Zerbrochene Freundschaften im Jahr 2024: In Zeiten der Dunkelheit
Viele Freundschaften sind in diesem Jahr zerbrochen. Zurück bleiben jede Menge Fragen und das Gefühl von Verlorenheit und Verzweiflung.
E s war ein schwieriges Jahr für Freundschaften. 2024 sei sein Adressbuch um 98 Prozent geschrumpft, sagte vor ein paar Tagen ein Freund aus London, dem es nicht gut geht. Ich dachte kurz, 98 Prozent, das ist aber sehr viel. Aber ich schwieg. Ich hatte gelernt, dass 2024 auch bedeutet, einfach mal nichts zu sagen, sondern einfach zuzuhören, die Position des anderen gelten zu lassen und vielleicht sogar zu verstehen.
Ob das alles antisemitische Gründe habe, wisse er nicht, sagte mein Freund. Es könne natürlich auch sein, dass Menschen im digitalen Dunkel dieser Tage einfach verschwinden, wegdriften, überfordert sind – aber er spüre es schon sehr, wie sich die Stimmung verändert hat, wie viel einsamer er sich fühle, wie er an Depressionen leide. Dass er nicht mehr wisse, wo er hingehöre und auf wen er sich verlassen könne.
Er klang sehr matt. Auch ich habe Freunde verloren, oft weiß man tatsächlich nicht, wie und warum. Selten meldet sich jemand und nennt einen Grund für das Abhandengekommensein. Dieses Schweigen ist noch enttäuschender, denn es ist ein zweifacher Verrat an der Freundschaft. Wenigstens dieses bisschen Offenheit und Respekt sollten sein. Sind es nur die digitalen Mittel, die dieses Weggleiten ermöglichen?
Das Seltsame an diesem Jahr nach dem 7. Oktober 2023, dem schlimmsten Pogrom an Jüdinnen und Juden seit dem Zweiten Weltkrieg und dem darauf folgenden Krieg Israels in Gaza, ist diese aufgeladene Passivität, diese Konfrontationslosigkeit inmitten all der Konfrontationen. Aber zwischen den Menschen scheint ein Gespräch oft nicht mehr möglich zu sein, es wird vermieden. Dadurch geht viel verloren, was an gegenseitigem Verstehen nötig wäre.
Ich sage nicht, dass ich weiß, wie das geht. Ich habe sicher Menschen verletzt und verloren, ich habe erlebt, wie sich ein Klima der Angst in diesem Land ausgebreitet hat, Angst der Juden, Wut der Palästinenser, Angst vor Zensur auf palästinensischer Seite, Anfeindungen gegen jüdische Studierende, Ratlosigkeit im öffentlichen Raum, im öffentlichen Sprechen, was so wichtig ist für eine funktionierende Demokratie.
Es ist etwas zerbrochen
Es ist da etwas zerbrochen, in manchen Menschen und zwischen den Menschen. Ich habe die Verzweiflung und die Entfremdung gesehen bei Menschen, die nicht hinnehmen wollten, dass dieses Land und diese Gesellschaft einen Krieg in Gaza dulden, der in diesem Exzess nicht zu rechtfertigen ist. Ich habe gesehen, wie sich jüdische Freunde verändert haben, weil sie den antisemitischen Grundton dieser Gesellschaft nicht ertragen. Oder anders: weil sie ihn zu lange verdrängt hatten.
Dieser Grundton war vor dem 7. Oktober schon da, er ist das Fundament, auf das dieses Land gebaut ist, Der Publizist Michel Friedman hat es in „Fremd“, seinem langgezogenen Schmerzensschrei von einem Buch, eindrucksvoll beschrieben. „Die Angst ist mein Lebensgefährte“, schreibt er. Es klingt wie ein Abschied, aber es gibt diesen Abschied nicht oder es gab ihn schon vor langer Zeit, weil es fast unmöglich scheint, als Jude in diesem Land zu leben. Nach dem 7. Oktober umso mehr.
Dieses Land also hat sich 2024 in seiner angespannten Ambivalenz gezeigt. Die tatsächlich bleibende Unmöglichkeit, mit der Schuld umzugehen, und die ebenso bleibende Unfähigkeit, diese Unmöglichkeit anzuerkennen – und die Tendenz, sie stattdessen in eine Härte zu verwandeln, mit der gegen das vorgegangen wurde, was als antisemitisch gesehen wurde und was 2024 besonders oft „die Anderen“ waren.
Das hatte, wie so oft in Deutschland, etwas sehr Selbstgerechtes und führte dazu, wie es die Leiterin der Berlinale, Tricia Tuttle, gerade gesagt hat und wie ich es selbst beim Kuratieren einer Ausstellung erlebt habe, dass immer mehr Künstlerinnen und Künstler und auch andere Menschen dieses Land meiden, weil sie vom Diskurs abgestoßen sind. Auch dieses Wegdriften oder Wegbleiben spürt man erst einmal nicht, lange nicht, bis es sich zu einer Realität verdichtet hat.
Gegenteil von Relativismus
Was also bleibt? Eine für mich wichtige Erfahrung war ein Konzert mit Werken des Komponisten György Ligeti, ein österreichisch-ungarischer Jude, der einen offenen, sinnlichen, menschenfreundlichen Avantgardismus entwickelte, wie ich es an diesem Abend empfand. Es war das Prinzip dieser Musik, das mich beeindruckte, die verschiedenen rhythmischen Muster, die gleichzeitig Bestand hatten, diese Fähigkeit, wie es Ligeti wichtig war, verschiedene Wahrheiten damit auch gleichzeitig wach zu halten, gelten zu lassen, gemeinsam ins Schwingen zu bringen.
Etwas öffnete sich da, es schien wie ein Schlüssel, wie eine Möglichkeit, gleichzeitig offen zu sein für das eine Leiden und doch nicht das Leiden der anderen Seite zu vergessen. Das ist das Gegenteil von Relativismus, es ist der Versuch, keine Position einzunehmen außer der der Menschen. Es ist damit auch das Gegenteil von unpolitischem Denken – vielmehr ist es die Definition des Politischen aus dem Geist der Empathie heraus.
Das fand ich auch in einem Text, den mir ein anderer Freund geschickt hatte, eine Beschreibung des eindrucksvollen Lebens von André Spire, der für eine aufgeklärte, engagierte jüdische politische Tradition steht – und der sich Anfang des 20. Jahrhunderts von der französischen Gesellschaft abwandte, die ihn mit ihrem Antisemitismus abstieß. Er wandte sich dem Zionismus zu. Es steckt so viel Wut und Schmerz in den Texten, die Spire in dieser Zeit schrieb, es war klar, dass er lieber gehen würde, als sich anzupassen, sich zu assimilieren. Es war ein Akt der Freiheit.
Wer ist dein Nachbar, wer ist dein Freund, wer ist dein Bruder, so fragt Spire in einem Gedicht. Dein Bruder, so seine Antwort, ist nur der, der die gleiche Seele hat wie du, der sich deiner ebenbürtig erklärt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“