Zeit zwischen den Jahren: Ein Sehnsuchtsloch

Um den Jahreswechsel herum werden die Zeiger der Uhr transparent. Warum ist das nicht viel öfter so? Als Grundrecht, nicht als Luxusgut.

Eine schlafende Katze

Einfach mal nichts tun: Katzen haben das ziemlich gut drauf Foto: Imago

Das Messen von Zeit ist eine alte Erfindung. Alle möglichen Kulturen machten sich schon vor Tausenden Jahren an ihre Einteilung. Sie nutzen dafür den Mond, die Sonne, Wasser, Räucherstäbchen. Es gibt ein Bedürfnis, das Leben zu portionieren. Vielleicht, weil es tröstlich ist, wenn morgen stets ein neuer Tag beginnt. Weil man sich mit Blick auf einen Kalender ein bisschen selbstbestimmt fühlt. Weil es für die Organisation gemeinsamen Lebens praktisch ist.

Die Tage um den Jahreswechsel sind auffällig anders. Sie entziehen sich dieser Kontrolle, oder eher noch, wir entziehen sie ihr. Wir trauen uns, weil es dieses eine Mal im Jahresverlauf weniger Mut braucht, den Takt der Dinge zu verlassen, weil es akzeptiert ist, wenn auch längst nicht für alle. Manche sagen „zwischen den Jahren“ zu diesem Sehnsuchtsloch, das die Zeiger der Uhren transparent werden lässt und tut, als wären die Stunden unmessbar, als gäbe es sie gar nicht, ein paar zusammengeschmolzene Übergangstage lang. Wie schön das sein kann.

Dinge liegenlassen, Langeweile, Haare waschen, die letzte Strumpfhose ohne Laufmaschen suchen, Essen vorbereiten. Nicht sagen, dass man noch was arbeiten muss, Gespräche führen mit Freunden und Kindern und dazwischen mit sich selbst: Wie war dein Jahr? Woher nimmst du Zuversicht? Wird der Krieg enden? Wie retten wir die Welt? Kann man zu oft den Film mit der Schokoladenfabrik gucken? Weinen um das, was Trauer bedarf. Zwischendrin durchziehen Feuerwerksfäden die sternlose Mitternacht. Umarmung, Kuss, Bett, Spaziergang. Ich habe selten auf die Uhr geschaut. Die Zeit durfte befreit sein, außer Kontrolle.

Neujahr ist kein Neustart

Zeit ist eine knappe Ressource. Deswegen sagen wir „Zeit ist Geld“ und haben nie genug. Was wir zusammenkratzen, bauen wir um die Lohnarbeit herum. Wir nehmen uns vor, die Reste besser zu verwerten, länger wach bleiben, früher aufstehen. Alles wird ein Kästchen im Stunden-, Wochen-, Monatsplan. Und plötzlich reden wir häufiger davon, unseren Akku aufladen zu müssen, als davon, dass wir keine Maschinen sind. Vielleicht sind wir doch welche, der Akku klemmt hinter der Lunge und lädt nicht richtig. Viele Menschen sind sehr müde geworden. Und müssen sich trotzdem rechtfertigen, wenn sie vor Erschöpfung stehenbleiben, umfallen – oder nur in Frage stellen, ob dieses gesundheitsschädliche System nachhaltig sein kann, auch für eine Gesellschaft als Ganze.

Das Jahr ist erst ein paar Tage alt. Die Fäden, die das letzte Jahr gesponnen hat, nimmt das darauffolgende auf. Die Nachrichten und das Thermometer belegen: Der Krieg ist noch Krieg, das Klima noch in der Krise, mit dem 31. Dezember gab es davon kein Ende und keine Pause. Neujahr ist kein Neustart. Auch die Zeit ist keine andere, sie ist weiterhin rar und viel zu ungleich verteilt. Sicher kann das Leben nicht immer sein wie dann, wenn ein Jahr ins nächste greift. Aber es müsste doch viel öfter. Als Grundrecht, nicht als Luxusgut.

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Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr erster Roman 'Wovon wir träumen' erschien 2022 bei Piper. Zuletzt wurden ihre Kurzgeschichten in Das Wetter Buch für Text und Musik und Delfi Zeitschrift für Neue Literatur veröffentlicht.

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