Haare und Identität: Haarlose Frauen tragen ein Stigma

Die Debatte um die Ohrfeige bei den Oscars zeigt: Frauen, die unfreiwillig eine Glatze haben, sind in unserer Gesellschaft ein Niemand.

Portrait von Jada Pinkett Smith

Jada Pinkett Smith bei der Party des Modemagzins Vanity Fair während der Academy Awards am 27. März Foto: Danny Moloshok/reuters

Ein Mann macht sich über die Frau eines anderen Mannes lustig. Und wie reagiert der Mann, der der Frau nahe steht, auf deren Kosten gelacht wird? Egal wie, eines steht fest: Die Frau ist die Verliererin.

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Ignoriert ihr Mann den Vorfall, hat er sich mit dem Angreifer solidarisiert und damit indirekt über sie mitgelacht. Interveniert er verbal, ist er der Spielverderber. Attackiert er aber den Angreifer und schlägt zu, reden alle nur noch über die beiden Männer.

So geschehen ist das kürzlich, als der Schauspieler Will Smith dem Moderator der Oscar-Verleihung, Chris Rock, in Hollywood eine Ohrfeige verpasste. Rock hatte vor laufender Kamera einen Witz über die Glatze von Jada Pinkett Smith, Will Smiths Ehefrau, gemacht. Dass diese nicht freiwillig ohne Haare herumläuft, sondern eine Krankheit die Ursache ist, hätte er wissen können, weil Jada Pinkett Smith öffentlich darüber spricht. Medial ist der geohrfeigte Moderator nun das Opfer. Und Will Smith, der zehn Jahre lang nicht mehr zu den Oscar-Verleihungen darf.

Die eigentliche Opfergruppe aber, die Frauen ohne Haare, für die Jada Pinkett Smith stellvertretend steht, verschwinden aus der öffentlichen Wahrnehmung. Es ist eine armselige Geschichte. Eine, in der nicht über die Männer hinausgedacht wird. Eine Story, die an der Realität der Frauen vorbei zielt und nur die Hälfte erzählt.

Haare von Frauen sind Schmuck, Zeichen für Weiblichkeit, Sinnlichkeit und Sexualität. Sie stehen für Identität, und sie sind auch ein Wirtschaftsfaktor. Ende 2020 gab es 236.309 Fri­seu­r:in­nen in Deutschland.

Frauen ohne Haare sind ein anderes Thema, eines, an dem Fri­seu­r:in­nen nichts verdienen, eines, an dem stattdessen ein Tabu hängt. Am Tabu kann im Umkehrschluss gezeigt werden, warum Haare bei Frauen so wichtig sind. So wichtig, dass sie in manchen Religionen bei orthodoxer Auslegung, wie im Islam, im Judentum und auch von christlichen Nonnen, versteckt werden müssen, weil sonst fremde Männer enthemmt werden.

Unfreiwillige Glatze

Die allermeisten Frauen, die sich für eine Glatze entscheiden, tun es nicht freiwillig. Sie haben, wie Jada Pinkett Smith – oder auch wie meine Mutter – eine Krankheit. Bei Smith ist es kreisrunder Haarausfall. Sie ist nicht die einzige Frau, die ungewollt ihr Haar verliert. Etwa 20 Prozent aller Frauen in Deutschland sind laut des Bundesverbandes der Zweithaar-Spezialisten von Haarausfall betroffen. Bei meiner Mutter ist es die Folge einer Chemotherapie. Zwar sollen, werden die Medikamente abgesetzt, die Haare wieder wachsen. Aber es gibt Ausnahmen. Meine Mutter ist eine.

Frauen, die wie sie unfreiwillig eine Glatze tragen, tragen auch ein Stigma. Stigma ist griechisch und bedeutet Wunde. In der Soziologie beschreibt der Begriff einen Makel, ein Defizit. Laut Erving Goffman entsteht bei Personen, die ein Stigma tragen, eine Diskrepanz zwischen ihrer „virtualen Identität“, also dem, was sie sein sollten, und dem, was sie sind.

Meine Mutter verdeckt ihre Glatze mit einer Perücke, sobald sie das Haus verlässt. Vor dem Hintergrund von Goffmans Theorie ist die Perücke ein Versuch, das Stigma zu beseitigen, eine Technik der „Bewältigung beschädigter Identität“, wie es in dem Untertitel seines Buches „Stigma“ heißt.

Steht meiner Mutter aber doch eigentlich ganz gut, die Glatze, sage ich manchmal. Ich finde, dass sie eine schöne Kopfform hat. Und ich sage ihr: „In Berlin könntest du auch mit der Glatze rumlaufen.“ Es gibt immer wieder Initiativen und Fotoausstellungen von haarlosen Frauen, die zeigen, dass Frauen ohne Haare schön und sexy sind. Meine Mutter lebt aber auf dem Dorf, wo die Bevölkerung an Traditionen und alten Rollenbildern festhält. Und meine Mutter hasst ihre Glatze.

Jubeln und Weinen

Es geht bei der Glatze nicht nur um eine Äußerlichkeit. Es geht nicht nur darum, wie andere sie wahrnehmen, sondern auch darum, wie meine Mutter sich selbst wahrnimmt. Es geht um ihre Identität. Als sie mich kurz nach der Oscar-Preisverleihung und ihrem medialen Höhepunkt, der Ohrfeige, anrief, sagte sie, sie hätte jubeln können, obwohl sie geweint habe. „Will Smith hat nicht nur seine kranke Frau verteidigt, sondern auch mich.“ Geweint habe sie übrigens über die Debatte danach. Weil diese ihr zeigte, dass Frauen wie sie in der Gesellschaft ein Niemand sind.

Dass meine Mutter weint, hängt auch an den gesellschaftlichen Bildern, die mit Glatze tragenden Frauen verbunden sind, wie etwa die Assoziation mit Chemotherapie und Krebs. KZ-Häftlingen wurden im Zweiten Weltkrieg die Haare abrasiert – als Akt der Erniedrigung. Und auch Kollaborateurinnen in Frankreich – als Strafe für ihre Zusammenarbeit mit dem Feind.

Dass Frauen unfreiwillig ihre Haare abgeschnitten werden, ist ein Akt der Entwürdigung und Unterdrückung, der sich in unser historisches Gedächtnis eingebrannt hat. Bis heute. Meine Mutter schickte mir nach unserem Telefonat kommentarlos Bilder aus der Ukraine, die dieser Tage um die Welt gehen: Fotos von Soldatinnen, denen vor der Freilassung aus russischer Gefangenschaft die Haare abrasiert wurden.

Das Haar galt in der Antike als Symbol der Lebenskraft und als Sitz der Seele. Daran hat sich kaum etwas geändert. Haare gelten als relevant für die Persönlichkeit. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Sozialpsychologe Reinhold Bergler in einer empirischen Untersuchung. Laut Bergler ist das Haar für den ersten Eindruck entscheidend. Es fördert Sympathie oder Antipathie.

Haare seien „für den Menschen in seiner ganzen Geschichte keine Randerscheinung seines Äußeren gewesen, sondern sie sind ein entscheidendes Element menschlichen Selbsterlebens, menschlicher Selbstdarstellung, aber auch und wesentlich menschlicher Fremdwahrnehmung und Fremdbeurteilung“, schreibt er in einem Aufsatz.

Haare machen Frauen

„Kleider machen Leute“ heißt es. Es könnte auch heißen: Haare machen sie. Für Frauen gilt das umso mehr, weil kulturhistorisch Vorstellungen von Weiblichkeit und Sexualität damit verbunden wurden. „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, lautet der wohl berühmteste Satz von Simone de Beauvoir. Haare machen nicht nur Leute. Haare machen in unserer Gesellschaft auch Frauen.

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Dass das Haar besonders für Frauen so essenziell ist, als Ausdruck ihrer Sinnlichkeit und ihres Standings in der Gesellschaft, zeigen sogar Märchen. Rapunzel, lass dein Haar herunter. In der Erzählung, die Generationen von Kindern vorgelesen wurden, steht das kräftige Haar für Macht.

Noch älter: Die Schlangengöttin Medusa aus der griechischen Mythologie. Die Schöne wurde von Athene verflucht, nachdem Poseidon sie, wie es in einigen Versionen des Mythos heißt, vergewaltigt hat. Was wird in Schlangen verwandelt? Ihr Haar.

Heute werden gesellschaftliche Bilder nicht mehr im Märchen oder Mythos tradiert, sondern im Fernsehen gemacht. Bei Veranstaltungen wie der Oscar-Verleihung werden modische Standards gesetzt. Dass Jada Pinkett Smith sich dort mit Glatze zeigt, ist mutig. Ihr Auftritt hätte das Potenzial gehabt, etwas zu ändern, das Bild von Glatze tragenden Frauen hätte sich normalisieren können. Die Oscar-Verleihung hätte der Stigmatisierung etwas entgegensetzen können. Stattdessen wird nur über die Ohrfeige gesprochen.

Natürlich gehört Gewalt verurteilt. Natürlich hätte Will Smith den Witzemacher zur Rede stellen und nicht angreifen sollen. Aber: Hätte Will Smith nicht eingegriffen, wäre die Bemerkung von Chris Rock einfach so stehen geblieben. Er hätte betroffenen Frauen, die auf der ganzen Welt vor dem Fernseher sitzen, gezeigt, was passiert, wenn sie ihre Perücke abnehmen: öffentliche Erniedrigung. Gut, dass es nicht so war.

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Jahrgang 1992, schreibt seit 2017 für die taz. "Unter Verrückten sagt man du" erscheint 2024 bei Suhrkamp.

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