Wirtschaftskrise in Deutschland: Raus aus der Energieschockstarre
Besser sofort statt mit einem verfehlten „Sofortprogramm“: Mit zielgenauen Maßnahmen lässt sich Deutschlands Wachstumsschwäche angehen.
W urde das Sommerloch in diesem Jahr zunächst von einem Löwen im Berliner Umland gefüllt, der sich am Ende als Wildschwein entpuppte, hat sich die öffentliche Debatte inzwischen einem ernsteren Thema zugewandt: der deutschen Wachstumsschwäche.
Wie jüngst vom Statistikamt Destatis verkündet, ist die deutsche Wirtschaft in der ersten Jahreshälfte nicht mehr gewachsen, mit den Rückgängen über den vergangenen Winter dürfte sie im Gesamtjahr 2023 sogar schrumpfen. Eine durchgreifende Besserung ist nicht in Sicht. Stattdessen drohen immer mehr Unternehmen mehr oder weniger deutlich mit Produktionsverlagerung.
Talkshows und Meinungsspalten in den Zeitungen sind derweil gefüllt mit Reformideen, von denen viele nicht neu sind. Viele Expert:innen und Politiker:innen holen genau jene Lieblingsvorschläge aus der Schublade, die sie seit Jahren propagieren – sei es zur Entlastung bei Erbschaftssteuer, zur Steuerreform, zur Einwanderung von Fachkräften oder zum Abbau von Bürokratie.
Das ist schade. Denn Deutschland hat tatsächlich ein paar drängende wirtschaftliche Schwierigkeiten. Und diese brauchen Lösungen, die auf die aktuelle Problemlage zugeschnitten sind. Für eine gute Wirtschaftspolitik ist es nämlich aktuell egal, woher die Wachstumsschwäche kommt.
Natürlich gibt es Probleme mit unnötiger Bürokratie
Natürlich hat Deutschland Probleme mit unnötiger Bürokratie und langsamen Verwaltungen. Die Integration von Migrant:innen in den Arbeitsmarkt verläuft zu schleppend und wir bräuchten mehr qualifizierte Einwanderung. Auch sind unsere Verkehrswege in traurig vernachlässigtem Zustand.
Nur: Das alles ist nicht das, was das Wirtschaftswachstum akut abwürgt oder womit man schnell die Wachstumsschwäche überwinden könnte. Vielmehr gibt es eine klare Ursache, die über drei Kanäle derzeit das Wachstum ausbremst: Deutschland verarbeitet gerade einen Energiepreisschock in historisch ungekanntem Ausmaß.
Die russische Invasion in die Ukraine hat die Energiepreise von Erdölprodukten, von Gas und – über die Gasverstromung und das aktuelle Strommarktdesign – auch von Elektrizität sowie die Nahrungsmittelpreise in die Höhe schießen lassen. Dadurch hat sich die Inflation beschleunigt, die Kaufkraft ist gefallen und die Europäische Zentralbank hat die Zinsen so kräftig und schnell erhöht wie nie zuvor.
Gebeutelt von hohen Energiepreisen, haben die Privathaushalte in Deutschland seit vergangenem Herbst ihren Konsum zurückgefahren, so stark wie – außer in der Coronapandemie – noch nie, seit es Daten für Gesamtdeutschland gibt. Zugleich haben die gestiegenen Zinsen dazu geführt, dass viele Wohnungsbauprojekte auf Eis gelegt wurden. Ein regelrechter Einbruch der Hypothekenkreditvergabe und der Baugenehmigungen deutet darauf hin, dass das dicke Ende hier erst noch bevorsteht.
20 Prozent weniger
Doch die hohen Energiekosten treffen nicht nur die Nachfrageseite, sondern auch das Angebot: Die energieintensive Industrie in Deutschland hat zuletzt rund 20 Prozent weniger produziert als Ende 2021.
Und weil es derzeit überhaupt nicht absehbar ist, was Strom in einem, in fünf oder in zehn Jahren in Deutschland kostet, nachdem der Strompreis im Großhandel in den vergangenen zwölf Monaten zwischen negativen Preisen und 700 Euro pro Megawattstunde (MWh) geschwankt hat, halten sich viele Unternehmen mit Investitionen zurück. (Zum Vergleich: Noch 2019 schwankte der Strompreis meist in einem recht engen Korridor um 50 Euro pro MWh.) Insbesondere in jenen Branchen, in denen Strom ein wichtiger Produktionsfaktor ist, ist derzeit kaum abzusehen, ob eine neue Anlage tatsächlich rentabel sein wird oder nicht.
Diese Unsicherheit dämpft aber nicht nur kurzfristig das Wirtschaftswachstum. Sie droht auch gravierende Schäden an der deutschen Wirtschaftsstruktur zu verursachen. Wenn etwa ein Stahlwerk geschlossen wird, ohne dass eine Ersatzinvestition vor Ort stattfindet, orientieren sich die Kunden um. Sie kaufen den Stahl woanders. Zugleich gehen hierzulande Fähigkeiten verloren, weil sich die Beschäftigten umorientieren, die Branche wechseln oder in Rente gehen. Eine spätere Stabilisierung der Stromkosten wird dann nicht die Produktionskapazitäten zurückbringen, die einmal verloren sind.
Viele der nun ventilierten Vorschläge gehen an diesen Problemen vorbei: Pauschale Steuersenkungen oder traditionelle Konjunkturprogramme sind in dieser Situation keine sinnvollen Maßnahmen. Steuersenkungen beseitigen die Unsicherheit nicht, traditionelle Konjunkturprogramme brauchen Zeit, bis sie wirken, während vereinbarte Lohnerhöhungen absehbar die Kaufkraft wieder stabilisieren. Wenn sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht noch deutlich verschlechtert, dürfte der Tiefpunkt beim Konsum hinter uns liegen. Es ist also sinnvoller, sich auf die Angebotsseite des Problems zu konzentrieren.
Ein besonders gutes Beispiel für unfokussierte Maßnahmen, die mit den Ursachen der Wachstumsschwäche nichts zu tun haben, ist das von der Union vorgeschlagene „Sofortprogramm“. CDU und CSU wollen unter anderem die Erbschaftssteuer auf das Elternhaus abschaffen. Abgesehen davon, dass ohnehin keine Steuer für jene anfällt, die eine elterliche Immobilie normaler Größe nutzen, bringt das Geschenk an reiche Erben überhaupt nichts für das Wachstum. Die ebenfalls vorgeschlagene Steuerfreistellung von Überstunden bearbeitet auch keine der Krisenursachen, sondern regt vor allem dazu an, Abläufe so zu organisieren, dass Überstunden statt normale Arbeit geleistet werden.
Planungssicherheit muss geschaffen werden
Ein weiterer Vorschlag der Union, einbehaltene Gewinne geringer zu besteuern, bringt keine Investitionen, sondern verleitet Unternehmen, Geld in Finanzanlagen zu parken statt auszuschütten. Von den Unionsvorschlägen macht nur einer kurzfristig Sinn: die verbesserten Abschreibungsbedingungen für Investitionen.
Was wäre aber zu tun, wenn man die Problemanalyse teilt, dass Deutschland unter den direkten und indirekten Folgen des Energiepreisschocks leidet?
Erstens muss – so weit wie möglich – Planungssicherheit bei den Energiekosten geschaffen werden. Im Zentrum steht hier der Strompreis, der für die Elektrifizierung der Industrie und damit für Investitionen in eine CO2-freie Zukunft zentral ist. Dafür sollte über einen Brückenstrompreis ein klarer Erwartungspfad für künftige Strompreise geschaffen werden. Ein solcher Brückenstrompreis würde die Stromkosten so weit deckeln, dass ein massives Überschießen über langfristig realistische Preise verhindert wird.
Alles deutet darauf hin, dass Strom in der Zukunft, wenn die Dekarbonisierung des Stromsystems abgeschlossen ist, hierzulande wieder deutlich günstiger sein wird als in den vergangenen zwölf Monaten. Deutschland hat zwar nicht die Bedingungen für Solarenergie wie Südspanien oder die Sahara, aber dafür hervorragende Bedingungen für Offshore-Windenergie in der Nordsee und zum Speichern von Wasserstoff in Gaskavernen.
Wenn aber die jetzt beobachteten Preisspitzen nur vorübergehend sind, so ist es irrsinnig, aufgrund solcher Marktkapriolen den Verlust von Industriestandorten hinzunehmen, die nach einer Übergangszeit wieder wettbewerbsfähig in Deutschland betrieben werden könnten und im globalen Vergleich hohe Klima- und Umweltstandards haben.
Um die Potenziale für erneuerbare Energien in verlässlich wettbewerbsfähige Strompreise zu übersetzen, müsste ein klares Konzept aufgestellt und kommuniziert werden, wie der Ausbau der nichtfossilen Stromerzeugung genau aussehen soll und wo der Strompreis damit erwartbar Ende des Jahrzehnts und Mitte der 2030er Jahre liegen wird.
Bundesregierung soll Austeritätsmoratorium ausrufen
Finanzierungskosten machen dabei einen wichtigen Kostenfaktor für den Preis der erneuerbaren Energien aus. Für die notwendigen Investitionen sollte deshalb verbindlich öffentliches Kapital zugesagt werden. Auch über eine Reform des Strommarktdesigns muss man reden, um die bisher im Strommarkt oft beobachteten Übergewinne bei unerwarteten Preisanstiegen zu begrenzen und damit die Preise niedrig zu halten.
Zweitens sollte die Bundesregierung ein Austeritätsmoratorium ausrufen: Die Ausnahmeregel der Schuldenbremse sollte 2024 erneut genutzt werden und Kürzungen im Bundeshaushalt ausgesetzt werden, weil diese – wie die Kürzungen beim Elterngeld oder bei der Bafög-Erhöhung – zur Unzeit den Privatkonsum erneut dämpfen.
Drittens sollte die SPD-geführte Bundesregierung den Unternehmen die Möglichkeit geben, ihre Investitionen befristet schneller abzuschreiben als bisher, so wie es schon vor der Union viele Wissenschaftler:innen und Politiker:innen vorgeschlagen haben. In der Vergangenheit hat dieses Instrument regelmäßig Investitionen angekurbelt.
Öffentlichen Wohnungsbau nutzen
Viertens sollte der öffentliche Wohnungsbau genutzt werden, um die Bauaktivität in dem Moment zu stabilisieren, in dem die private Wohnungsbaunachfrage schwächelt. Deutschland befindet sich in der paradoxen Situation, dass auf der einen Seite ein akuter Mangel an bezahlbarem Wohnraum herrscht und dieser Mangel sich zunächst aufgrund von Flüchtlingszuwanderung insbesondere aus der Ukraine noch einmal verschärft hat, aber zugleich die Wohnungsbauaktivität einbricht. Es besteht sogar die Gefahr, dass Bauunternehmen Beschäftigte entlassen und Kapazitäten abbauen.
Hier könnte eine kurzfristig verstärkte Förderung des kommunalen Wohnungsbaus helfen, das Angebot an bezahlbaren Wohnungen zu erhöhen und gleichzeitig den Verlust von Baukapazitäten zu verhindern.
Vertrödelt man jetzt die Zeit tatenlos oder mit der Diskussion von Reformen, die nichts mit den aktuellen Problemen zu tun haben, so riskiert man nicht nur eine längere konjunkturelle Schwächephase, sondern tatsächlich den strukturellen Verlust von Produktionskapazitäten in Deutschland. Es wäre schön, wenn sich die Politiker:innen in Regierung und Opposition diese Verantwortung bewusst machen würden.
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