Wölfe in Deutschland: Er kommt uns näher, immer näher
Die Rückkehr des Wolfs ist ein Erfolg für den Naturschutz. Aber wollen wir, dass hier Raubtiere leben, die Menschen töten können?
Im selben Ort erzählt eine elfjährige Grundschülerin ihrem Rektor, dass das Tier sich ihr sogar bis auf zwei Meter näherte, sie dann umkreiste und beschnupperte. Der Schulleiter warnt per Aushang: „Vorsicht auf dem Schulweg!“ Ein Glück, sagt er, „dass die Kinder nicht panisch reagiert haben und es nicht zu einem Vorfall kam.“
Auch bei Jörg Dommel im Spreewald sind schon Wölfe aufgetaucht. Der Biobauer erinnert sich an die Woche vor Heiligabend: Kurz nach Sonnenaufgang machte er den täglichen Kontrollgang über seine Rinderweiden, direkt am Neuendorfer See.
Biobauer Dommel und das Massaker
„Es sah aus wie ein Schlachtfeld, fast wie im Krieg“, erzählt Dommel. „Ein Kalb lag halb aufgefressen da. Alles voller Blut. Kotreste vom Wolf. Hinter dem Genick war an einer Oberseite alles weggefressen. Rippen stachen heraus, der Magen war ausgeräumt.“ Ein „Scheißgefühl“ sei das, sagt der Bauer. „Und man kann nichts dagegen tun.“
Der Wolf ist wieder da. Nach 150 Jahren, in denen er in Deutschland als ausgerottet galt. Ein riesiger Erfolg für den Naturschutz: Statt dass immer nur Tierarten aussterben, erobert sich eine Spezies ihren Lebensraum zurück.
Alles begann im Jahr 2000 in Sachsen, auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz: Erstmals nach der Ausrottung ihrer Art gebärt eine Wölfin Nachwuchs in freier Wildbahn. Förster sehen vier Welpen, eine Wissenschaftlerin findet Spuren. Die Elterntiere kamen aus Polen, wo es immer Wölfe gab. In Sachsen konnten sie sich ein Revier suchen, weil die Tiere seit dem Ende der DDR auch in Ostdeutschland unter Artenschutz stehen. Vorher durften Wölfe dort gejagt werden.
Die Planerfüllung in der Landwirtschaft war im Staatssozialismus wichtiger als der Naturschutz. Nach der Wende drangen Rudel auch nach Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen vor, sogar im Hamburger Stadtteil Kirchwerder wurde schon ein Wolf fotografiert – in der Nähe eines Biobauernhofs.
Freude über die Rückkehr eines Raubtiers? Viel eher weckt sie tief sitzende, jahrhundertealte Ängste. Sie sind in Märchen wie „Rotkäppchen“ oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“ überliefert; in Erzählungen über den bösen, den listigen, den gierigen Wolf. Und es ist ja auch eine Tatsache: Kein anderes Raubtier in Deutschland kann Menschen so gefährlich werden. Pro Tag braucht es etwa vier Kilogramm Fleisch. Da Wölfe oft in Gruppen jagen, können sie auch Lebewesen töten, die größer als sie selbst sind.
Besonders gefährdet sind Nutztiere wie Schafe und Rinder. Die Zahl der dokumentierten Opfer ist nach den aktuellen Zahlen des Bundesamts für Naturschutz von 2002 bis 2015 von 33 auf 715 gestiegen – um mehr als das 20-Fache. Das trifft ausgerechnet Bauern wie Jörg Dommel, die ihr Vieh besonders artgerecht und naturfreundlich halten: auf der Weide und nicht nur im Stall.
Der Wolf geht um – sollten dann besser alle Nutztiere eingesperrt werden , in hermetisch abgeriegelte Ställe wie in der Intensivviehhaltung? Und müssen Kindergärten wolfssichere Zäune haben?
Die Sache eilt. Denn die Zahl der Wölfe wächst immer schneller – jedes Jahr im Schnitt um 35 Prozent. Das Bundesumweltministerium hat 47 Wolfsrudel, 15 Wolfspaare und vier sesshafte Einzelwölfe erfasst. Der Wolfsexperte Ulrich Wotschikowsky schätzt, dass inzwischen knapp 600 Tiere in Deutschland leben. Wotschikowsky ist Wildbiologe und als Wolfsfreund unverdächtig, die Gefahr zu übertreiben. Sollte seine Schätzung zutreffen, dürften es schon in zwei Jahren mehr als 1.000 Tiere sein – wenn die Gesellschaft es zulässt.
Jörg Dommel rollt mit seinem Traktor auf eine seiner Weiden. Mit dem Frontlader hat der Biobauer zwei Heuballen aufgespießt. Langsam setzt er sie neben den 700 Kilogramm schweren, braun-weißen Kühen ab.
„Ich bin der letzte Landwirt in Neuendorf am See“, sagt der 55-Jährige. Seinen Vater, einen freien Bauern, zwang die DDR in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, er selbst musste erst einmal Schlosser lernen.
ist Redakteur im taz-Ressort Wirtschaft und Ökologie
Nach der Wende hat die Familie ihr Land zurückbekommen, Dommel machte einen Ökohof mit rund 200 Rindern für die Fleischproduktion daraus. Ein stämmiger Mann im blauen Arbeitskittel, einer, der kräftig zupacken kann – und jetzt oft mit einem mulmigen Gefühl auf seinem Land unterwegs ist. Denn im Umkreis von 25 Kilometern leben seit ein, zwei Jahren drei Wolfsrudel.
Dommel sagt: „Ich hätte die Hosen schon richtig voll, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe im Wald und drei, vier Wölfe kommen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich angreifen würden. Entweder ich muss den Hund opfern oder ich werde selber Opfer.“ Oft sehen Wölfe Hunde als Konkurrenten um ihr Territorium an.
Manche leben vom Wolf
Es ist nicht auszuschließen, dass Dommel die Gefahr durch den Wolf etwas dramatisiert. Denn er ist vor allem gegen den Wolf, weil er ihn Geld kostet. Seit Juli hätten die Raubtiere sechs seiner Rinder getötet, ein Verlust von rund 4.000 Euro, sagt der Landwirt. Das ist eine Menge für einen, der zehn Stunden täglich inklusive Wochenende arbeiten muss, um über die Runden zu kommen.
Andere Menschen leben vom Wolf. Biologen, Naturschützer und Beamte sollen dafür sorgen, dass Mensch und Raubtier miteinander auskommen. 2002 beauftragte Sachsens Umweltministerium das Wildbiologische Büro Lupus. Aufgabe unter anderem: Wölfe zählen. 2004 eröffnete das vom Land bezahlte „Kontaktbüro Wölfe“, das Bürger und Journalisten informieren soll.
Der Staatsbetrieb Sachsenforst ernannte einen Wolfsbeauftragten, der Nutztierhalter berät, wie sie ihre Herden vor Wölfen schützen können. In Behörden gibt es Sachbearbeiter, die sich um Anträge auf Entschädigung nach Rissen oder Zuschüsse für Zäune kümmern.
Markus Bathen ist der wichtigste Wolfsexperte des Naturschutzbunds, der größten deutschen Umweltorganisation, bekannt als Nabu. Vor einigen Jahren ist er mitten in das Territorium eines Wolfsrudels nahe der Kleinstadt Niesky in Ostsachsen gezogen. Zweimal ist vor seinem Haus im Dorf Hähnichen eine Wölfin vorbeigelaufen, der Forscher einen Ortungssender umgehängt haben. Bathen hat das Rudel auch schon heulen gehört. Seine Hunde schleppen immer mal die zerfetzten Reste von Rehen an, die der Wolf erwischt hat.
Bathen hat einen dreijährigen Sohn. Ungefähr so groß und schwer wie ein Reh. „Er macht eigenständig das Tor auf und läuft dann in der Dämmerung oder abends genau dort lang und spielt, wo mit Sicherheit schon ein Wolf langgelaufen ist“, sagt der Naturschützer. „Total entspannt“ seien er und seine Frau, weil „da eigentlich nichts passiert“. Normalerweise sähen Wölfe Menschen nicht als Beute an. „Rotkäppchen lügt“, steht auf der Internetseite des Nabu. Anderslautende Behauptungen seien: Märchen.
Bathen hat Naturschutz studiert und sieht auch so aus: Der 45-Jährige trägt Outdoor-Kleidung in Grüntönen und feste Wanderschuhe. Seine Argumente beruhigen, meist redet er sachlich und abwägend.
Wölfe faszinieren ja auch. Sie sind soziale Wesen und uns Menschen so nah wie kaum ein anderes wildes Tier. Die Eltern bleiben ein Leben lang zusammen. Junge Tiere lernen von den alten, zu jagen. Sobald sie geschlechtsreif sind, verlassen sie ihr Elternterritorium, um anderswo eine Familie zu gründen. Dafür laufen sie oft hunderte Kilometer.
Wolfgang, stark und mutig
Der Wolf ist tief verankert in unserer Tradition: Orte sind nach ihm benannt, Fußball- und Eishockeyteams nennen sich „Wölfe“. Wolfgang, das ist in der Vornamenskunde der, der mit dem Wolf in den Kampf zieht, stark und mutig.
Ein Tier, das uns so nahe ist, wieder auszurotten, klingt verkehrt. Und sind wir heute nicht viel weiter als die Menschen des Mittelalters, in dem die Märchen über den bösen Wolf entstanden?
Aber wenn Bathen recht haben sollte, würde das bedeuten, dass der Mensch und seine Interessen kaum wichtiger als das Tier sind. Gegen Bathen spricht zudem, dass möglicherweise auch er in dieser Sache persönliche Interessen verfolgt: Er wird dafür bezahlt, für den Wolf zu kämpfen.
Bathen steigt ins Auto. Er will zeigen, durch welche Wälder der Wolf in seiner Nachbarschaft streift. An einem Feld wenige Kilometer von seinem Haus entfernt bleibt sein Wagen stecken. In einer Kuhle, die Bauern mit ihren Traktoren in den Schlamm gefahren haben. Die Bauern, seine wichtigsten Gegner im Streit über den Wolf. Er will jetzt lieber nicht die örtliche Agrargenossenschaft bitten, sein Auto freizuschleppen, und versucht, Freunde zu erreichen, die ihm helfen. Das dauert.
Er nutzt die Zeit, um seine These vom gar nicht so bösen Wolf zu untermauern. Bathen sagt, dass die Tiere seit 1950 in Europa nur in neun Fällen Menschen getötet hätten. „Bei fünf dieser Fälle waren die Wölfe an Tollwut erkrankt.“ Deshalb hätten sie sich anormal verhalten.
Deutschland gilt aber seit 2008 als tollwutfrei. Bei den anderen Vorkommnissen wurde bestätigt, dass die Tiere zuvor angefüttert worden waren und ihre Angst vor Menschen verloren hatten. Oder dass sie provoziert wurden. „Nullmal, dass Wölfe zum Nahrungserwerb Menschen getötet haben.“ So steht es auch in einer allseits anerkannten Studie des Norwegischen Instituts für Naturforschung.
Vom Wolf umgebracht werden
Von einem Wolf umgebracht zu werden, sei so wahrscheinlich, wie von einem Ast im Wald erschlagen oder von einem Wildschwein getötet zu werden, folgert Bathen. Eine „Gefahr des täglichen Lebens“.
Und was die Übergriffe auf Nutztiere angeht: Rinder jage der Wolf nur sehr selten. „Sie sind ihm zu groß.“ Die Schäfer könnten ihre Tiere gegen Wölfe mit Zäunen und Hunden schützen. 2015 haben die Länder dafür 1,05 Millionen Euro überwiesen, wie das Bundesamt für Naturschutz mitteilt. Sollte es doch zu Übergriffen kommen, zahlen die Behörden Entschädigungen; 2015 knapp 108.000 Euro.
Ein Klacks im Vergleich zu den Milliarden, die der Staat jährlich für Agrarsubventionen ausgibt.
Bathen schaut zufrieden, als er mit seinem Vortrag durch ist. Und endlich kommt eine Freundin, die sein Auto mit ihrem VW-Bus aus der Kuhle herauszieht.
Als Biolandwirt Dommel Bathens Argumente hört, wird er wütend. Er gehört zu den wenigen Bauern in Deutschland, die ihre Tiere noch auf der Weide halten. Seine Rinder haben jede Menge Platz, sie sehen die Sonne und nicht nur Neonröhren, die Kühe werden nicht mit einer Spritze, sondern von ihrem Stier befruchtet, sie fressen kein Kraftfutter, sondern Gras. So, wie es sich Tierschützer und auch Bathens Nabu wünschen.
Doch in Dommels Augen gefährdet der Wolf genau diese Weidehaltung. „Unsere Tiere sind die ersten, die dran sind.“
Das Land Brandenburg, sagt Dommel, zahle zwar eine Entschädigung für Risse, aber nur den Wert zum Zeitpunkt des Übergriffes. Dabei hätte er das Kalb gemästet und später als ausgewachsenes Schlachtrind verkauft, für rund 1.200 Euro, fast das Doppelte. Es kann Monate dauern, bis er das Geld bekommt. Und wer bezahlt ihm die Zeit, die er für die Entsorgung der Kadaver und die Gespräche mit dem Rissgutachter aufwenden musste, der sich jeden Fall anschaut? „Natürlich niemand.“
Jetzt ist die Herde nervös
Überhaupt nicht entschädigt werden die Folgen eines Wolfsrisses für das unverletzt gebliebene Vieh. „Die Herde ist seit den Angriffen sehr unruhig“, klagt Dommel. Es sei jetzt zum Beispiel viel schwerer, einzelne Tiere einzufangen.
Der Bauer könnte sein Vieh mit 1,20 Meter hohen Elektrozäunen schützen. Aber Dommel bewirtschaftet 334 Hektar Land, größer als 450 Fußballfelder. Allein das rund 20 Hektar große Winterquartier wolfsicher einzuzäunen, würde 40.000 Euro kosten. Im Sommer müssen die Zäune umgesetzt werden, wenn eine Weide abgegrast ist und die Herde auf eine andere wechselt.
Und einmal pro Woche muss am Zaun gemäht werden, damit Grashalme nicht die unteren Drähte berühren und so die Spannung ableiten. „Für alles bräuchte ich Arbeitskräfte, die ich nicht bezahlen kann“, sagt Dommel. Außerdem würden Wölfe lernen, Schutzmaßnahmen zu überwinden.
Tatsächlich fanden vergangenes Jahr 66 Prozent der Übergriffe auf Nutztiere in Sachsen nach offiziellen Angaben in Haltungen statt, die so geschützt waren, wie es die Behörden für Entschädigungen verlangen. Ähnliche Zahlen gibt es aus Frankreich.
Warnungen vor dem Wolf kommen nicht mehr nur von konservativen Bauernorganisationen, sondern auch von Teilen der ökologisch orientierten Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, der AbL. Das ist der tonangebende Verband in der deutschen Bewegung für eine Agrarwende und eine umweltfreundlichere, sozialverträglichere Nahrungsmittelerzeugung.
Ende der Weidehaltung?
Die Zahl der Risse könnte weiter zunehmen, wenn mehr Wölfe Futter suchen. Was uns dräut, zeigt ein Blick auf die italienische Provinz Grosseto, wo Wölfe immer präsent waren. Von 2014 bis 2016 sind jedes Jahr 0,7 Prozent aller Schafe von Wölfen getötet oder verletzt worden oder verschwanden bei Wolfsattacken. Das berichtet die Forscherin Valeria Salvatori.
0,7 Prozent klingt nicht nach einer großen Belastung. Aber die Weidehaltung steht schon lange aus ökonomischen Gründen unter Druck. Die Belastung durch den Wolf könnte ihr den Rest geben, befürchten viele.
Wenn man genauer hinschaut, ist es auch nicht völlig unwahrscheinlich, dass das Raubtier auf Menschen losgeht. Im März 2010 töteten Wölfe in Alaska eine 32 Jahre alte Joggerin – und fraßen sie teilweise. Das Opfer, eine Lehrerin, war nur 1,47 Meter groß, sie rannte – das könnte zu dem Vorfall beigetragen haben, vermuteten die Behörden. Einer der Wölfe wurde später geschossen und per Erbgutanalyse als „Täter“ identifiziert. Er hatte keine Tollwut. Und es gab keine Hinweise darauf, dass die Wölfe „provoziert“ worden wären.
Ist nicht ohnehin jeder Tote einer zu viel? In Deutschland ist es verboten, Kampfhunde ohne Aufsicht frei herumlaufen zu lassen. Weil es zu riskant ist. Warum soll das bei einem wilden Raubtier anders sein, das noch gefährlicher ist? Warum sollten wir das zusätzliche Risiko durch Wölfe akzeptieren?
Bathen steht an einem Feld in Sachsen. Er zeigt auf eine Gruppe Rehe, die einige hundert Meter entfernt Futter sucht. „Wenn eines der Tiere ein Krankheitsüberträger ist und deswegen schwächelt, dann würde der Wolf das als erstes erwischen, weil es schwächer ist als die anderen“, sagt Bathen. Dann können die anderen Rehe nicht mehr infiziert werden. „Der Wolf hält Beutetierbestände gesund, er ist der Gesundheitspolizist.“ Das sei seine Funktion, und deshalb hält Bathen den Wolf für wichtig in der Natur.
Bauer Dommel sagt dazu: „Auch Jäger können kranke Tiere schießen. Wir sind über Generationen ohne den Wolf ganz gut ausgekommen.“
Wenn der praktische Nutzen des Wolfs für den Menschen gegen null tendiert, was ist es dann, das das Risiko rechtfertigen könnte?
Respekt für den Wolf
Eine Frage für Nathalie Soethe. Sie ist Agrarwissenschaftlerin und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft „Umweltethik“ an der Universität Greifswald. Privat hat sie 2015 die Initiative „WikiWolves“ gegründet. Soethe baut da gemeinsam mit anderen Freiwilligen Zäune etwa für Schäfer, damit deren Tiere vor dem Wolf sicher sind.
Denn Soethe freut sich, dass der Wolf wieder in Deutschland ist. „Wir schulden dem Wolf als Teil der Natur Demut und Respekt“, sagt sie. Ein wichtiges Argument ist für die Forscherin auch „unsere Glaubwürdigkeit als reiche Mitteleuropäer gegenüber Menschen in weniger technisierten Regionen der Erde, von denen wir erwarten, dass sie in Koexistenz mit Schneeleoparden, Löwen oder Jaguaren leben und diese vorm Aussterben bewahren.“
Doch Leute wie Bauer Dommel würden wohl nie Afrikanern verbieten, Löwen auf bestimmte Gebiete zu begrenzen, um Dörfer zu schützen. Und was ist schon „die Natur“? Sind nicht auch die Menschen Teil der Natur, die sich ständig ändert? Und wenn irgendwann dauerhaft Bären aus Italien nach Deutschland einwandern – muss der Respekt vor der Natur dann auch das zulassen? Obwohl der Bär ein Raubtier ist, gegen das Menschen noch weniger Chancen haben?
Das sind Einwände, die Soethe nachdenklich machen.
Vor einiger Zeit, erzählt sie, habe es mal ein Gerücht gegeben, dass ein Wolf in Brandenburg ein Kind getötet hätte. „Da dachte ich: Ich höre auf mit der Sache, die ich hier mache.“ Zum Glück stellte sich das Gerücht als falsch heraus.
Aber die Fragen bleiben: Was würden Sie Eltern eines Kindes sagen, das von Wölfen gefressen wurde, Frau Soethe? „Da kann ich Ihnen keine Antwort geben. Da muss ich wirklich passen.“ Und sie sagt: „Letztendlich ist das ein Experiment. Es ist ergebnisoffen.“
Das Ganze klingt auf einmal doch ziemlich beunruhigend.
„Ich warte auf den Tag, an dem der Wolf den ersten Menschen reißt. Mal sehen, wie der Nabu darauf reagiert“, ruft Dommel auf seiner Weide. „Ich fordere einen Abschussplan für den Wolf.“ Der Bauernbund Brandenburg will, dass dafür der strenge Artenschutz für das Tier gelockert wird. Der Wolf ist ja auch nicht mehr vom Aussterben bedroht, auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion steht er als „ungefährdet“.
Die AbL Niedersachsen verlangt, anders als bisher Wölfe schon dann zu vergrämen, wenn sie sich Nutztieren nähern – „auch mit Abschüssen“. Im Moment greifen die Behörden nur zu solchen Mitteln, wenn die Tiere sich zu häufig oder aggressiv Menschen nähern.
Markus Bathen und der Nabu argumentieren vor allem mit einer Studie aus den USA gegen eine Obergrenze für Wölfe, demnach nehmen die Übergriffe auf Nutztiere in einem Gebiet nach der Bejagung der Wölfe zu. Andere Fachleute allerdings haben die Studie wegen methodischer Mängel verrissen.
Bleibt der gesunde Menschenverstand. Und der sagt: Weniger Wölfe, weniger Raubtiere, die Futter suchen, weniger Übergriffe.
Vielleicht sollte man den Wolf begrenzen auf einen Teil Deutschlands, der möglichst dünn besiedelt ist und möglichst wenig Weidehaltung hat.
Spuren vom Wolf
Jetzt geht die Sonne unter in Bathens Wolfsregion. Mit dem Auto biegt der Naturschützer in einen Buchenforst ein, steigt aus und sucht Wolfsspuren. Hier ist das Kerngebiet des Nieskyer Rudels, mehrmals warfen die Wölfe dort Welpen.
„Der Wolf liebt Wege“, verrät Bathen. Dort kann das Tier schnell laufen, ohne Energie zu verschwenden. Zudem setzt es meist die Hinterpfote einer Körperseite in den Abdruck der Vorderpfote auf der gleichen Seite. So schaffen Wölfe 20 bis 30 Kilometer pro Tag mit Geschwindigkeiten von bis zu 60 Stundenkilometern.
Auf einmal sind da sieben Abdrücke hintereinander im Schnee. In einer Linie, aufgereiht wie auf einer Schnur. Bathen holt seinen Nabu-Zollstab aus der Hosentasche und misst: Zwischen jedem Abdruck liegen 150 Zentimeter, jeder zeigt vier Zehen, einen herzförmigen Handtellerballen und Krallen. Ohne Krallen ist er acht Zentimeter lang und sieben breit. „So, wie es sein sollte“, sagt Bathen.
Da ist sie, die Freude über den Wolf. Dieses seltene, anmutige Tier war hier, genau hier. Am besten bleibt es aber auch da – weit weg im sächsischen Wald. Zur Not müssen wir es zwingen, mit dem Gewehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles