische Kommunikation zwischen Washington und Moskau – sowohl auf der diplomatischen wie der militärischen Ebene – von essenzieller Bedeutung. Man kann nur hoffen, dass diese Kommunikation hinter den Kulissen im Sinne von „Deconfliction“ stattfindet. Der Politologe Peter Graf von Kielmannsegg hat das Dilemma der westlichen Unterstützung der Ukrai­ne zwischen berechtigtem Beistandswillen und dem Eskalationsrisiko mit der folgenden Frage auf den Punkt gebracht: „Wie weit darf man sich der Gefahr einer apokalyptischen Katastrophe annähern?“

Die Antwort darauf sollte sein, dass diese Gefahr auf gehörige Distanz gehalten werden muss, weil die Zerstörungswirkungen einer nuklearen Eskalation ein existenzielles Ausmaß annehmen könnten, gerade auch für die Ukraine. Ratschläge, die USA und ihre Bündnispartner sollten sich mit einer Ausweitung der Waffenlieferungen an die russische nukleare Schwelle herantasten, klingen wie Kalküle von Hasardeuren. Dies ist kein Kriegsspiel.

Die vielfach in Politik und Medien kritisierte Aussage von Bundeskanzler Scholz, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf, korrespondiert mit der eskalationsvermeidenden Position des amerikanischen Präsidenten. Beide Staatschefs können so interpretiert werden, dass sie einen von Russland unabhängigen, westlich orientierten ukrainischen Staat auf jeden Fall erhalten wollen, auch wenn am Ende der Kampfhandlungen rund ein Viertel des Staatsgebietes der Ukraine für eine unbestimmte Zeit von russischen Truppen besetzt bliebe, so bitter das für Kiew wäre.

Zwischen Skylla und Charybdis

Es ist ein verantwortungsbewusstes Vorgehen zwischen Skylla und Charybdis – zwischen der Verhinderung einer russischen Besetzung des gesamten ukrainischen Territoriums einerseits und dem Risiko einer Ausweitung und gefährlichen Eskalation des Krieges andererseits. Dies ist alles andere als zynisch, wie in Kommentaren behauptet wird. Zynisch wären hingegen Kalküle, die Ukraine durch massive Waffentransfers in einem anhaltenden Stellvertreterkrieg und unter großen Verlusten dazu zu befähigen, die russische Armee im euro-atlantischen Interesse abzunutzen.

Und schließlich: Politisch-moralische Argumente sollten nicht, von einer höheren Warte blickend, realpolitischen Kalkülen gegenübergestellt werden. Denn im Kern geht es um das verantwortungsbewusste, rationale Navigieren in ­einer Dilemma­situation, in der es gar keine eindeutig richtigen Wege aus der Gefahr gibt.

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Brigadegeneral a. D., war im Verteidigungsministerium sowie in den deutschen Vertretungen bei der Nato und den UN mit sicherheits­politischen und rüstungs­kontroll­politischen Fragen befasst.

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▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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