Ethikrat-Mitglied über Impfprivilegien: „Das Gemeinschaftsgefühl stärken“

Sigrid Graumann vom Ethikrat ist gegen Privilegien für Geimpfte allein. Sie fände es aber vertretbar, Geimpfte mit negativ Getesteten gleichzustellen.

Corona-Pilotprojekt der Berliner Philharmoniker - Besucher stehen in einer Schlange vor der Berliner Philharmonie

Pilotprojekt an der Berliner Philharmonie: Im März besuchten 1.000 negativ Getestete ein Konzert Foto: Daniel Biskup

taz: Frau Graumann, was halten Sie eigentlich von dem Wort Impfprivilegien?

Sigrid Graumann: Nicht viel. Es geht hier ja nicht um Privilegien, sondern darum, welche Rechte Bürgerinnen und Bürger in Anspruch nehmen können – und welche nicht. Darüber sollten wir sachlich reden. Und das Wort Privilegien ist gleich mit einer Wertung verbunden, die ich problematisch finde.

Jahrgang 1962, ist seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrats. Graumann ist außerdem Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe und Professorin für Ethik im Fachbereich Heilpädagogik und Pflege.

Wie würden Sie es denn nennen, wenn Geimpfte etwas dürfen, was andere nicht dürfen?

Ich würde von „besonderen Regelungen für Geimpfte“ sprechen, das ist etwas neutraler.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) befürwortet Freiheiten für Geimpfte, weil der Grund für die Einschränkung von Grundrechten entfällt, wenn kein Risiko von den Geimpften mehr ausgeht. Lambrecht sagt, das ist ein logischer Schritt. Ähnlich sieht es Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Finden Sie das auch so logisch?

Ehrlich gesagt, nein. Das wäre frühestens in Ordnung, wenn alle die Chance hatten, sich impfen zu lassen oder alternativ mithilfe von Tests Freiheiten zurückzubekommen. Bei besonderen Regelungen für Geimpfte müssten wir mit Folgeproblemen rechnen, die die Schutzstrategien gegen die Pandemie unterminieren.

Was meinen Sie damit?

Wir müssen aufpassen, dass die Solidaritätszumutung, die wir den Bürgerinnen und Bürgern auferlegen, nicht überstrapaziert wird. Wenn bei 11 Prozent Geimpften darüber diskutiert wird, dass diejenigen, die geimpft sind, Dinge tun dürfen, die andere nicht tun dürfen, und gleichzeitig nicht allen ein Impfangebot gemacht werden kann, wird das zu Recht als ungerecht empfunden.

Die Genauigkeit von Schnelltests variiert laut einer Studie der Cochrane Collaboration stark. Alle Antigentests übersehen einige infizierte Personen, besonders Menschen ohne Symptome. Wer also negativ getestet ist, kann trotzdem infiziert sein.

Dass geimpfte Personen mit vollem Impfschutz Sars-CoV2 übertragen, ist dagegen laut Robert-Koch-Institut unwahrscheinlicher als bei Infizierten mit falsch negativem Schnelltest. Eine Impfung bietet also vermutlich mehr Sicherheit als der negative Test.

Einen hundertprozentigen Schutz gibt es dennoch nicht. Das betont auch die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek. In den kommenden Wochen müssten Geimpfte daher vor allem ihre noch nicht geimpften Mitmenschen schützen.

JuristInnen würden argumentieren, es ist ungerecht, Grundrechte grundlos einschränken.

Das ist an sich richtig. Wir sollten aber den Gesamtplan zur Pandemiebekämpfung im Blick behalten. Diese Individualisierung, die dem juristischen Denken entspringt und die normalerweise richtig ist, hilft uns an der Stelle nicht weiter, weil wir zusammen als Gesellschaft dafür sorgen müssen, dass die Infektionsschutzregeln eingehalten werden. Man kann nicht nur an einem Zipfel ziehen – dann gibt es eine Aufhebung der Kontaktbeschränkungen oder der Maskenpflicht für die Geimpften – und die Konsequenzen außer Acht lassen. Ich würde sagen: Es ist angemessen, Grundrechte einzuschränken, wenn der Gesundheitsschutz der Bevölkerung nicht anders garantiert werden kann; aber dann eben für alle und natürlich auch nur, wenn die Folgeschäden nicht überwiegen.

Sie befürchten gesellschaftlichen Unfrieden?

Genau. Ich befürchte, dass die Solidaritätsbereitschaft nachlässt, wenn die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden. Die Coronaschutzstrategie sollte erfolgreich zu Ende geführt werden. Wenn das gefährdet ist, ist das sehr wohl ein Argument dafür, nicht einseitige individuelle Freiheitseinschränkungen aufzuheben, die für andere noch gelten.

Könnten wir uns nicht einfach für andere freuen, dass sie ihre Grundrechte wieder haben, und uns noch etwas gedulden?

Stellen Sie sich doch vor, dass die Generation 60 plus, die bald durchgeimpft ist, wieder in Opernhäuser gehen kann oder in klassische Konzerte, aber junge Menschen dürfen noch ein halbes Jahr lang nicht in Rockkonzerte, weil sie noch keinen Impftermin haben. Das würde wohl kaum auf Akzeptanz bei den Jungen stoßen. Die Solidaritätsbereitschaft, die gerade auch junge Menschen in beeindruckender Weise zeigen, sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Lambrecht spricht sich dafür aus, Geimpfte mit Menschen gleichzustellen, die negativ auf das Virus getestet wurden. Damit könnten beispielsweise Kulturangebote an alle gemacht werden, nur müssten sich die Geimpften eben nicht mehr testen lassen. Wäre das okay?

Das wäre eine sinnvolle und gute Möglichkeit. Wenn ein negativer Schnelltest den Zugang zu einer Veranstaltung oder Dienstleistung bietet, können Geimpfte davon ausgenommen werden. Das wäre die richtige Reihenfolge! Diese Form von Ungleichbehandlung könnten die Bürgerinnen und Bürger sicherlich akzeptieren – solange genügend Schnelltests angeboten werden. Ich spreche mich lediglich gegen besondere Regelungen für Geimpfte aus, die nicht ausgeglichen werden können durch alternative Regelungen für Nichtgeimpfte. Dafür würde die gesellschaftliche Akzeptanz fehlen.

Also keine Ausnahmen bei Kontaktbeschränkungen oder Maskenpflicht?

Stellen Sie sich eine U-Bahn vor. Die eine Hälfte sitzt dort mit, die andere ohne Maske. Meinen Sie, dass dann alle Nichtgeimpften ihre Maske aufbehalten würden? Und die Vorstellung, dass das Sicherheitspersonal Impfpässe kontrollieren soll, ist doch absurd. Mal abgesehen davon, dass das vermutlich gar nicht zulässig wäre. Allgemeine Einschränkungen wie Maske tragen oder Abstand halten müssen wir im Sinne der Bereitschaft der Regelbefolgung eine Weile lang aufrechterhalten. Das ist sicher zumutbar. Aber für mich gibt es eine Ausnahme, die der Ethikrat auch in der Ad-hoc-Empfehlung benannt hat. In Pflegeheimen oder in Behindertenheimen sollten Isolationsmaßnahmen für Geimpfte so rasch wie möglich aufgehoben werden. Wenn ein Großteil der Menschen in den Heimen geimpft ist, dann sollten dort auch wieder Gemeinschaftsaktivitäten und Besuche ohne Einschränkungen möglich sein.

Warum sollte es da möglich sein und in anderen Bereichen nicht?

Diese Personengruppe war besonders großen Belastungen im Verlauf der Pandemie ausgesetzt. Wir hatten in der Vergangenheit Situationen, in denen Menschen in Heimen quasi isoliert waren. Solche Freiheitsbeschränkungen gehen weit über die Einschränkungen hinaus, die für andere gelten. Also dass man beispielsweise für eine bestimmte Zeit nicht ins Restaurant oder ins Kino gehen kann.

Was ich nicht genau verstehe: Es gibt doch auch die Vertragsfreiheit. Wenn eine private Fluggesellschaft etwa beschließt, nur geimpfte Menschen zu befördern, dann kann sie das sowieso machen, oder?

Auch bei der Vertragsfreiheit gibt es aber gewisse Grenzen. Man müsste prüfen, ob eine Vorlage eines Impfausweises rechtlich in Ordnung wäre – es geht ja um Gesundheitsdaten. Und es müsste überlegt werden, ob wir von staatlicher Seite proaktiv die Voraussetzungen dafür schaffen wollen, um das möglich zu machen. Ich gehe davon aus, dass es auch bei den Privaten heißt, Coronaschnelltest oder Impfung – unter der Voraussetzung, dass beides angemessene Sicherheit bietet. Auch die Impfung bietet ja keinen hundertprozentigen Schutz vor Infektionen.

Es gibt ja einen Teil der Bevölkerung, der an der Gefährlichkeit des Virus zweifelt. Von Anfang an wurde auf den „Querdenker“-Demos eine „Zwangsimpfung“ als Horrorszenario beschrieben. Wenn wir jetzt über Sonderrechte von Geimpften sprechen, ist das nicht ein indirekter Zwang?

Es wird jedenfalls genauso diskutiert, und viele Menschen sind verunsichert. Sogar in Pflegeheimen und Kliniken gibt es einen gewissen Teil des medizinischen Personals, der sich nicht impfen lassen will, obwohl er könnte. Auf diese Verunsicherung sollte nicht mit Zwang, sondern mit einer guten öffentlichen Informationskampagne reagiert werden. Es braucht ja eine Durchimpfungsrate von 80 bis 85 Prozent, wenn wir auf Dauer mit dem Virus leben müssen. Das werden wir nur erreichen, wenn wir das Gemeinschaftsgefühl stärken und nicht die einen gegen die anderen ausspielen.

Finden Sie, es sollte zumindest eine Impfpflicht für Pflegekräfte geben?

Aus guten Gründen wurde bislang auf eine Impfpflicht verzichtet. Wir sind gut beraten, auch weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen. Die Menschen müssen überzeugt werden, dass wir aus dieser Pandemie nur rauskommen, wenn wir uns alle impfen lassen. Eine direkte oder auch indirekte Impfpflicht würde Gegenreaktionen hervorrufen, und auch das könnte die Gesamtstrategie gefährden.

Was passiert denn mit Menschen, die sich partout nicht impfen lassen wollen?

Wenn wir auch so die notwendige Durchimpfungsrate erreichen, dann wird das wohl akzeptiert werden müssen.

Aber es kommt auf die Zahl an, oder? Wenn 50 Prozent der Bevölkerung sich nicht impfen lassen wollen, dann hätten wir ein Problem.

Ja, aber dagegen sollte präventiv vorgegangen werden. Wir brauchen eine vertrauenswürdige Gesamtstrategie, die klar kommuniziert wird, mit Impfangeboten für alle, kombiniert mit einer guten Teststrategie, und das alles flankiert durch eine gute öffentliche Aufklärung. Diesbezüglich ist noch deutlich Luft nach oben.

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