Wissenschaftliche Debatte um Migration: Menschenrechte, aber nicht für alle
Der Diskurs über Geflüchtete wird feindseliger – auch Forscher wie Daniel Thym tragen zur Erosion des menschenrechtlichen Konsenses bei. Eine Replik.

Schon 2018 bezeichnete der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Migration als „Mutter aller Probleme“. Die seither sich entwickelnde gesellschaftspolitische Debatte zeigt, dass diese Diagnose mittlerweile zum parteiübergreifenden Konsens geworden ist. Wer sich heute öffentlich über das Migrationsgeschehen äußert, spricht in aller Regel im selben Atemzug von Überforderung und Begrenzung.
Asylsuchende begegnen uns im Alltag zwar kaum, weil sie zumeist eine räumlich abgeschottete und sozial isolierte Existenz fristen. Politisch-medial aber verfolgen sie uns auf Schritt und Tritt: als Gefährder, Messerstecher, „Sozialschmarotzer“ und Sexualstraftäter. Die Öffentlichkeit hat sich darauf verständigt, dass Migration das Problem ist, an dessen Bewältigung sich das Schicksal des Gemeinwesens entscheiden wird.
In allerjüngster Zeit hat die migrationspolitische Debatte eine neue Wendung hin zum Autoritären genommen. Die Koalitionsverhandlungen wurden von Stimmen begleitet, die geltendes Recht und dessen höchstrichterliche Interpretation infrage stellen.
Ein medial präsenter Diskursteilnehmer aus der Wissenschaftssphäre ist in diesem Zusammenhang der Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym. Die Asylpolitik müsse, so Thym in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „auch über die Menschenrechte sprechen“ – so „wie deutsche Politik dies vor dem Asylkompromiss von 1993 gemacht“ habe.
Stephan Lessenich ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung; Sina Arnold ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung; Maren Möhring ist Professorin für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des modernen Europa; alle drei arbeiten beim FGZ.
Wir erinnern uns: Um dem im vereinten Deutschland gegen Ausländer:innen hetzenden, marodierenden und mordenden Mob den Wind aus den Segeln zu nehmen, vereinbarten schwarz-gelbe Bundesregierung und oppositionelle SPD eine Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl durch die Konstruktion der Figur „sicherer Drittstaaten“. Dieser Logik folgt hiesige Politik bis heute: Egal was das „Problem“ der Migration ausmacht, als angebliche Lösung wird die Entrechtung der Migrierenden ausgemacht.
Unveräußerlichkeit der Menschenrechte
Dabei gibt man sich wenig zimperlich. „Für einen Systemwechsel wird uns nur eins übrigbleiben: Wir müssen die Menschenrechte weniger streng handhaben“, warb Thym in einem Interview mit dem Spiegel.
Auch hier lohnt sich zu erinnern: 1948 hatte die UN-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet, die für alle Menschen die „gleichen und unveräußerlichen Rechte“ setzt, da deren Nichtanerkennung und Verachtung „zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“.
Für das Grundgesetz der Bundesrepublik war die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte leitend, davon zeugt der erste Satz seines ersten Artikels. Nun aber scheint dieses Prinzip nicht mehr hoch im Kurs zu stehen, bei der politischen Rechten nicht, aber auch nicht im Feld des Rechts.
Wer wie Hans-Eckard Sommer, Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die Abschaffung des Asylgrundrechts fordere, bewege sich „in der ‚demokratischen Mitte‘ im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, so Thym in der FAZ.
„Humanität und Ordnung“ müssten „neu kombiniert“ und das vermeintlich zurückgestellte nationale Eigeninteresse wieder zur Leitidee der Migrationspolitik werden. Im Redaktionsnetzwerk Deutschland macht sich Thym zum politischen Anwalt dieses Interesses der Deutschen an sich selbst: „Wir müssen uns ehrlich machen: Wir sind durchaus egoistisch. Wir sind im globalen Maßstab allesamt reich. … Und diesen Reichtum wollen wir nicht mit allen Menschen teilen.“
Das ist es wohl, was mit einer nicht nur von „Asyl-Professor Thym“ (Bild) geforderten Debatte „ohne Scheuklappen“ gemeint ist. Als ob es solche Diskurseinschränkungen zuvor überhaupt gegeben hätte.
Vielmehr erschien in der Migrationspolitik zuletzt kein Vorschlag zu abseitig, keine Vorstellung zu menschenverachtend, um sie nicht zumindest zu erwägen: von der Einführung der Bezahlkarte, die Asylbewerber:innen wirtschaftliche Bürgerrechte verwehrt, über die von Ex-Bundeskanzler Scholz versprochene „Abschiebung im großen Stil“ bis hin zu Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen oder gleich irgendwo in Afrika.
Schöne neue Welt der Nationalstaatsgemeinschaften
Migrationspolitisch sind „Scheuklappen“ nur schwer zu erkennen: Hier wähnt sich die nationale Interessengemeinschaft bedroht und souverän zugleich, lassen die Beteiligten in der Debatte ihren Gewaltfantasien freien Lauf, meinen politisch Verantwortliche durch die Zurschaustellung von Härte beim Wahlvolk punkten zu können.
Im Falle Thyms ist dessen zunehmend schärfere Kritik an der herrschenden Rechtspraxis von besonderem Interesse, da er lokaler Sprecher des an elf Universitäten angesiedelten Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) ist, das in seiner Forschung den Kriterien eines „demokratischen Zusammenhalts“ besondere Aufmerksamkeit widmet.
Eine Gesellschaft aber, die sich dem Demokratieprinzip verschrieben hat, kann die Menschenrechte nicht bloß selektiv oder konjunkturell gelten lassen – sonst wird ihr Zusammenhalt zu einer exklusiven, nicht allein mit Rechtsgewalt zu sichernden Veranstaltung. Unter der Prämisse weniger streng gehandhabter Menschenrechte wird der „Zusammenhalt“ zur politischen Metapher für gesellschaftliche Integration durch Ausschluss.
Dass aber die autoritäre Grenzziehung zwischen einem gesellschaftlichen Innen und Außen ohne Weiteres auch in die Binnenunterscheidung von würdigen und unwürdigen Staatsbürger:innen umschlagen kann, zeigt gerade die deutsche Geschichte.
In der schönen neuen Welt grenzsouveräner Nationalstaatsgemeinschaften werden Menschenrechte nachrangig und die Menschenwürde verhandelbar. Offenkundig sind gesellschaftliche Mehrheiten für derartige Vorstellungen einer vermeintlichen Krisenlösung empfänglich.
Wer sie propagiert, sollte aber zumindest darauf verzichten, dies als Ausweis gesunden Menschenverstands und konservativen Akt der Neukalibrierung der Menschenwürde zu verkaufen. Ehrlicherweise wäre der „Systemwechsel“ als das zu benennen, was er ist: die weitere Verschärfung einer Migrationspolitik, die über Leichen geht.
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