Aus Le Monde diplomatique: Tödliche Sanktionen in Iran
Die Corona-Krise trifft Iran besonders heftig. Dazu trägt auch das von den USA verhängte Einfuhrverbot für medizinisches Material bei.
Zum ersten Mal seit fast 60 Jahren hat Iran am 12. März den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe gebeten und die sofortige Freigabe von 5 Milliarden Dollar beantragt. Der iranische Außenminister Mohammed Dschawad Sarif erklärte, sein Land brauche diese Mittel für den Kampf gegen das Coronavirus. Am selben Tag kündigte der Sprecher des Ministers, Sayed Abbas Mussawi, auf Twitter einen Brief an den UN-Generalsekretär an, „der die Notwendigkeit unterstreicht, alle einseitigen und illegalen Sanktionen der USA gegen Iran aufzuheben“.
Iran ist nach China und Italien am schlimmsten von der Pandemie betroffen. Bis zum 18. März gab es 18.663 Fälle und 1.213 Tote. Das sind allerdings nur die bestätigten Fälle, die Dunkelziffer liegt viel höher. Der erste Fall wurde am 19. Februar bekannt, der Ursprung der Krankheit in Iran ist nicht geklärt. Manche beschuldigen die Fluggesellschaft Mahan Air, die im Februar weiterhin chinesische Flughäfen ansteuerte. Andere machen einen iranischen Händler verantwortlich, der in China unterwegs war. Auch die chinesischen Schüler der Koranschule von Ghom stehen unter Verdacht.
Die offiziellen Statistiken zeigen, dass die Zahl der Covid-19 zugeschriebenen Todesfälle täglich steigt. Seit dem 8. März hat sich die Sterblichkeitsrate im Verhältnis zu den bestätigten Fällen mehr als verdoppelt und ist von 2,5 auf 6,5 Prozent gestiegen. Mehrere Abgeordnete halten die offiziellen Zahlen für weit untertrieben.
Das Gesundheitssystem ist heillos überfordert. Und es besteht kein Zweifel, dass die US-Sanktionen ihren Teil dazu beitragen. „Wenn man einem Land 40 Prozent seiner Einnahmen raubt, indem man es hindert, sein Erdöl und Erdgas zu exportieren, ist das Gesundheitssystem zwangsläufig betroffen“, fasst der Ökonom Thierry Coville zusammen.
Einfuhrverbot für medizinisches Material
Mit der Schweiz als Vermittler hatte Donald Trump zwar Ende Februar humanitäre Hilfe angeboten, allerdings ohne konkrete Vorschläge zu machen. „Sie müssen einfach nur darum bitten“, behauptete er. Der iranische Präsident Hassan Rohani antwortete am 4. März, wenn die USA dem Iran wirklich helfen wollten, sollten sie die Sanktionen gegen das Land aufheben, vor allem das Einfuhrverbot für medizinisches Material.
Frankreich, Deutschland und Großbritannien haben am 2. sowie am 16. März symbolische Unterstützung geleistet, indem sie Ausrüstung für Labortests sowie weitere Ausstattung wie Schutzanzüge und Handschuhe lieferten. Die größte Hilfe kommt jedoch aus China, das Experten und von chinesischen Spendern bezahlte Solidaritätskonvois geschickt hat. Der chinesische Präsident Xi Jinping erklärte am 14. März, China werde weiterhin im Rahmen seiner Möglichkeiten Hilfe leisten, um Iran bei der Eindämmung der Epidemie zu unterstützen.
Im Kampf gegen das Virus steht das medizinische Personal an vorderster Front. Ärztinnen und Pfleger arbeiten unter sehr schwierigen Bedingungen, denn es mangelt an allem. Einige von ihnen haben sich bei der Pflege von Kranken selbst angesteckt und sind gestorben. In den soziale Netzwerken teilen die Iraner millionenfach Posts, um ihnen zu gedenken.
Seit ein paar Tagen werden im Internet Videos verbreitet, in denen medizinisches Personal in OP-Kitteln und mit Mundschutz zu traditioneller Musik oder iranischem Pop tanzen. Mehrere Videos sind mit den Hashtags #tchalech-e_raqs (Tanz-Herausforderung) oder #corona_ra_chekast_midahim (wir werden Corona besiegen) versehen.
Gedränge auf Teherans Straßen
In Teheran hat die Bevölkerung die staatlichen Anweisungen nicht immer befolgt. Der Zuständige für die Bekämpfung des Virus in der Hauptstadt erklärte am 14. März: „Obwohl wir die Bevölkerung vor der Verbreitung des Coronavirus gewarnt haben, beobachteten wir heute in Teheran ein Gedränge wie selten.“
Mit einem strengen Maßnahmenkatalog sollen landesweit „die Geschäfte, die Straßen und die Autobahnen geleert werden“, wie Generalstabschef Mohammad Hossein Bagheri in einer Fernsehansprache verkündete. Eine neu geschaffene Kommission soll die Durchsetzung des Beschlusses überwachen.
Bereits am 12. März rief der oberste Führer Ajatollah Ali Chamenei alle bewaffneten Kräfte im Kampf gegen Covid-19 auf den Plan. Sie sollen vor allem die Bewegung der Menschen kontrollieren, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Städte. Die sichtbare Präsenz der Revolutionsgarden und der Armee, etwa beim Versprühen von Desinfektionsmitteln, scheint aber auch der Imagepflege zu dienen. Nach der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen die Benzinpreiserhöhung im November 2019 hatte ihre Ansehen stark gelitten.
Die Krankheit, die Quarantäne, das Runterfahren des öffentlichen Lebens belasten die iranische Bevölkerung, die schon vor der Corona-Krise unter Druck stand. Tausende Geschäfte sind geschlossen, in vielen Werkstätten und Unternehmen wird nicht mehr gearbeitet. Vielen Menschen brechen die Einnahmen weg.
Kredite mit 4 Prozent Zinsen
Das Hilfsprogramm der Regierung besteht darin, Bauarbeitern, Saisonkräften, Tagelöhnern, Händlern, Taxifahrern und Angestellten in der Gastronomie einen Kredit von ein bis 2 Millionen Toman (66 bis 120 Euro) anzubieten, zurückzuzahlen mit 4 Prozent Zinsen. Davon werden ungefähr drei Millionen Familien profitieren. Wer gar keine Einnahmequellen hat, erhält Gutscheine über 200.000 Toman (15 Euro) pro Monat für eine Einzelperson und bis zu 600.000 Toman (40 Euro) für Familien mit fünf oder mehr Personen. Am 16. März hat die einflussreiche Bonyad-e Mostazafan, die „Stiftung für Besitzlose“, angekündigt, jeweils 1 Million Toman an 4.000 Händler im Süden Teherans zu zahlen.
Das alles ist jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Hilfsmaßnahmen für die bedürftigen Bevölkerungsschichten werden dem Ausmaß der Katastrophe bei Weitem nicht gerecht. Die iranische Wirtschaft ist durch Trumps Politik des „maximalen Drucks“ und durch die grassierende Korruption geschwächt. Allein die Vermögenden und Großunternehmer können aufatmen, ihnen wurden für dieses Jahr Steuersenkungen versprochen.
Iran. Theokratie und Republik
Willkommen im Land der Widersprüche: Eine Theokratie, in der der Anteil der Geistlichen im Parlament nur noch bei 6 Prozent liegt, mit einer Kleiderordnung für Frauen, die die Mehrheit der Bevölkerung ablehnt und Berufsverboten für Regisseure, deren internationale Preise in staatlichen Museen ausgestellt werden.
112 farbige Seiten, broschiert
Auch wenn das Virus selbst keine sozialen Unterschiede kennt und die Krankheit jeden treffen kann – die Folgen sind für die benachteiligten Schichten viel härter. Für Menschen, die ohnehin kaum über die Runden kommen, ist es auch viel schwieriger, die Hygiene-Vorschriften einzuhalten. Trotz empfohlener Quarantäne sind zum Beispiel tausende Lieferanten unterwegs und versorgen jene, die es sich leisten können, zu Hause zu bleiben. Jeden Tag werden zudem Verkäufer von Hehlerware verhaftet. Der für Wirtschaftssicherheit zuständige Polizeichef meldete, dass allein am 14. März im ganzen Land mehr als 16 Millionen gestohlene sanitäre Hilfsmittel (Handschuhe, Desinfektionsmittel, Masken usw.) konfisziert wurden.
In der jetzigen Situation kommt die von den USA verhängte Blockade, vor allem für sanitäre Produkte, endgültig einem Verbrechen gleich. Wie groß ist die Chance, dass der IWF positiv auf den iranischen Antrag reagiert? Kann er Iran überhaupt ohne die Zustimmung aus Washington helfen? Wie werden die großen internationalen Organisationen und die anderen Länder reagieren, die selbst mit der Pandemie beschäftigt sind? Wer wagt es, in diesen Zeiten einer nie dagewesenen Gesundheitskrise die USA herauszufordern? In Iran ist die Situation außer Kontrolle.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin