Verhandlungen von Union und SPD: Koalition unterstellt Erwerbslosen pauschal Faulheit
Die künftige schwarz-rote Regierung will schärfere Strafen: Erfahrungen beim Bürgergeld aber zeigen, dass komplette Sanktionen kaum einlösbar sind.
Die Scharfmacherei wird die Stimmung in den Jobcentern versauen und auch sonst zu nichts Gutem führen. Denn es gibt Erfahrungen mit den Sanktionen, auch zuletzt im Bürgergeld. Dort hatte im März 2024 Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Sanktionen bei angeblicher Arbeitsverweigerung von Bürgergeld-Empfänger:innen bereits verschärft, auch durch den Druck der Union.
Der Regelsatz im Bürgergeld konnte ab März 2024 vollständig für zwei Monate gestrichen werden, wenn erwerbsfähige Leistungsempfänger:innen, die zuvor schon wegen Pflichtverletzungen sanktioniert worden waren, weiterhin eine „zumutbare Arbeit“ nicht aufnehmen, so steht es im Paragraf 31a im Sozialgesetzbuch II. Die Übernahme der Wohnkosten durfte dabei nicht versagt werden.
Diese „Totalverweigerer-Sanktion“ im Bürgergeld spielte aber „nach bisherigen Erfahrungen in der Praxis kaum eine Rolle aufgrund des nicht einlösbaren Tatbestandes,“ heißt es in einem Beitrag der Autoren Johannes Greiser, Richter am Sozialgericht Osnabrück, und André Oberdieck, Landkreismitarbeiter im Fachbereich Jobcenter in Göttingen. Der Beitrag findet sich im aktuellen Themenheft „Zwei Jahre Bürgergeld in der Praxis“ des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge.
„In der Praxis kaum durchführbar“
Der „nicht einlösbare Tatbestand“ bei den sogenannten „Totalverweigerer-Sanktionen“ liegt unter anderem darin, dass vor und während einer Komplett-Streichung des Regelsatzes „die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme tatsächlich und unmittelbar bestehen und willentlich verweigert werden muss“, so der Paragraf 31a, auf den Greiser und Oberdieck verweisen.
In der Praxis bedeutet dies, dass das Jobcenter bei einer solchen kompletten Sanktionierung nachweisen muss, dass der abgelehnte Job vor und während der Leistungskürzung weiterhin von einem bereitwilligen Arbeitgeber zur Verfügung stünde, also ohne weiteres sofort angenommen werden könnte. „Solche Nachweise sind in der Praxis kaum zu führen“, sagt ein Mitarbeiter eines Jobcenters der taz, der nicht namentlich in Erscheinung treten will.
Das Tatbestandsmerkmal „willentlich“ im Gesetz sei eine weitere Hürde für die Sanktionierung, schreiben Greiser und Oberdieck. Willentlich bedeute „mit voller Absicht“. „Es muss dem/der Leistungsberechtigten also gerade darauf ankommen, die Aufnahme der Tätigkeit zu vereiteln“, so die Autoren. „Die Beweisführung dürfte für die Jobcenter sehr schwierig sein.“ Eine Arbeitsaufnahme käme etwa dann nicht zustande, wenn sich Leistungsbezieher:innen beim Anschreiben oder beim Bewerbungsgespräch dem Arbeitgeber bewusst ungünstig präsentieren.
In einem Urteil des Bundessozialgerichts von 2006 (Aktenzeichen B 7a AL 14/05 R) erkannte das Gericht, dass ein „Bewerbungsschreiben einer Nichtbewerbung gleichzusetzen ist“ und damit eine Sperrzeit auslösen könne, wenn für den Bewerber klar sein muss, „dass ihn ein verständiger Arbeitgeber schon wegen des Inhalts oder der Form des Bewerbungsschreiben aus dem Bewerbungsverfahren“ ausschließe.
Im Röckchen zum Amt
Ein arbeitsloser Diplom-Ingenieur hatte auf Aufforderung des Arbeitsamtes ein eher abschreckendes Bewerbungsschreiben verschickt, dass der erboste Unternehmer an das Arbeitsamt weiter leitete mit dem Hinweis, der Bewerber habe offenbar überhaupt kein Interesse an der Tätigkeit als Disponent. Der Bewerber hatte in dem Anschreiben unter anderem erklärt, in einem bestimmten Arbeitsbereich weder Ausbildung noch Berufspraxis zu haben und „dies auch keine Wunsch-Tätigkeit wäre“. Das Gericht urteilte, „die Aufzählung besonders nachteiliger Umstände, die in keinem Zusammenhang mit der zu erbringenden Arbeitsleistung stünden“, sei „nicht gerechtfertigt, solange der Arbeitgeber nicht danach gefragt“ habe.
Wie wandelbar solche Einschätzungen sind, zeigt ein Blick in die Beiträge des „Erwerbslosen-Forums“. Dort gab es mal eine Diskussion darüber, ob das Jobcenter bewusste Arbeitsverhinderung unterstellen könne, wenn man im Bewerbungsgespräch darauf hinweise, dass man zu einem abgelegenen Arbeitgeber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kommen müsse, da man kein Auto besitze. In der Regel unterstellten die Arbeitgeber solchen Bewerbern dann potentielle Unzuverlässigkeit und sortierten sie aus, sagte ein Diskutant.
In den 80er Jahren im alten Westberlin gelang ein Langzeitarbeitsloser zu gewissem Ruhm in der Szene, der grundsätzlich im Röckchen zum Arbeitsamt ging – das Röckchen konnte ihm niemand verbieten. Die Zahl der Jobangebote hielt sich in Grenzen. Heute wäre das Röckchen möglicherweise kein Thema mehr. Wer im Bewerbungsgespräch die immer wieder kehrenden Rückenschmerzen erwähnt oder auf die Depressionen oder fehlende Vorerfahrungen hinweist, ist möglicherweise einfach nur ehrlich und kein Verweigerer.
„Das Problem ist nicht die Unwilligkeit oder die Willigkeit der Bewerber, die meisten sind willig“, sagt Claas Reichert, Disponent in Berlin bei der Zeitarbeitsfirma Arwa, im Gespräch mit der taz. „Das Problem besteht eher darin, dass die Jobcenter Bewerber und Bewerberinnen schicken, ohne vorher überhaupt zu prüfen, ob bei den Menschen die Voraussetzungen für die Arbeit gegeben sind, etwa in der beruflichen Vorerfahrung, in der Qualifikation, in der gesundheitlichen Verfassung.“ Reichert hatte schon 63jährige, die vom Jobcenter für einen Zeitarbeitsjob in der Produktion zu Arwa geschickt wurden. „Aber wenn jemand nicht mehr acht Stunden stehen kann, macht das keinen Sinn“, sagt der Personaldisponent.
Fließende Grenze zwischen Nicht-Wollen und Nicht-Können
Bei Arwa sprechen auch Menschen vor, die ganz offen angeben, nur aus Verpflichtung dem Jobcenter gegenüber zu kommen, die sich aber als ungeeignet für den Job halten und nur die schriftliche Bestätigung brauchen, dass sie bei der Firma waren, sich also der Bewerbung nicht entzogen haben. „Die kriegen die Bestätigung, das kommt öfter vor“, sagt Reichert.
Eine bewusste Verweigerung trotz Eignung für den Job kann das Jobcenter eher nachweisen, wenn die Arbeitslosen zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet werden, auch zu Ein-Euro-Jobs, und diese dann ablehnen. In einer fachlichen Weisung an die Jobcenter der Bundesagentur für Arbeit vom Oktober 2024 werden die Vermittler:innen aufgefordert, Langzeitarbeitslosen, die unter Verweigerungsverdacht stehen, vorrangig Ein-Euro-Jobs aufzudrängen. Die Ablehnung einer solchen Maßnahme kann zur Sanktion führen.
Im sozialen Bereich ist die „Zwangsarbeit“ der Helfer:innen für die Klient:innen dann aber unangenehm. „Man fühlt sich schon etwas blöd, wenn der Helfer klagt, er sei nur wegen der Verpflichtung vom Jobcenter da, um Kürzungen beim Bürgergeld zu vermeiden“, erzählt eine Rentnerin aus Berlin-Tempelhof, die wegen einer zwischenzeitlichen Gehbehinderung von einem Ein-Euro-Jobber eines gemeinnützigen Trägers beim Einkauf begleitet wurde. Der Mann meldete sich alsbald krank. „Wenn jemand einen Job partout nicht will oder nicht kann, lässt er sich krankschreiben“, sagt der schon oben zitierte Jobcenter-Mitarbeiter.
Die Grenze zwischen Nicht-Wollen und Nicht-Können ist ohnehin fließend. „Zu bedenken ist, dass es einen nicht unerheblichen Teil von Menschen im Transferleistungsbezug gibt, die aufgrund psychischer Dispositionen gehemmt sind, sich in den Verpflichtungsrahmen des SGB II einzupassen“, schreiben Greiser und Oberdieck. Immerhin steht im Arbeitsgruppenpapier bei den Koalitionsverhandlungen, dass die „besondere Situation“ von „Menschen mit psychischen Erkrankungen“ bei einer möglichen Sanktionierung berücksichtigt werden soll.
In den Anfängen des Bürgergeldes im Jahre 2023 wurde vor allem auf die Qualifikationsmöglichkeiten, auf Kooperation der Langzeitarbeitslosen mit den Jobcenter-Mitarbeiter:innen Wert gelegt. Der Wind hat sich gedreht. „Von der gerade stattfindenden politischen und trägerübergreifenden Debatte wird es letztlich abhängen, was von der Startaufstellung des Bürgergeldes übrig bleiben wird“, schreiben Greiser und Oberdieck.
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