Verkehrswende in Paris: Reise nach Utopia
Ein Besuch der Grünen in Paris zeigt: Der Stadtumbau ist machbar, wenn man denn nur will. Berlin könnte viel von der französischen Hauptstadt lernen.
Die „Baignade Bras-Marie“ ist eines von drei Pop-up-Flussbädern, die die Stadt ihren BewohnerInnen in diesem Sommer geschenkt hat – nachdem sie vergangenes Jahr die Wasserqualität des Flusses für die Olympischen Spiele mit Mühe auf ein vertretbares Niveau gebracht hatte.
Um Fortbewegung im Wasser geht es der grünen Berliner Abgeordneten aber eigentlich nicht bei ihrem Besuch der Partnerstadt, vielmehr um die auf den Straßen. Mit ihrer Kollegin Oda Hassepaß und einigen MitarbeiterInnen ist sie für drei Tage hergekommen, um sich ein Bild von der Mobilitätswende à la française zu machen.
Paris wird in Berlin seit Jahren als strahlendes Vorbild und Gegenentwurf zum stockenden Stadtumbau an der Spree hochgehalten, auch von den beiden verkehrspolitischen Sprecherinnen der Grünenfraktion. Jetzt wollen sie sich das einmal mit eigenen Augen ansehen – und verstehen, warum auch anscheinend hier geht, was Berlin nicht so recht hinkriegt.
So wenig Autos
Schon der erste Spaziergang durchs Marais, das alte Viertel am rechten Seineufer, lässt die Berliner Delegation ins Schwärmen geraten: So wenig Autos, so viele FußgängerInnen, so viele Fahrräder! Auf der Rue Rivoli, wo sich noch vor wenigen Jahren das Blech vom Hôtel de Ville bis zu den Tuilerien staute, ist nur noch eine Spur für Kraftfahrzeuge übrig. Daneben, mit Granitschwellen und Pollern abgegrenzt, verlaufen breite Radspuren in beide Richtungen, die auch gut genutzt werden.
Besonders freuen sich die BesucherInnen, als sie ein Lastenrad entdecken, das drei „Vélibs“ transportiert. Die graugrünen Leihräder, mechanische und elektrische, sind allgegenwärtig, überall gibt es Stationen, an denen manchmal mehrere Dutzend angedockt auf die nächste Fahrt warten.
In Berlin hat die Senatsverkehrsverwaltung gerade die Förderung für das Leihradsystem der Firma Nextbike auslaufen lassen. Die vergleichsweise wenigen festen Stationen werden gerade abgeschraubt und werden in vielen Fällen wieder Parkplätzen für Autos weichen. Auch sonst hat die CDU es nach zwei Jahren in der Landesregierung geschafft, die vorsichtige Aufbruchstimmung der grünen Verkehrspolitik seit 2016 wieder abzuwürgen. Gelder werden gekürzt, Projekte gestoppt, Geschwindigkeitsbegrenzungen wieder aufgehoben.
In Paris dagegen scheint es akzeptierte Normalität zu sein, dass seit 2021 überall mit wenigen Ausnahmen Tempo 30 gilt – wobei dieses Stadtgebiet nur der Fläche innerhalb der Berliner Ringbahn entspricht, aber ungleich dichter besiedelt ist. Begrenzt wird es von der Stadtautobahn périphérique, auf der seit letztem Herbst Tempo 50 herrscht.
Die Skepsis weicht
Köpfe sind deshalb trotz aller französischen Revolutionsliebe noch nicht gerollt. Wobei die Frau, die hinter all diesen Maßnahmen steht, die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo, bei den Kommunalwahlen im März 2026 nicht mehr antritt. Und der Kandidat ihrer Partei, Emmanuel Grégoire liegt in aktuellen Umfragen nur auf Platz zwei, weit hinter seiner konservativen Konkurrentin, der französischen Kulturministerin Rachida Dati.
Knapp hinter Grégoire sieht die Meinungsforschung den Grünen David Belliard, Hidalgos Stellvertreter und zuständig für Verkehrsangelegenheiten.

Kapek und Hassepaß treffen ihn an einem symbolischen Ort: in einer der schon fast 300 Pariser Schulstraßen. In der Rue Charles Baudelaire im 12. Arrondissement (Stadtbezirk) parkt der schlanke Mann mit dem kurz getrimmten Vollbart sein E-Bike vor der école maternelle, einem staatlichen Kindergarten und weist die BesucherInnen gleich stolz auf die Obstbäume hin, die die Stadt hier gepflanzt hat. Sie sorgen für frisches Grün und ein paar Früchte, während auf beiden Seiten des Straßenabschnitts simple Schranken den motorisierten Verkehr draußen halten. Nur Müllabfuhr oder Feuerwehr dürfen sie öffnen.
„Als wir diese Straße vor vier Jahren als eine der ersten umgestaltet haben, gab es noch viel Skepsis“, sagt Belliard. „Heute ist das alles viel leichter geworden. Wenn mich Leute sehen, fragen sie: Wann macht ihr das endlich auch vor der Schule meiner Kinder?“ Dabei habe anfangs gar nicht das Sicherheitsargument die Hauptrolle gespielt, sondern die heftige Luftverschmutzung. An manchen Tagen hätten die Kinder in den Pausen nicht zum Spielen das Gebäude verlassen dürfen. Dass die Pariser Luft mittlerweile deutlich besser geworden ist, wie alle Messungen zeigen, dürfte freilich an der Summe aller Maßnahmen in der Stadt liegen, nicht nur an der Verkehrsberuhigung im direkten Umfeld.
Viel Geld hilft viel – und Personal
Belliard spricht über den „Plan Vélo 2“ für den Ausbau der Fahrradinfrastruktur in Anne Hidalgos laufender zweiter Amtszeit: Ein Paket von 250 Millionen Euro, nach dem 150 Millionen umfassenden ersten Programm in den Jahren von 2015 bis 2020. Zahlen, die so manchen BerlinerInnen Tränen in die Augen treiben dürften.
Aber Geld sei ja eigentlich auch in der deutschen Hauptstadt genug da, wirft Antje Kapek ein und erwähnt die „Tangentialverbindung Ost“, die Straße zwischen Marzahn und der Wuhlheide, die der Senat sich mehrere Hundert Millionen Euro kosten lassen will. Und Oda Hassepaß gibt zu bedenken, dass die Folgen eines ungebremsten Klimawandels am Ende noch viel teurer würden: „Wir haben doch gar keine Alternative.“
Dann aber können die beiden nur staunend zur Kenntnis nehmen, was der stellvertretende Bürgermeister noch über das Pariser Erfolgsrezept sagt: „Wir haben eine personell sehr gut ausgestattete Stadtverwaltung, von deren Effizienz ich selbst immer wieder überrascht bin.“ Von der Planung bis zur Ausführung könne diese vieles ganz ohne Ausschreibungen durchführen. Sogar die benötigten StadtplanerInnen bilde man in Eigenregie aus. Fazit: „Wenn wir beschließen, eine Straße umzubauen, ist das zwei Jahre später erledigt.“
Gelebte Beteiligung
Bei einem weiteren Ortstermin, diesmal im 11. Arrondissement, verstärkt sich der Eindruck, dass Geld und Personal tatsächlich nicht die drängendsten Probleme in Paris sind. Andoni Briones und Justine Le vom Programm „Embellir votre quartier“ (frei übersetzt: „Unser Viertel soll schöner werden“) führen die Gruppe durch die schmalen Straßen im Pariser Osten und zeigen, wie diese an strategischen Stelle lebenswerter gestaltet werden. Das Programm startete 2021, damals wurden in der gesamten Stadt rund 40 Quartiere identifiziert. Es folgten Beteiligungsformate, bei denen die Verbesserungswünsche der BewohnerInnen ermittelt wurden.
„Die Leute sagen uns: Hier wollen wir mehr Bäume, hier ist es zu eng für jemanden im Rollstuhl, hier ist es zu laut“, so Briones, „sie sind die eigentlichen Experten für den Stadtraum. Dass sie sagen, sie wollten alles so lassen, wie es ist, kommt ziemlich selten vor.“ Bis zu 7 Millionen Euro pro Quartier können die PlanerInnen ausgeben. Zwei der vier Quartiere im 11. Arrondissement haben Briones, Le und ihre KollegInnen schon abgearbeitet, der Dritte ist in Arbeit, für den Vierten reicht die Zeit vor der Wahl nicht mehr aus, und das Team will nichts anfangen, was eine mögliche konservative Stadtverwaltung vielleicht nicht weiterfinanziert.
Die Gruppe versammelt sich auf der Place Marek Edelman, ursprünglich nur das Teilstück einer Nebenstraße vor der Einmündung in den Boulevard de Belleville. Jetzt ist es zu einer kleinen Fußverkehrsoase geworden.Neben Büschen gibt es statt parkenden und fahrenden Autos mehr Platz für die Tische eines Cafés und ein paar Open-Air-Fitnessgeräte.
Ein paar Ecken weiter erklärt Justine Le, dass die auf früheren Parkplätzen am Straßenrand angelegten und mit Büschen, Stauden und Gräsern dicht bepflanzten Grünflächen über eine automatische Bewässerung verfügen. Das verhindere, dass die Pflanzen schnell vertrocknen und unansehnlich werden und die Miniparks bald als Müllhalde missbraucht werden, sagt sie.
Heilige Kuh Auto
In Berlin wäre es weniger einfach, so viele Parkplätze wegzunehmen, merkt Antje Kapek an: „Bei uns sind Autos heilig.“ Das sei in Frankreich gar nicht so anders, erwidert Briones.
Andererseits: Zwei Drittel der Pariser Haushalte hätten kein eigenes Auto, schließlich sei der öffentliche Nahverkehr sehr dicht ausgebaut. Wer nicht aufs Auto verzichten könne oder wolle, habe aber immer die Möglichkeit, einen privaten Stellplatz zu mieten. In den Parkhäusern und Garagen gebe es genug Platz, die Zahlen lägen vor. Was die Begrenzung des Durchgangsverkehrs angehe, setzt das Programm übrigens weniger auf Poller oder Schranken, sondern auf Einbahnstraßen oder Schilder.
Ist Paris tatsächlich das Utopia der Verkehrswende, die große Blaupause für Berlin? So einfach ist es nicht. Das fängt beim ÖPNV an, der trotz vieler neuer Elektrobusse und einiger frisch eingeweihter Tramlinien vom riesigen Netz der Métro dominiert wird. Das unterirdische Labyrinth ist alles andere als barrierefrei: Ganze 90 Prozent aller Bahnsteige sind nur über Treppen zu erreichen, ein Umbau ist in vielen Fällen selbst mittelfristig kaum vorstellbar. Fahrräder dürfen übrigens auch nicht mitgenommen werden.
Über der Erde ist das Fahrradnetz zwar in den vergangenen Jahren beachtlich gewachsen, und auf vielen größeren Straßen rollt es sich bequem und mit sicherer Trennung vom Kfz-Verkehr. Allein durch die Verstetigung von Pop-up-Radwegen – in Frankreich coronapistes genannt – kamen in den vergangenen Jahren 45 Kilometer neu hinzu. Aber schon in der nächsten Straße können Radspuren plötzlich im Nichts enden oder werden handtuchschmal. Die Platzierung der Fahrradsymbole auf dem Asphalt wirkt manchmal fast improvisiert. Berliner RadaktivistInnen, die schon mal mit dem Maßband die Vorgaben des Mobilitätsgesetzes überprüfen, bekämen hier zuverlässig Herzrasen.
Auch der Zustand der knapp 20.000 Vélib-Leihräder ist beklagenswert. Die große Zahl relativiert sich schnell, wenn man merkt, wie viele von ihnen kaum oder gar nicht nutzbar sind. Die E-Bikes sind oft entladen und lassen sich nicht aus den Docks herauslösen, es gibt platte Reifen, Tretlager knacken erbärmlich, manchmal bricht auch einfach beim Anfahren eine Pedale ab.
Krise bei Vélib
Nach Einschätzung von Corentin Roudaut, Aktivist der Organisation „Paris en selle“ (Paris auf dem Sattel) ist die Betreiberfirma nicht in der Lage, das System mit der Fördersumme der Stadt und den politisch vorgegebenen günstigen Leihtarifen wirtschaftlich zu betreiben. Es sei auch nicht die erste Krise von Vélib, seit es 2007 unter Anne Hidalgos Vorgänger Bertrand Delanoë eingeführt wurde, so Roudaut.
Für ihn war es im Übrigen „die Bürgermeisterin, die den Unterschied gemacht hat“. Auch in Paris gab es seit Jahrzehnten Fahrradaktivismus, Hidalgo aber habe eben politisch massiv in den Stadtumbau investiert. Dabei sei sie aber auch von Zufallsfaktoren getragen worden: Schon vor der Coronapandemie hätten massive Eisenbahn- und Generalstreiks in den Jahren 2018 und 2019 für eine plötzliche Zweiradrenaissance gesorgt.
Für Antje Kapek und Oda Hassepaß geht es dennoch mit der Überzeugung zurück nach Berlin, dass ein Vergleich der beiden Metropolen keiner zwischen Äpfeln und Birnen sei, wie die CDU immer behaupte. Sie werden künftig wohl öfter im Abgeordnetenhaus auf ihre Pariser Beobachtungen verweisen.
Für den begleitenden taz-Journalisten ist übrigens noch etwas anderes hängengeblieben: In Paris herrscht ein spürbar anderer Esprit, eine gewisse Entspanntheit im Verkehr, die auch den BerlinerInnen guttäte. Gerast, gehupt, gedrängelt und geschimpft wird offenbar deutlich weniger als bei uns. Vielleicht ist es schon ein Erfolg der Verkehrsberuhigung, vielleicht ist es das Mehr an Savoir-vivre. Oder lag es einfach nur an den Sommerferien, in denen sich die halbe Stadt ans Meer verabschiedet?
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