Zwischen den Jahren: Die Tage der Träume

Die Zeit zwischen den Jahren stecke voller Magie, meint unsere Autorin. Das sahen die Leute in vorchristlicher Zeit auch so.

Baum mit Raureif

In den Raunächten soll Raureif liegen Foto: Ulrike Piringer

Raunächte heißen die Tage zwischen dem ersten Weihnachtstag und dem 6. Januar. In meiner Vorstellung muss Raureif auf ihnen liegen, damit ihre Schönheit, erst sichtbar wird. Und wenn kein Raureif liegt, dann ein Nebelhauch, ein Lichtschleier, irgendetwas, das ihre Konturen verwischt.

Ach, wie können die Konturen der Zeit verwischen? Dieses rhythmische Ticktack, das Minuten schafft, aus denen Stunden und Tage werden. Zwölf Tage genau. Und ich sage, es geht. Denn Zeit kann schnell vergehen und langsam. Sie kann weich vergehen und hart. Sie kann sichtbar sein und unsichtbar. Wie im Traum und wie in der Wirklichkeit.

In den Raunächten, Ursprung heidnisch, die Wintersonnenwende wurde gefeiert, vergeht die Zeit weich, finde ich. Sie nimmt die Zielstrebigkeit aus den Tagen. Stellt Schlaf über Wachsein und gibt in ihrem Schweben den Dingen ihre Dingheit zurück. Alles wird Philosophie. Für eine Tasse zum Beispiel zählt die meiste Zeit des Jahres nur die Funktion. In den Raunächten, wenn auf allem ein Schleier liegt, wird ihre Tassenheit sichtbar. Das Greifbare, das Runde, das Konvexe. Ah, Hexe!

Ich liebe die Tage zwischen den Jahren. Sie sind eine Leerstelle, eingelullt von Dämmerung, in der alles, was zwanghaft sonst Ansprüche stellt, nicht mehr zählt. Als wäre da Anarchie, aber eine leise, die nichts fordert, auf eigentümliche Weise nichts will.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, der mir bis kürzlich unbekannt war, sagt, dass die Raunächte, diese Frist vom 25. Dezember bis zum 6. Januar also, „ziemlich exakt der Differenz zwi­schen Mond- und Sonnenjahr“ entspreche und dass diese Tage in vorchristlicher Zeit eine verkehrte Welt darstellten, in der Gesetze ausge­hebelt waren, „in der die Herren ihre Sklaven bedienen mussten, in der die Toten die Lebenden heim­suchten und in der die Kinder über die Alten herrschen durften“. Auch er bemüht das Wort „Anarchie“.

Wenn das stimmt, dann sind meine Gefühle also archaischer Natur. Obwohl ich die Sterne nicht lesen kann, die Sonne nicht anbete, dem Mond bestenfalls wie einem fernen Bekannten folge. Und obwohl sich das Christentum auf die Zeit gesetzt hat mit der Geburt Christi und der Ankunft des Herrn.

Vor allem aber trotz der Knallerei an Silvester.

Wobei die Knallerei an Silvester, vor allem in Berlin, wo ich meist bin, etwas Schlimmes bewirkt: Meine Raunachtstimmung ist jetzt schon nach sechs Tagen, statt nach zwölfen vorbei, sie ist knallhart aus. Der Krach zerstört jedes Sinnieren, jede Kontemplation, jedes Warten und Außer-sich-sein in der Zeit. Am 1. Januar hat die Tasse wieder ihren Henkel, und ich trinke daraus.

Waltraud Schwab

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