Wagner-Aufstand in Russland: Prigoschin stoppt offenbar seinen Marsch auf Moskau
Alles wieder vorbei? Die Lage nach dem versuchten Aufstand von Jewgeni Prigoschin und seiner Söldnertruppe Wagner ist weiterhin unübersichtlich. Den Marsch auf Moskau hat er nach eigenen Angaben offenbar beendet. Was das für ihn und für Wladimir Putin heißt, ist unklar.
Zuvor soll der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mit Prigoschin verhandelt haben. Ein Ende der Staatskrise in Russland ist das nicht. Es offenbart vor allem die Auswüchse des Chaos, in das sich Putins Regime mit dem Überfall auf die Ukraine hineinmanövriert hat.
Videos aus Rostow am Don zeigen am Abend, wie die „Wagnerowzy“, wie die kampferprobten Truppen in Russland genannt werden, sich zurückziehen. Seit Freitagnacht hatten sie die Millionenstadt im Süden Russlands kontrolliert. Auch andere Städte auf dem Weg nach Moskau wollen sie nach eigenen Angaben unter ihre Kontrolle gebracht haben.
Noch am Samstagmorgen hatte der als „Putins Koch“ geltende Unternehmer Prigoschin bei Tee und Kaffee mit dem Vize-Verteidigungsminister und dem Vize-Generalstabschef zusammengesessen und die Herausgabe des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu gefordert, gegen den er seit Monaten verbal massiv vorgeht. Die „Schande“ müsse beendet werden, solange das nicht geschehe, werde er Rostow blockieren und nach Moskau vorrücken, hatte er angedroht und dieses Vorhaben als „Marsch der Gerechtigkeit“ bezeichnet.
Moskau hatte seine Abwehrbereitschaft gestärkt, mehrere Regionen hatten alle Massenveranstaltungen abgesagt. Moskau rief eine „Antiterroristische Operation“ aus und ließ mehrere Museen und Parks schließen.
Empfohlener externer Inhalt
Zum ersten Mal hatte Prigoschin Putin direkt angegriffen und damit ein Tabu gebrochen. Dieser irre sich, wenn er sein Ansinnen als „Verrat“ ansehe. 25.000 Soldaten stünden hinter ihm, hatte er gesagt und weitere aufgerufen, sich ihm anzuschließen. Der Söldner-Chef, der für die Schlachten in der Ukraine mithilfe des russischen Staates auch zahlreiche Gefangene rekrutiert hatte, hat durchaus Sympathien in gewissen Kreisen im Land.
Prigoschins Aufstand hatte sich abgezeichnet
Am Samstagvormittag wandte sich schließlich Russlands Präsident Wladimir Putin in einer fünfminütigen Fernsehansprache an sein Volk. Er, der sich stets als Garant der Sicherheit feiern ließ, hat diese Rolle längst eingebüßt. Dennoch versuchte er, sich bei seinem Auftritt als derjenige zu geben, der durchgreift. Eine Revolte führe nur zur Anarchie und sei tödlich für das Land und das Volk, sagte er und sprach von Bestrafung für jeden, der sich bewusst zum Verrat entschieden habe.
Putin bezeichnete die Wagner-Kämpfer als Helden – in der Ukraine nahmen die „Wagnerowzy“ vor allem die Städte Soledar und Bachmut ein –, Prigoschin selbst nannte er nicht beim Namen, bezichtigte ihn aber des Hochverrats. Putin sprach von einem „Dolchstoß“ in den Rücken und verglich das Vorgehen mit der Oktoberrevolution 1917. Die Lage in Rostow bezeichnete er als „schwierig“, faktisch sei die Arbeit der zivilen und militärischen Verwaltung blockiert. Damit gestand er ein, dass dem Kreml die Kontrolle entglitten ist.
Der Aufstand Prigoschins hatte sich seit Monaten abgezeichnet. Lange hatte der Söldner-Chef eine Carte blanche des Kremls, konnte schimpfen, kritisieren, beleidigen. All das tun, wofür andere längst wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ ins Gefängnis geworfen worden wären. Prigoschin polterte in bester Gossensprache gegen Schoigu, Putin ließ ihn gewähren, egal, wie weit Prigoschin die Grenzen des Sagbaren gedehnt hatte. Den Bogen aber hatte er am Freitag überspannt – und den Streit eskalieren lassen.
Ob seine faktische Unantastbarkeit nun vorbei ist, ist allerdings fraglich. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte ein Strafverfahren wegen Organisation eines militärischen Aufstands gegen ihn eingeleitet. Darauf stehen 12 bis 20 Jahre Freiheitsentzug. Der Inlandsgeheimdienst FSB hatte bereits zuvor Ermittlungen angekündigt. Ob es jetzt dabei bleibt? Dazu gab es zunächst keine Angaben.
Die Lage im Land ist derweil weiterhin ernst. Die Zufahrtsstraßen nach Rostow, an der Grenze zum Donbass, sind gesperrt. Moskau behält seinen arbeitsfreien Montag, den der Bürgermeister Sergei Sobjanin im Zuge seiner ausgerufenen „Antiterror-Operation“ angeordnet hatte.
Damit kontrolliert der FSB die Lage und hat zusätzliche Kompetenzen. Er darf alle Gespräche abhören, die Nachrichten im Internet kontrollieren, darf Fahrzeuge konfiszieren und Wohnungen durchsuchen. Er darf auch ohne Verdacht die Menschen durchsuchen und jeglichen Verkehr einschränken. Ebenso könnte das Internet abgestellt werden.
In Moskau sind die GPS-Sender gestört, an manchen Straßen stehen Polizisten mit Maschinengewehren. Sonst lebt die Stadt ihr Wochenendleben, als sei nichts geschehen. 300 Kilometer der wichtigen Verbindung zwischen Moskau und dem Süden sind auch nach Prigoschins geplantem Rückzug gesperrt.
Parallelstrukturen in Putins Reich
Auf den Straßen der Hauptstadt herrschte am Samstag die übliche Ignoranz. „So ein Mist, das Schulabschlussfest meiner Tochter im Gorki-Park wurde abgesagt. Ich verstehe nicht, warum“, sagte ein Mann im Zentrum. „Sind diese Söldner dafür verantwortlich?“, fragte eine Frau ungläubig. „Aber was wollen sie denn überhaupt?“ Ein weiterer Mann beschwichtigte: „In ein paar Tagen ist alles wieder ruhig hier. Sie streiten sich, sie vertragen sich auch wieder. Wir haben eine wichtige Sache zu gewinnen“, meinte er. Die „wichtige Sache“ ist der Krieg in der Ukraine, den viele Russinnen und Russen wenn auch nicht gutheißen, so doch rechtfertigen. „Wir stecken nun drin, dann müssen wir es auch zu Ende führen und siegen“, sagen sie dann.
Prigoschin hatte Schoigu vorgeworfen, dass dieser lediglich aus Eigennutz und für einen Stern auf den Schulterklappen das Land in den Krieg gegen die Ukraine gestürzt habe. Eine militärische Notwendigkeit habe nicht bestanden. Die Rede von der Entmilitarisierung und der Entnazifizierung – diese Schlagworte nennt Putin immer noch als Ziel des russischen Angriffs auf die Ukraine – sei ein von ihm geschaffener Mythos. Der 62-jährige Prigoschin ist das Gesicht des innenpolitischen und innermilitärischen Problems Russlands. Den Konflikt geschaffen aber hat der russische Präsident, der zuliess, dass mit dem Wissen des Staates Privatarmeen gegründet werden, die faktisch vom Staat bezahlt werden, vom Staat mit Waffen versorgt und mit Sträflingen bestückt werden.
Prigoschin ist nicht der einzige, der Parallelstrukturen aufgebaut hat. Auch Tschetscheniens Herrscher Ramsan Kadyrow hat eine bis auf die Zähne bewaffnete Truppe, die in der Ukraine kämpft. Kadyrow ließ sich vor zwei Wochen darauf ein, seine „Achmat“-Einheit unter Vertrag des russischen Verteidigungsministeriums laufen zu lassen. Prigoschin wehrte ab. Am Samstag war es Kadyrow, der Moskau seine Hilfe im Chaos anbot und gegen Abend vor Rostow gestanden haben will. Für Putin ist der abgesagte Aufstand seine bislang stärkste Niederlage.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich