Barbara Dribbusch über den WSI-Verteilungsbericht zur Mittelschicht
: Das Märchen vom Abstieg

Es ist auffällig, dass im Sondierungspapier der künftigen Ampelkoalition große Fragen der Sozialpolitik umschifft werden: Rente und Pflege. Hier will die künftige Regierung alles eher beim Alten belassen, Pflegenotstand und Renten-Finanzprobleme hin oder her. Bei beiden Themen müsste man unangenehme Verteilungsfragen ansprechen, die vor allem die Mittelschichtmilieus betreffen. Die Mittelschicht aber möchte beitragsmäßig und steuerlich möglichst entlastet werden. Rente, Pflege, Bildung, Gesundheit: der Staat und die Sozialkassen sollen bitteschön möglichst umsonst liefern. Das kann so natürlich nicht funktionieren.

Das Problem ist zunächst: Mittelschicht ist nicht gleich Mittelschicht. Der neue Verteilungsbericht des gewerkschaftsnahen WSI-Instituts kommt zu dem Schluss, dass die Mittelschichtseinkommen in den Jahren vor Corona im Schnitt gewachsen sind, weil Arbeitskräfte gesucht werden. Die untere Mittelschicht aber profitiert weniger und litt stark unter Corona. Selbstständige haben teilweise hohe Einkommensverluste erlitten. Hohe Wohnkosten in den Metropolen können zur Verarmung führen, falls man nicht geerbt hat.

In den Mittelschichtmilieus zeigen sich feine Bruchlinien wie in einer Porzellanschüssel mit Sprung. Will man die Solidarsysteme in einer alternden Gesellschaft erhalten, werden aber Zumutungen kommen müssen. Beitragsbemessungsgrenzen und Sozialbeiträge für Gesundheit und Pflege werden steigen, Renten gedämpft werden müssen. Die Erbschaftsteuer sollte erhöht werden. Brauchen Hochverdiener kostenfreie Kitas? Das ärmste Zehntel der Bevölkerung hat übrigens keine Einkommenszuwächse erlebt.

Das Märchen von der absteigenden Mittelschicht blockiert die Auseinandersetzung mit Verteilungsfragen. Auch die kommende rot-grün-gelbe Koalition vertagt. Das geht nicht ewig gut, sondern erhöht nur den Druck. Wer da mal ran muss, ist jetzt schon nicht zu beneiden.

inland