Kitas im Corona-Lockdown: Kinder ohne Lobby

Neben der Angst vor dem Virus herrscht nun der Wunsch nach einer neuen Normalität. Dabei brandmarkt man leicht die Schwächsten als Gefahr.

Ein Mädchen spielt in einer Kita mit bunten Bechern und Bauklötzen.

Die Öffnung der Kitas wirkt planlos – und wird Kinder und Erzieher*innen überfordern Foto: Uwe Anspach/dpa

Zunächst die Bitte, die Erinnerung an Ihre Kindheit aufzufrischen. Wissen Sie noch, wie das war damals, mit vier oder fünf? Als Sie sehnsüchtig um Schokolade, wahlweise Ihre Lieblingsfernsehsendung bettelten? Und auf „übermorgen“ vertröstet wurden, was begrifflich Ihr Zeitvorstellungsvermögen überstieg?

Um dann abends heimlich durchs Schlüsselloch zu erspähen, dass das Sich-in-Geduld-Üben für Erwachsene offenbar nicht galt (Schokolade und Chips bei laufendem Fernseher plus Füße auf dem Couchtisch)? Das Ohnmachtsgefühl. Die Entrüstung. Über die Erkenntnis, dass „die Großen“ durften, worauf „wir Kinder“ verzichten sollten. Was blieb, war ein Versprechen: Wenn wir groß sind, behandeln wir Kinder fair, immer.

Und heute? Müssen wir uns dank Corona, diesem Virus, das den Blick aufs Wesentliche schärft, eingestehen: In der Pandemie haben wir, die es besser machen wollten, den Kindern gegenüber versagt. Und dabei geht es um mehr als Banalitäten: Seit zehn Wochen, was sich im kleinkindlichen Zeithorizont wie lebenslänglich anfühlt, sind Kindergartenkinder von ihren Gemeinschaftseinrichtungen ausgesperrt und in die häusliche Isolation gezwungen; für Millionen von Schülerinnen und Schülern stellt sich die Lage – mit Ausnahmen – ähnlich desaströs dar (wohl dem, der wenigstens Geschwister hat).

Während Erwachsene sich allmählich erlauben, tagsüber in ihre Büros zu ihren Kollegen zurückzukehren, abends gesellig im Restaurant zu sitzen und wochenends mit Freunden durch Möbelhäuser zu schlendern, sehen sie für Kinder, die ohne soziale Kontakte und Interaktion mit Gleichaltrigen seelisch wie körperlich verkümmern, weiterhin die Verbannung in die Einsamkeit vor. Und reden sich dies schön mit dem (kurzsichtigen) Argument, Kitas und Schulen seien ökonomisch bedeutungslos, verglichen mit Baumärkten, Autohäusern, der Bundesliga.

Die schrittweise Öffnung der Kitas kommt viel zu spät

Das ist nicht bloß bestürzend. Es ist ein Vergehen an den Kindern. Seit Monaten werden sie, die bei einer Coronavirusinfektion viel weniger schwer erkranken als Erwachsene, nicht zu ihrem eigenen Schutz weggesperrt, sondern einzig – wie rechtlose Wesen – zum Schutz Dritter. Die Folgen – Verhaltensänderungen, Entwicklungsverzögerung, Gewichtszunahme, Leistungsverweigerung – sind bekannt.

Der internationale Forschungsstand deutet nun, Mitte Mai 2020, darauf hin, dass das Risiko der Übertragung durch jüngere Kinder, anders als bei der Grippe, eher gering ist und dass die Auswirkungen von Kita- und Schulschließungen auf die Dynamik der Infektionsausbreitung wahrscheinlich ebenfalls überschaubar sind. Aber das interessiert kaum.

Die schrittweise Öffnung der Kitas ab dem 8. Juni, die jetzt manche Länder in Aussicht stellen, kommt nicht bloß zu spät. Sie wirkt plan- und konzeptlos, was auch daran liegt, dass die Regeln für die Rückkehr in einen kindgerechten Betreuungsalltag unter Pandemiebedingungen weitgehend von den einzelnen Institutionen festgelegt werden müssen; Chaos und Überforderung sind vorprogrammiert.

Echt jetzt: Soll das die Kindheitserinnerung sein, die wir den heute Vier- und Fünfjährigen mitgeben wollen für ihr Leben?

Den Kindern indes fehlt die Lobby. Zu den wenigen Stimmen, die sich von dem Chor der Gleichgültigkeit gegen ihre missachteten Bedürfnisse abheben, zählen die Kinder- und Jugendmediziner. Derweil beschränkt sich die Bundesfamilienministerin auf Appelle, verweist die Bundesbildungsministerin auf die Zuständigkeit der Länder und haben Gewerkschaften den Schutz des Lehr- und Erziehungspersonals im Blick.

Warum? Es liegt eine bizarre Stimmung, ein Mix aus immer noch großer Angst vor dem Virus bei zugleich wachsendem Bedürfnis nach Normalität über dem Land. In dieser Gemengelage ist es leicht, die Schwächsten als Gefahr zu brandmarken und so – bei allem sonstigen Öffnungsfieber – das Gewissen damit zu beruhigen, dass man ja etwas getan habe zur Eindämmung der Pandemie. Echt jetzt: Soll das die Kindheitserinnerung sein, die wir den heute Vier- und Fünfjährigen mitgeben wollen für ihr Leben?

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Heike Haarhoff beschäftigt sich mit Gesundheitspolitik und Medizinthemen. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einem Kinderheim bei Paris ab 1989 Studium der Journalistik und Politikwissenschaften an den Universitäten Dortmund und Marseille, Volontariat beim Hellweger Anzeiger in Unna. Praktika bei dpa, AFP, Westfälische Rundschau, Neue Rhein Zeitung, Lyon Figaro, Radio Monte Carlo, Midi Libre. Bei der taz ab 1995 Redakteurin für Stadtentwicklung in Hamburg, 1998 Landeskorrespondentin für Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern und von 1999 bis 2010 politische Reporterin. Rechercheaufenthalte in Chile (IJP) und den USA (John McCloy Fellowship), als Stipendiatin der Fazit-Stiftung neun Monate Schülerin der Fondation Journalistes en Europe (Paris). Ausgezeichnet mit dem Journalistenpreis der Bundesarchitektenkammer (2001), dem Frans-Vink-Preis für Journalismus in Europa (2002) und dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse (2013). Derzeit Teilnehmerin am Journalistenkolleg "Tauchgänge in die Wissenschaft" der Robert Bosch Stiftung und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

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