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„Ich bin gegen Pflichtprogramme“

Wenn die letzten Zeitzeugen sterben, verändert sich das Erinnern. Der Historiker Norbert Frei erklärt, wie es dennoch gelingt

Lesezimmer in Ludwigsburg: Hier haben Forscher, Anwälte und Angehörige Akteneinsicht Foto: Boris Schmalen­berger

Interview Jan Pfaff

taz am wochenende: Herr Frei, gegen die letzten lebenden NS-Täter wird momentan ermittelt, letzte Prozesse werden vorbereitet. Welche Bedeutung haben diese Verfahren?

Norbert Frei: Für unser Geschichtsbewusstsein hat das sicher nicht mehr die Bedeutung wie der ­Auschwitz-­Prozess 1963/65 in Frankfurt am Main oder der lange Maidanek-Prozess in Düsseldorf 1975/81. Der Prozess gegen John Demjanjuk, der als ehemaliger Wachmann des Vernichtungslagers Sobibór 2011 verurteilt wurde, wird in diesem Sinne das letzte große Verfahren gewesen sein. Aber es geht um das juristische Faktum, dass Mord nicht verjährt – und deshalb muss ermittelt und, falls die Beweise hinreichen, angeklagt werden.

Die deutsche Justiz hat sich lange Jahre nicht besonders energisch um NS-Verbrecher gekümmert.

Das ist richtig, und deshalb ist es für das gewandelte Selbstverständnis der Justiz von großer Bedeutung, dass zumindest jetzt zum Schluss alles, was rechtlich geboten ist, auch noch gemacht wird. Ganz unbeeindruckt davon, dass rechte Populisten, wie schon so oft, nach einem Schlussstrich rufen.

In dieser Woche wurde das Gnadengesuch des 96-jährigen SS-Manns Oskar Gröning von der Staatsanwaltschaft Lüneburg abgelehnt. Er soll jetzt zeitnah seine Haftstrafe antreten. Die richtige Entscheidung?

Das kann ich aus der Ferne schwer beurteilen. Aber zum einen kann sich Gröning noch an die Justizministerin des Landes wenden, zum anderen ist entscheidend, dass ermittelt wurde, dass es ein Verfahren gegeben hat und dass Recht gesprochen wurde. Die Frage des Strafmaßes und des Strafantritts ist angesichts von Grönings Alter meines Erachtens eher von sekundärer Bedeutung.

Sowohl die Täter als auch die Holocaust-Überlebenden sind heute meist über 90 Jahre alt. Wie verändert sich unser Erinnern an die NS-Vergangenheit, wenn es bald keine Menschen mehr gibt, die davon aus eigener Erfahrung berichten können?

Dieses Verschwinden der Zeitzeugen ist ein Prozess, der schon länger andauert – und der deshalb auch schon länger Einfluss auf die Geschichtsschreibung und unsere Formen des Gedenkens nimmt. Wir werden aber weiterhin alle Möglichkeiten der Vergegenwärtigung haben. Es ist ja alles da: autobiografische Texte, Videointerviews, Gesprächsprotokolle, Dokumen­te. Mit den letzten Zeitzeugen verschwinden nicht deren Zeugnisse und leeren sich nicht die Archive.

Aber die direkte Begegnung hat eine andere Eindrücklichkeit. Wenn ein Auschwitz-Überlebender jungen Menschen die Nummer auf seinem Arm zeigt, macht das etwas mit ihnen.

Das glaube ich auch. Aber dass diese Form des Erinnerns eine natürliche Grenze hat – das wussten wir schon immer. Ich bin zuversichtlich, dass wir in der pädagogischen Arbeit mit jüngeren Menschen Wege finden, andere Formen von Eindrücklichkeit herzustellen. Zum Beispiel, indem man mit ihnen ein einzelnes Dokument, etwa den Abschiedsbrief eines Deportierten, aufmerksam liest und analysiert.

Was ist dabei wichtig?

Der Historiker Saul Friedländer hat von dem Moment der Fassungslosigkeit gesprochen, der trotz aller gründlichen Analyse erhalten bleiben muss. Und ich bin überzeugt, dass es bei der Beschäftigung mit einer gut geeigneten Quelle – sei sie gedruckt oder ein Filmausschnitt – sehr wohl möglich ist, diese Fassungslosigkeit zu empfinden.

Vor Kurzem gab es eine Debatte darüber, ob man den Besuch eines Konzentrationslagers für alle Schüler in Deutschland zur Pflicht machen soll.

Ich bin gegen Pflichtprogramme. Ich glaube auch nicht, dass man damit viel erreicht. Entscheidend dafür, ob der – selbstverständlich wünschenswerte – Besuch in einer Gedenkstätte bei jungen Menschen etwas auslöst oder nicht, ist die Vorbereitung durch die Lehrerinnen und Lehrer. Und wie die jungen Leute dann dort betreut werden. Wenn das nur leere Routine ist, soll man es lieber lassen. Patentrezepte gibt es nach meiner Erfahrung bei der Beschäftigung mit dem Holocaust allerdings nicht.

Welche Fehler müssen wir vermeiden?

Wir müssen den alten Männern und den jungen Frauen, nicht nur in der AfD, entgegentreten, die einen allgemeinen Überdruss an der Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit behaupten und sich als Autoritäten für die besseren Teile der deutschen Geschichte gerieren. Wir müssen uns mit dem Gerede vom „Schuld­kult“ auseinandersetzen. Diese Position ist ja nicht neu, aber jetzt wird sie von einer im Bundestag vertretenen Partei artikuliert. Das ist noch mal ein Unterschied.

Foto: privat

Norbert Frei62, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Schwerpunkt seiner Forschung ist der Nationalsozialismus und seine Aufarbeitung im Nachkriegsdeutschland.

Verschiebt sich die erinnerungspolitische Debatte dadurch, dass die AfD jetzt mehr Aufmerksamkeit bekommt?

Jedenfalls sind die Stimmen der Krawallmacher wieder lauter geworden. Zwar hat es solche Forderungen nach einen „Schlussstrich“ schon immer gegeben. Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zur NS-Zeit bekommen sie aber wohl leichter die Zustimmung von Menschen, die über diese Themen nicht tagtäglich nachdenken. Wir sollten solchen Parolen nicht nur mit moralischer Empörung begegnen: Man darf auch ruhig darauf hinweisen, dass gerade die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaft trotz mancher Rückschläge im Laufe der Jahrzehnte immer wieder kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt hat, Deutschland in der Welt Respekt und neues Ansehen eingebracht hat.

Wird den Schlussstrich-Forderungen im Moment genug entgegengesetzt?

Entscheidend ist, dass das nicht nur in ein paar Zeitungskommentaren und im Bundestag geschieht, sondern auch im Alltag. Dass in den Schulen, in den Betrieben – überall dort, wo solche Positionen formuliert werden –, klar und deutlich widersprochen wird. Das soll man nicht nur der Politik und den Geschichtsexperten überlassen. Die AfD will mit ihren Provokationen zwar vor allem die eigene Anhängerschaft binden, aber sie verschiebt damit auch die Grenzen des Sagbaren.

Was empfehlen Sie als Historiker dagegen?

Die beste Immunisierung gegen solche Versuche ist historisches Wissen, vor allem reflektiertes Wissen. Das heißt, dass junge Menschen nicht nur ein paar Fakten aufzählen oder vermeintlich von ihnen erwartete Emotionen aufrufen können sollten, sondern dass ihre Beschäftigung mit unserer Geschichte getragen sein sollte von intellektueller Durchdringung der Zusammenhänge und auch von ethischer Reflexion. Wenn das gelingt, wenn Menschen aus eigenem Antrieb über die Verbrechen der NS-Zeit nachdenken, sind sie leichter in der Lage, Parolen entgegenzutreten, wie die AfD sie verbreitet.

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