Zwischen Pandemie und Endemie: Das Virus wird bleiben
Das Spahn-Ministerium sagt, dass wir uns im Übergang von einer Pandemie zu einer Endemie befinden – und bald die Normalität zurückkehrt. Doch stimmt das?
H erdenschutz, besser bekannt als Herdenimmunität: Laut Robert Koch-Institut „der Effekt, dass ein gewisser Anteil immuner Individuen innerhalb einer Population (entstanden durch Impfung oder auskurierte Infektionen) auch nichtimmunen Personen einen relativen Schutz bietet“.
Herdenimmunität klang für den britischen Premier Boris Johnson im vergangenen Jahr paradoxerweise gerade angesichts fehlender Impfmöglichkeiten wie die beste Lösung, um der Sars-Cov-19-Epidemie Herr zu werden: Wenn sich ein signifikanter Teil der Bevölkerung angesteckt und die Krankheit überlebt haben würde, wäre das Problem gelöst.
Als das britische Gesundheitssystem bald darauf vor dem Kollaps stand, merkte Johnson, dass das Ziel nur durch eine schnelle Impfkampagne erreicht werden kann. Überall galt die Erreichung von Herdenschutz als das Mittel, um der Pandemie Herr zu werden. Man müsse nur 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung impfen, und die Krise wäre gemeistert. Dachte man, bis eben.
Denn es kamen die neuen Virusvarianten – so ein Virus mutiert schneller, als ein Gesundheitsminister „Herdenimmunität“ sagen kann –, und immer mehr Hinweise darauf, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können. Was das für das Ziel des Herdenschutzes bedeutet, dringt aber erst so langsam durch.
Am Mittwoch kursierten Passagen aus einem Papier des Gesundheitsministeriums, das ein Szenario für die kommenden Monate entwirft. Die wichtigsten Punkte: Eine vierte Welle sei bereits zu spüren, wieder müsse es darum gehen, die Kurve möglichst flach zu halten. Verstärkte Anstrengungen zur weiteren Steigerung der Impfquote seien das Gebot der Stunde. Einen „so einschneidenden Lockdown“ wie in der zweiten und dritten Welle werde es wohl nicht mehr geben. Maskenpflicht werde bis Frühjahr 2022 besonders in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Einzelhandel aber auch für Geimpfte und Genesene notwendig bleiben.
2G statt 3G
Lauten Widerspruch erntete eine andere Überlegung aus dem Hause Spahn: „Insbesondere für ungeimpfte Personen können erneut weitergehende Einschränkungen notwendig werden.“ Dazu zähle der „Ausschluss von der Teilnahme nicht geimpfter Personen an Veranstaltungen und in der Gastronomie (‚2G statt 3G‘)“. Heißt: Genesene und Geimpfte dürfen rein, Getestete nicht. Außerdem sei eine dauerhafte Übernahme der Kosten für alle Tests durch den Bund „nicht angezeigt“.
Dietmar Woidke, SPD-Ministerpräsident in Brandenburg, widersprach: „Niemand soll vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden.“ Linken-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow bezeichnet den Vorschlag als „schlicht asozial“. Solange es eine Testpflicht gebe, müsse es auch kostenlose Tests geben. (Letzteres kann man fordern, aber als Linkenvorsitzende sollte man die politische Terminologie schon im Griff haben: Die Nazis steckten alleinerziehende Mütter, Obdachlose, Alkoholkranke und andere als „Asoziale“ in Konzentrationslager.)
Es ist richtig, dass über diese Fragen gestritten wird. Merkwürdig ist aber, dass diesem Satz im Spahn-Papier keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde: „Deutschland befindet sich aktuell in der Übergangsphase vom pandemischen in ein endemisches Geschehen. Die Brücke raus aus der Pandemie zurück in die Normalität ist zwar beschritten, aber noch nicht ganz überquert.“ Endemie ist normal? Mit „Endemie“ wird laut RKI ein „ständiges (zeitlich unbegrenztes) Vorkommen einer Krankheit oder eines Erregers in einem bestimmten Gebiet oder einer bestimmten Bevölkerung“ bezeichnet.
Herdenimmunität jetzt unwichtig?
Dass das Virus demnächst verschwinden wird, ist seit einer Woche laut eines Papiers des amerikanischen Center for Disease Control schon allein deswegen unwahrscheinlich geworden, weil sich Erkenntnisse darüber häuften, dass mit der Deltavariante infizierte Geimpfte das Virus genauso leicht weitergeben können wie Ungeimpfte. Gesundheitsbehörden müssten anerkennen: „The war has changed.“
Der Epidemiologe Jeffrey Shaman erklärte, was das bedeutet: Das Ziel der Herdenimmunität sei „irrelevant“ geworden, weil Herdenimmunität ja auch die Nichtgeimpften vor Ansteckung schützen soll. Das wiederum heißt, wer sich impfen lässt, tut der Allgemeinheit möglicherweise vor allem insofern einen Dienst, als er aller Wahrscheinlichkeit nach keine Intensivbehandlung in Anspruch nehmen muss.
Derweil wundern sich in Großbritannien Experten darüber, dass die Infektionszahlen sinken, obwohl Boris Johnson am 19. Juli fast alle Corona-Restriktionen zurücknahm. Das könnte an der hohen Impfquote, der Ferienzeit und Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Supermärkten liegen. Spätestens seit dieser Woche ist aber eines sicher: Die Endemie wird bis auf Weiteres unsere Normalität sein.
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