Widerstand gegen Putins Herrschaft: Der Mut der Chancenlosen
Es geht beim Ukraine-Krieg nicht nur um Kosten-Nutzen-Rechnungen. Eine Hommage an die Menschen, die nicht kapitulieren wollen.
F ür fünf Sekunden Antikriegsprotest im russischen Staatsfernsehen wird die Journalistin Marina Owsjannikowa womöglich mit fünf Jahren Gefängnis bezahlen. Vielleicht werden es auch 15 Jahre. Ihr Aufschrei gegen russische Propaganda könnte auch tödlich enden, mit einem „Autounfall“, wie sie selbst befürchtet. Auf jeden Fall wird ihr Leben – und das ihrer beiden Kinder – nie wieder normal sein. War es das wert? Nach einer kühlen Kosten-Nutzen-Rechnung eher nicht. Putins Kriegspropaganda flimmert weiter über die Bildschirme. Doch was wäre die Welt ohne Menschen wie Owsjannikowa? Ohne den Mut der Chancenlosen?
Wenn es nach dem Philosophen Richard David Precht ginge, sollte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski so bald wie möglich kapitulieren. Warum kämpfen, wenn man angesichts der militärischen Überlegenheit Russlands ohnehin verlieren werde? Könnte man nicht zahllosen Menschen viel Leid ersparen und Tausende Leben retten, wenn man so schnell wie möglich aufgeben würde? Aus pazifistischer Perspektive entbehrt Prechts Forderung nicht einer gewissen Logik. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Tote wird es zu beklagen geben.
Wenn man nur die Zahlen des militärischen Geräts und der Soldaten auf russischer Seite betrachtet, könnten die Ukrainer das Aufbäumen gegen Putins Imperialismus gleich sein lassen. Die Übermacht ist offensichtlich. Doch ginge es allein um das Gegenrechnen von Panzern, Raketen und Truppen, würden Mathematiker Krieg führen. Die Realität gestaltet sich komplexer, besonders wenn die betroffenen Menschen um ihre Existenz fürchten.
Für die Ukraine geht es um alles; um ihr Fortbestehen als Staat, um die eigene Identität, Selbstbestimmung und ja, auch um Freiheit und Demokratie. Manche mögen es nationalistisch finden, dass die Ukrainer nicht in einem neosowjetischen Putin-Reich aufgehen wollen. Und natürlich würden wir uns in einer idealen Welt nur noch als Erdenbürger verstehen, die sich allein um das Wohlergehen des Planeten und seiner Lebewesen kümmerten – ganz ohne die eigennützigen Interessen einzelner Staaten.
Israelisierung statt Finnlandisierung
Fernab dieser Zukunftsutopie aber ist es der Mut der Chancenlosen, der Owsjannikowas, Selenskis und Klitschkos, der die Welt bewegt. Oder sollte man vielleicht sagen: der vermeintlich Chancenlosen? Precht hat in seiner großen Weisheit außer Acht gelassen, dass durchaus nicht alle gescheitert sind, die eigentlich keine Chance hatten. Nehmen wir ein Land, auf das manche Ukrainer bereits als Vorbild blicken: Israel. Als David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die israelische Unabhängigkeitserklärung verlas, erklärten noch in derselben Nacht Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Irak, Syrien und der Libanon dem jungen Staat den Krieg.
Precht hätte wohl auch damals nur empfehlen können zu kapitulieren. Die israelische Armee war kaum mehr als ein zerlumpter Haufen ehemaliger Widerstandskämpfer. Doch sie hatte den Mut der Verzweiflung. Verlieren war nach dem Holocaust keine Option, nicht 1948 und nicht im Jom-Kippur-Krieg von 1973, der auch anders hätte ausgehen können. Heute ist Israel bis an die Zähne bewaffnet. Es wäre schon sehr verwunderlich, wenn die Ukrainer nicht eher eine Israelisierung als eine Finnlandisierung anstreben würden. Wie die Israelis haben sie in diesem Krieg gelernt, dass sie im Zweifel auf sich allein gestellt sind.
Politischer Mut ist aber auch dann bewundernswert, wenn er scheitert. Vielleicht gerade dann. Die französische Résistance, die Geschwister Scholl, der Aufstand im Warschauer Ghetto – man hätte es auch lassen können, wenn man politisches Handeln nur an den Erfolgsaussichten misst. Doch die Menschen, die diesen Mut aufbrachten, werden zu Recht bewundert.
Hätte man selbst das Zeug dazu, sich wie Marina Owsjannikowa, Alexei Nawalny oder Selenski einem Diktator in den Weg zu stellen? Man wünscht es sich, genauso wie man sich erhofft, dass der Bundeskanzler und sein Kabinett ein klein wenig von dem Mut hätten, den die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien gezeigt haben, als sie diese Woche aus Solidarität mit der Ukraine mitten durchs Kriegsgebiet nach Kiew reisten.
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