Weihnachtsdiskussion auf Twitter: Das Evangelium nach Ulf
Der Chefredakteur der „Welt“ findet die Christmette zu links. Die Twittergemeinde schreibt ihm daraufhin eine neue frohe Botschaft.
Der Priester spricht: Der Herr sei mit euch. Die Gemeinde antwortet: Und mit deinem Geiste. Lesung aus dem Buche Twitter.
Am heiligen Abend, als alle Welt es geschätzt hatte zur Christmette zu gehen, um vorher oder danach die Geschenke auszupacken und die Gänse in sich zu stopfen, da packte den Herrn der Zorn. „Wer soll eigentlich noch“, fragte der erzürnte Herr von Welt auf Twitter, „freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den #Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?“ Und fortan war kein Halten mehr.
Denn der christmettenenttäuschte Tweet stammte von niemand geringerem als Ulf Poschardt, bekennender FDP- und Porscheliebhaber und nebenbei noch Chefredakteur der Welt. Und die Botschaft des Herrn wurde geliked, geteilt ohn’ Unterlass – und noch heftiger kritisiert.
„Deutet das nicht eher darauf hin, dass christliche Werte wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Umweltschutz am ehesten bei der Grünen Jugend und den Jusos vertreten werden? Oder sollte Kirche an Weihnachten lieber wie AfD und Junge Union predigen?“, fragte etwa der Politikberater Lucas Gerrits und wurde darob virtuell tausendfach geherzt.
Justizstaatssekretär Ulrich Kelber (SPD) warf dem Kirchenkritiker Poschardt vor, er habe „ein beängstigend nach rechts unten verschobenes Koordinatensystem“. Und wollte vom Welt-Chef wissen: „Nächstenliebe und Bewahrung der Schöpfung stören Sie also als christliche Inhalte? Was wäre Ihnen denn wichtig?“
Grünen-Chefin Simone Peter hingegen fühlte sich angespornt, „mal wieder in eine Christmette“ zu gehen. Denn „Einmischung brauchen wir mehr denn je bei #Ungleichheit, #Abschottung, #Klimakrise.“
Poschardt aber lobpreiste jede Gegenstimme, kommentierte vieles mit einem schlichten „qed“ – wobei er im Ungefähren ließ, was genau er denn bewiesen haben wollte – und freute sich schließlich fast ohne Schaum vor dem Munde: „Herrlich wie dieser Tweet von einer Allianz aus #spd #grüne #justemilieu-medien zerfetzt wird #qed“. Als ob die Kritik des Kritikers für ihn das größte Weihnachtsgeschenk aller Zeiten gewesen sei, garnierte Poschardt jeden seiner verbalen Schienbeitritte mit einem freundlichen „Frohes Fest“.
Da aber brachen alle Dämme. Spätestens als Danijel Majic, Redakteur bei FR-Online, am ersten Weihnachtstage, twitterte: „Ich muss sagen, ich finde diesen Tweet so grandios, dass er eigentlich schon seinen eigenen Hashtag verdient: #PoschardtEvangelium“ und anschließend die Lesung aus dem neuesten Testament begann.
„Und der Herr sprach: Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein! Zu was anderem seit Ihr linken Gewalttäter ja nicht in der Lage!“, hob Majic an. „Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater…und deshalb, sage ich Euch, ist die Erbschaftssteuer Raub und ein Gräuel im Auge des Allmächtigen!“, legte er nach. Und machte weiter mit: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. Denn so ist es recht! Wir dürfen Leistungsträger schließlich nicht durch zu hohe Abgaben bestrafen, während wir Müßiggänger belohnen.“
Doch längst hatte Majic Jünger gefunden, die sein Wort in die Welt hinaustrugen und seine Weisheit ergänzten. „Darauf hub der neoliberale Samariter an und sprach zu dem unter die Räuber Gefallenen: Wahrlich ich sage dir, wir können nicht allen helfen. So kümmere dich nun eigentverantwortlich um deine Rettung, statt leistungslos im Staube zu liegen“, hieß es beispielsweise im Neuen Ulf-Evangelium laut einem Guido. „Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin und behalte alles, was du hast, und gib bloß nichts den Armen!“, ergänzte eine Anna. „Und Jesus traf auf die Alten, die in den Scheunen hausten, und sprach: Hättet ihr euch mal Eigentum angeschafft!“, berichtete eine Marvelous Marcy.
Nahezu das komplette Evangelium wurde binnen weniger Stunden unter dem Hashtag neoliberal neugeschrieben. Das Lesevergnügen dürfte nicht nur größer sein, als bei den allermeisten der unter dem Christbaum gefundenen Schmöker. Nein, es wurde wohl auch schon lange nicht mehr so heiß und inbrünstig um die tiefere Bedeutung der Frohen Botschaft gestritten, wie an diesem Weihnachtsfest. Auf Twitter.
Der heilige Ulf aber zeigte sich unerschütterlich in seinem neoliberalen Glauben, nach dem jede Sozialromantik aus der Christmette zu verbannen sei, unterstellte ganz pharisäermäßig der Restwelt Pharisäertum, gab dem verlotterten Protestantentum eins mit, setzte hinter einen Papst-Tweet ein offen zu interpretierendes Ausrufungszeichen und betonierte sich schließlich in bigottgütiger Kritikresistenz ein: „Der Aufmarsch der Scheinheiligen. Die Richtigen fühlen sich angesprochen. Wunderbar. Frohes Fest.“
Und als endlich die Metadiskussion über den Sinn von politischen Predigten im besonderen, sowie die Qualität von Kirchenpredigten im allgemeinen einsetzte und erste Vorschläge gemacht wurde, wie man die Enttäuschung der Kirchgänger gleich welchen politischen Glaubens vermeiden könnte, wurde auch noch die Nachricht recycelt, dass Kardinal Marx schon kurz vor der Weihnacht eine Wiederkehr des Marxismus voraussagte und dass Kardinal Woelki – zwar nicht in der Christmette, aber doch am ersten Weihnachtstag – in seiner Predigt gegen Immobilienspekulanten wetterte.
Auf Twitter jedenfalls war Weihnachten in diesem Jahr ein poshes Fest der Hiebe und der Nächstenliebe.
Der Priester schließt ab: Aus dem Twitter-Evangelium nach Ulf. Die Gemeinde antwortet: Ehre sei dir, o Herr.
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