Zukunft für die junge Generation: Was wäre, wenn Odysseus ein Smartphone gehabt hätte?
Zurück nach Ithaka wäre mit Google Maps schneller gegangen. Aber um nach Hause zu kommen, müssen wir uns auf das Ungewisse einlassen, gerade jetzt.
W enn Odysseus ein Smartphone gehabt hätte, dann wäre er nach seinem zehnjährigen Arbeitsaufenthalt vor Troja nicht noch zehn Jahre durch die Gegend geirrt, bevor er endlich wieder in Ithaka bei seiner wunderbaren Penelope war. Mit Auto und Fähre hätte er das laut Google Maps sogar in 14 Stunden, 3 Minuten schaffen können.
Aber wo ein Vorteil ist, ist auch ein Nachteil, wie Fußballlegende Johan Cruijff zu sagen pflegte. Hätte Odysseus ein Smartphone gehabt, dann wäre er ausspioniert und monetarisiert worden von den Silicon-Valley-Milliardären, und ständig hätte man ihm personalisierte Werbung reingespielt.
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Auf Twitter hätten ihn Priamos’ Bots so kirre gemacht, dass er auf die Idee mit dem trojanischen Pferd womöglich gar nicht gekommen wäre – auch weil er mit Paris’ Angeber-Tweets so beschäftigt gewesen wäre und mit Filmchen der tanzenden und kochenden sexy Tradwife Helena. Dann hätte er auch noch täglich Selfievideos drehen müssen, garniert mit seinen schlauen Sprüchen, was heute im Krieg so los war und wen er gerade ertränkt oder wessen Pferde er erbeutet hatte. Zwischendurch hätte er bei Insta zusehen müssen, wie sich zuhause in seinem Palast immer mehr Freier an Penelope ranmachen, was sicher auch nicht schön gewesen wäre.
Vor allem aber hätte Odysseus, so las ich gerade bei dem populären Philosophen Arno Frank, durch eine schnelle Rückkehr eben auch eine ganze Menge verpasst. Das Jahr mit der sexuell sehr aktiven Circe selbstverständlich, die lebensgefährliche Blendung des Kyklopen Polyphem, das Jahrhundertkonzert der Sirenen, die geile Abenteuerfahrt zwischen Skylla und Charybdis und noch vieles mehr. Bestimmte und für ein gelingendes menschliches Leben auch essentielle Dinge, so verstehe ich Frank, gibt es nur im Offenen und Ungewissen.
Leben bis weit ins 21. Jahrhundert und darüber hinaus
Und damit zur Moral meiner Geschichte: Ich bin ja eher der Typ, der auf Sicherheit und Planbarkeit steht, auf ein festes Zuhause und dass alle am Ende des Tages wieder da sind. Morgens einen Kaffee, abends Netflix. Einem Kyklopen würde ich nur sehr ungern eine glühende Pfahlspitze in sein einziges Auge reinrammen. Erstens aus einer pazifistischen Ethik heraus, zweitens wegen technischer Unbeholfenheit. Aber wenn der Typ sechs meiner Leute aufgefressen hätte, wie es Polyphem tat, dann würde ich das halt machen, bevor er die anderen auch noch auffrisst – oder gar mich. Zumindest würde ich die Bundeswehr so ausrüsten, dass die das im Notfall übernehmen könnte.
Was ich eigentlich sagen will: Ich fürchte, wir sind in der Bundesrepublik und in Europa in einer Lage, in der wir uns – selbstverständlich ohne die soziale Frage zu vergessen – auf das Offene und Ungewisse einlassen müssen, um wieder nach Hause zu kommen. Das kann nicht das alte Zuhause sein, weil es das schon jetzt nicht mehr gibt.
In Deutschland scheint das noch abstrakt, aber in Los Angeles gilt das furchtbarerweise sehr konkret. Es wird also ein renoviertes Zuhause sein, in einer Wissensgesellschaft, mit einer renovierten Wirtschaft, einer renovierten Politik und Alltagskultur, mit Balkonkraftwerken, autofreien Lebensräumen und allem Pipapo. Es wird auch Ungewissheit geben müssen, die wir nicht gewohnt sind und zu deren Abwehr wir das furchtbare Wort „Zumutung“ erfunden haben.
Die größte Zumutung scheint die Zukunft zu sein. Dabei ist der abstrakte Begriff Zukunft – ich folge hier dem Soziologen Aladin El-Mafaalani – nur ein anderes Wort für die am meisten vernachlässigte Minderheit dieser Gesellschaft: alle, die bis weit ins 21. Jahrhundert und darüber hinaus leben werden, also Kinder, Jugendliche, Gen Z. Im Moment ist vor allem deren Zukunft geschlossen. Sie brauchen jetzt unsere Offenheit.
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