Die schwebende To-do-Liste

SCHLAGLOCH VON HILAL SEZGIN Ob sich mein Leben mit bunten Magneten managen lässt?

■ ist Schriftstellerin. 2014 publizierte sie „Hilal Sezgins Tierleben: Von Schweinen und anderen Zeitgenossen“. Davor: „Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen“ (beide C. H. Beck).

Gerade noch rechtzeitig zu meinem bevorstehenden 45. Geburtstag habe ich es geschafft, mir ein Geschenk zu machen, an dem ich schon seit meiner Pubertät arbeite: das ideale Zeitmanagement-System. Natürlich gab es das Wort in meiner Jugend noch nicht, doch das Grundproblem war dasselbe: Wie bringe ich eine Vielzahl höchst sinnvoller Aufgaben in einem Tag unter, deren Vollenden zwar einen rundrum gebildeten Menschen ergeben würden (das war damals mein Ziel), deren Beginnen und Durchhalten aber wenig attraktiv sind?

Die Erinnerung daran, wie ich als Zwölfjährige an meinem Schreibtisch tollkühne Pläne entwarf, um russische Grammatik zu wiederholen und Cello zu üben, und wie zufrieden ich über jeden neu entworfenen Stundenplan war, und wie er nach einiger Zeit den Weg aller vordigitalen Stundenpläne ging, nämlich in den Papierkorb, ohne dass auch nur irgendwas des Eingeplanten geschehen war, erfüllt mich heute mit einem gewissen Erstaunen.

Effektive Entspannung

Ich bilde mir nämlich eigentlich ein, dass das Zeitmanagement-Problem, das ich heute habe, mit dem Erwachsenen- und vor allem auch wesentlich mit dem Freiberuflerinnen-Dasein zu tun hat. Wir freiberuflichen Autorinnen haben ja keine von außen auferlegten Bürozeiten, sondern müssen alle Arbeiten wie Recherche, Schreiben und Bürokram selbstständig verteilen. Der wunderbaren Freiheit, nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Redaktion aufkreuzen zu müssen, steht die Notwendigkeit gegenüber, dass dennoch eine Menge zu erledigen ist. Und der Erleichterung, dass kein Chef und keine Chefin etwas von einem einfordert, steht das menschliche Bedürfnis gegenüber, für Erledigtes doch irgendwie Anerkennung zu erhalten.

Sprich: Alles, was in einem Angestelltenverhältnis durch äußere Zwänge und Hierarchien festgelegt wird, müssen Freiberufler internalisieren. Die ungelöste Frage, welche Arbeitsweise jetzt eigentlich besser und „freier“ ist, erinnert ein wenig an die Alternative: altes Körperstrafensystem oder „Überwachen und Strafen“ à la Foucault.

Doch es wäre fast idyllisch, wenn auf unser aller To-do-Listen und Post-its-Galerien nur die im engeren Sinne der (Erwerbs)arbeit zugeordneten Tätigkeiten stünden. Stattdessen verfolgt uns eine Vielzahl von Rubriken, zu denen neben der Arbeit auch Haushalt, Familie und Auto … und sogar Körper, Geist und Persönlichkeit stehen. Mit den letztgenannten Kategorien kommen wir zu den gehobenen Problemen ab 35, wenn man/frau nicht nur im Produktivsein effektiv sein will, sondern auch im Nichtproduktivsein. Irgendwann hat mensch ja hinreichend Berichte über Burnoutkrisen gelesen, um einzusehen, dass jedes emsige Arbeitsleben durch ein ebenso emsiges Entspannungsleben ausbalanciert werden muss. Quality Time, Work-out, Yoga, Meditation, Achtsamkeit …

Die Not-doing-Einstellung

Das Motivations- und Planungsproblem ist immer dasselbe. So ein guttrainierter Schweinehund macht nun mal keine großen Unterschiede zwischen dem Abarbeiten des E-Mail-Bergs einerseits und der meditativen Versenkung andererseits. Für beides muss man sich zunächst anschubsen, auch wenn dadurch eigentlich eine Oase erreicht werden soll, in der man vor der Logik des Anschiebens sicher ist.

Ohne eine Grundausbildung in kritischer Dialektik ist das kaum zu bewältigen, aber damit hat man auch gleich ein sinnvolles Thema für die ersten Minuten der Meditation, nämlich, ob man/frau sich mit dem ganzen Meditieren- und Entspannenmüssen eigentlich noch mehr To-do-Stress aufhalst oder sich eine Not-doing-Einstellung erwirbt und letztlich entspannt.

Um wieder auf die Zwölfjährige zurückzukommen, die sich mit Grammatik und Cello abquälte und von Yoga noch nichts wusste: Gemeinsam ist dieser Jugendlichen, der heutigen Freiberuflerin und Scharen von Festangestellten, dass sich ein gewisser Perfektions- und Effektivitätsanspruch auf fast unübersehbar viele Bereiche des Lebens ausgeweitet hat. Ich glaube, es war der jetzige Hanser-Verleger Jo Lendle, der einmal auf Facebook das Foto einer To-do-Liste postete, die er auf einer Rolle Endlospapier notiert hatte, die sich mehrere Meter lang von einem höheren Stockwerk aus ins Erdgeschoss abspulte. Entwaffnend ehrlich, denn auf schwebendem Material kann man nichts abhaken.

Die Yacht der Mittelschicht

Der Schweinehund macht keine Unterschiede zwischen dem Abarbeiten des E-Mail-Bergs und der meditativen Versenkung

Zu einer regelrechten „Taskforce To-do-List“ sind wir geworden, nicht allein, weil wir ziemlich viel (erwerbs)arbeiten müssen, sondern weil Glück und Leben und Selbstverwirklichung längst ebenfalls zu Arbeiten geworden sind, von deren erfolgreichem Absolvieren unser Selbstwert und unsere Anerkennung genauso stark abhängen wie von „meinem Haus, meinem Auto, meiner Yacht“. Genau genommen ist diese Art Selbstperfektionierung zur Yacht derjenigen geworden, die sich keine Yacht leisten können; und in vielerlei Hinsicht ist sie aufwändiger in Anschaffung und Erhalt.

Eine Vielzahl von Apps, Onlinehilfen und Zeitmanagementsystemen ist entworfen worden, damit wir die überwältigende Flut an Selbstansprüchen gleichzeitig bändigen und gegen uns selbst durchsetzen können. Meist operieren diese Systeme mit klassisch-kapitalistischen Anreizen: Bei stickk.com zum Beispiel legen Menschen eine Summe Geld fest, die sie bei Nichterreichen ihrer Vorhaben an eine Charity-Organisation abgeben müssen, bei Habit Bull können sie mit sich selber um das längste Durchhalten neuer wünschenswerter Gewohnheiten wetteifern, und bei der Kanban-Methode liegt die Befriedigung darin, Post-its zu verpflanzen.

Mein eigenes System besteht aus einem großen Whiteboard und Magneten in elf Farben, die jede für eine der vielen Bereiche steht, in der meine Arbeit und Persönlichkeit verbessert werden müssen. Natürlich kann ich immer noch kein Russisch und habe Cello längst vergessen. Aber mit knapp 45 bin ich immerhin eine Frau mit mehreren hundert bunten Magneten.