Kurswechsel in der SPD: Die Mitte tickt ökosozial

Mehr Klimaschutz und mehr staatliche Investitionen, das ist nicht links, sondern einfach nur vernünftig. Die neue SPD-Spitze hat das verstanden.

Spaziergänger unter einem Durchgang

Sonntagsspaziergang über den Bremerhavener Weserdeich Foto: Stengel/imago

Für manche sind die neuen SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans so etwas wie der personifizierte Weltuntergang. Die SPD gebe sich auf, urteilt etwa die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, kurz FAS. „Für Deutschland ist das ein politisches Erdbeben.“

Ein Großteil der veröffentlichten Meinungen sieht es ähnlich. Gerade liberalkonservative JournalistInnen überbieten sich mit apokalyptischen Deutungen des angeblichen Linksschwenks der Sozialdemokratie. Das sind durchschaubare Versuche, die Neuen unmöglich zu machen.

Schauen wir auf die Inhalte, die das frisch gewählte Duo vertritt. Esken und Walter-Borjans fordern engagierteren Klimaschutz mit einem höheren CO2-Preis und mehr Kompensationen für Niedrigverdiener. Sie wollen den Mindestlohn auf 12 Euro anheben und ein milliardenschweres Investi­tionsprogramm des Staats auflegen, für Brücken, Bahnstrecken oder Bildung.

Ähnliches findet sich auch bei Grünen und Linken. Und die Parteien sind nicht allein. Viele Klimaforscher, Ökonomen und Verbände raten dasselbe. Ein solches Programm ist nicht naiv oder radikalutopistisch. Es ist einfach nur vernünftig – und auf Augenhöhe mit den Herausforderungen der Zeit.

Abschied von der Scholz-Heil-Linie

Der Bundesverband der Deutschen Industrie forderte kürzlich staatliche Investitionen von 450 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren, Seit’ an Seit’ mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Es würde die Infrastruktur, von der alle profitieren, aufwerten – und die rezessionsbedrohte Wirtschaft ankurbeln. Beide Organisationen, BDI und DGB, sind kommunistischer Umtriebe bisher unverdächtig.

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Jene, die eine linkere SPD verhindern wollen und gleichzeitig für sich in Anspruch nehmen, für die bürgerliche Mitte zu sprechen, haben das Gefühl für die wahre Mitte der Gesellschaft verloren. Sie wenden Denkschablonen der 1990er Jahre auf das 21. Jahrhundert an, was kognitiv vielleicht nachvollziehbar ist, aber scheitern muss.

Gerhard Schröder und Tony Blair unterwarfen die Sozialdemokratie der Marktgläubigkeit, als sie 1999 ihr Konzept der „Neuen Mitte“ propagierten. Die darauf folgende Agendapolitik, dieser Verrat an ihrer Wählerschaft, verfolgt die SPD bis heute, trotz vieler, oft kleinteiliger Reparaturen in den Großen Koalitionen unter Merkel.

Klimaschutz wird von vielen als zukunftsichernde Megaaufgabe begriffen. Der dauerhafte Erfolg der Grünen zeigt dies

Wenn Esken und Walter-Borjans es wirklich schaffen, eine Abkehr von der Scholz-Heil-Linie zu verkörpern, kleine Geländegewinne als maximale Erfolge zu verkaufen, wäre das eine große Chance für die SPD. Ihre Inhalte weisen in die richtige Richtung, auch weil sie keineswegs radikal, sondern mehrheitsfähig sind. Denn die neue Mitte tickt ökosozial.

Klimaschutz wird von vielen Menschen endlich als die zukunftsichernde Megaaufgabe begriffen, die er ist. Der dauerhafte Erfolg der Grünen zeigt dies. Die Deutschen sind auch viel solidarischer, als Christian Lindner, FAS und Co. glauben.

Die Grundrente finden zwei Drittel der Deutschen richtig, übrigens auch eine Mehrheit der Union-Anhänger. 80 Prozent der BürgerInnen heißen einen Mindestlohn von 12 Euro gut, selbst 72 Prozent der Union-WählerInnen sehen das so. Ein höherer Mindestlohn ist also nicht links, sondern Mitte im besten Sinne. Die ganze Gesellschaft findet es falsch, dass zehn Jahre Wirtschaftswachstum nicht dazu geführt haben, dass man von seiner Arbeit leben kann.

Esken und Walter-Borjans haben das verstanden, die Grünen und ihre Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck auch. Auf seine sehr eigene Art sogar Markus Söder, der inzwischen die Grünen als Hauptgegner sieht statt der AfD. Der Bayer hat erkannt, dass eine nach rechts gerückte Union mehr WählerInnen in der Mitte verlöre, als sie vom rechten Rand zurückgewinnen könnte. Entsprechend streicht er seine CSU grün an.

Wer Klimaschutz ignoriert, auf den unregulierten Markt setzt und Bedürfnisse schlecht verdienender Menschen geringschätzt, der steht nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern läuft Gefahr, sich zu isolieren. Das ist doch erst mal eine gute Nachricht.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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