Erde und frisches Grün, im Hintergrund Wald

Ein Stein zeugt noch vom Gutshaus Foto: privat

Vergangenheit in Pommern:Die Schuld meiner Mutter

Die Mutter war Vertriebene und starrsinnig, was den Holocaust angeht. Unsere Autorin reist nach Pommern, wo alles seinen Anfang nahm.

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24.7.2021, 18:34  Uhr

Ein Backstein liegt jetzt in meinem Kofferraum, ein zerbrochener Klinker. Er ist graugrün, an den Bruchstellen kommt der ziegelrote Ton hervor. Ein alter Stein. Wo war sein ursprünglicher Platz? Was hat er gesehen? Sicher ist: Bevor er auf einem Schutthaufen landete und später in meinem Auto, saß er im Gemäuer des Geburtshauses meiner Mutter.

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Mein Bruder Nik und ich sind auf der Fahrt von Kołobrzeg (deutsch Kolberg) nach Koszalin (Köslin) entlang der polnischen Ostseeküste. Vor dem Hotel Gromada in der Ulica Zwycięstwa (zwischenzeitlich Adolf-Hitler-Straße) treffen wir Henryk Ga­weł, 61 Jahre alt, Fremdenführer und Professor für Germanistik und Geschichte an der Koszaliner Universität. Das polnische Fremdenverkehrsamt in Berlin hat ihn vermittelt.

Wir sind auf der Suche nach dem Elternhaus unserer Mutter; ohne ortskundige Führung würden wir es kaum finden. Auf Google Earth sieht man einen Punkt mit Namen Wojęcino (Wojenthin) etwa 26 Kilometer südöstlich von Koszalin und 14 Kilometer westlich der Kleinstadt Bobolice (Bublitz), in einem Waldgebiet.

Nik ist 72 Jahre alt, ich 64. Es hat lange gedauert, bis wir uns zu dieser Reise entschlossen. Wir wollten die alten Geschichten nicht wieder aufwärmen.

Die Geschichte unserer Mutter ist für uns beide schmerzhaft, in doppelter Hinsicht. Da ist unsere Liebe zu ihr, da ist Trauer über den Verlust von Heimat und Besitz, aber auch Scham und Schuldgefühl. Wir wissen seit Langem, dass die romantischen und humorvollen Anekdoten unserer Mutter aus ihrer Heimat in Pommern nur die eine Seite der Medaille waren. Auf der anderen entdeckten wir eine ewiggestrige und starrsinnige Frau, die sich nicht in die Haut anderer Opfer von Krieg und Vertreibung einfühlen konnte oder wollte.

1918 wurde unsere Mutter Eva Holtz in Wojenthin geboren. 26 Jahre hat sie dort gelebt – bis 1944 „die Russen“ kamen. Nik und mir ist Wojenthin vertraut. Dabei kennen wir es nur von Fotos. Aber seit wir denken können, hat Mutter davon erzählt: von ihrem Zimmer im Turm des Hauses mit dem weiten Blick auf Park und Wälder, von Großvaters Kaminzimmer, wo er nach dem Essen mit seinen Jagdfreunden Zigarre rauchte. Von Rhesusaffen, die Großmutter Wanda im Berliner Zoo kaufte und ihren Verehrern aus Schabernack ins Gästezimmer jagte. Von Cherub, ihrem Vollblutwallach. Mit Pferd trat sie bei Paraden für den Kaiser auf, im Sportpalast und in der Weimarer Republik auf der Grünen Woche. Es gibt noch einen Zeitungsausschnitt mit Großmutter Wanda, elegant in Husarenuniform und im Damensattel.

Es waren schwierige Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg – mit Inflation und hoher Arbeitslosigkeit. Es gab Apfelsinen und Bananen, aber nicht jeder konnte sie sich leisten. Doch Wanda hatte Geld, sie brachte ihren Kindern Früchte mit nach Pommern.

Wojenthin lief wie ein zweiter Faden durch unsere Kindheit und Jugend in Westdeutschland. Zu Weihnachten backten wir Gewürzpfefferkuchen, die schmeckten „wie in Wojenthin“. Im Sommer gingen wir durch Kornfelder, und Mutter erinnerte sich an die Mohn- und Kornblumen ihrer Jugend. Wir lebten in den 50er und 60er Jahren in Schleswig-Holstein. In den Ferien fuhren wir mit den Eltern an die Ostsee zum Baden, nach Strande, Laboe und Schilksee. Für uns Kinder war das „das“ Paradies. Für Mutter nur ein Abklatsch dessen, was sie in ihren Schulferien am Strand von Kolberg erlebt hatte. „Wir hatten den feinsten, weißen Sand, schöner als hier.“ Und dann der herrliche Kapellenteich in Wojenthin …

Mutter weinte über das verlorene Land, die gestohlene Freiheit, den geraubten Besitz, dass sie ihre Kinder nicht in Pommern haben durfte. Sie lebte lange in der Vorstellung, eines Tages nach Wojenthin zurückzukehren.

Auf dem Flüchtlingstreck Richtung Westen hatte sie tote Babys gesehen, Mütter, die ihre sterbenden Kinder am Straßenrand zurückließen. Alte Menschen, die sich frierend und hungernd durch die Kälte schleppten. Einmal, erzählte sie uns, habe der Treck auf einem großen Bauernhof Halt gemacht. Die Pferde brauchten Wasser und Heu, die Flüchtlinge Schlaf. Da waren aber schon sowje­tische Soldaten. Meine Mutter suchte panisch ein Versteck. In der Tenne entdeckte sie eine große Haferkiste und schlüpfte hinein, unbemerkt von den bereits angetrunkenen Rotarmisten.

Mutter war fest überzeugt, dass sie einen Schutzengel gehabt hatte. Sie konnte sich retten, andere nicht. In ihrem Versteck hörte sie das Flehen, das Jammern und Schreien der Frauen, die vergewaltigt wurden.

Wir Kinder hörten diese Geschichten und hatten großes Mitleid mit ihr. Uns kam es so vor, als hätten wir das alles selbst erlebt. Jedenfalls begriffen wir früh, dass Flucht und Vertreibung Menschen zeitlebens schwer auf der Seele liegen. „Wohl besonders schwer, wenn sie großen Besitz und Adelsprivilegien verloren haben“, meint Nik nüchtern.

Die Geschichte unserer Mutter ist schmerzhaft, da ist Liebe, aber auch Scham

Ich erinnere mich, wie ich als kleines Mädchen an der Hand von Mutter in der Kieler Ostseehalle stand. Um mich drängten sich die Erwachsenen. Ich sah nichts, hörte nur, dass es um etwas ganz Großes, Wichtiges gehen musste. „Unsere Heimat werden wir niemals aufgeben“, schrie ein Mann ins Mikrofon, „Pommern ist unser.“ Tosender Beifall.

Das Vertriebenentreffen war kein Ort für Kinder, aber es sollte nicht das letzte sein, auf das Mutter uns damals mitnahm. Wir verfolgten die Übertragungen der Debatten aus dem Bundestag. Das Thema Vertriebene, die Frage der Teilung Deutschlands, elektrisierten unsere Eltern. Als dann in den 70er Jahren die Annäherung an Polen und die Sowjetunion diskutiert wurden, geriet Mutter in Verzweiflung: „Die Oder-Neiße-Linie als Grenze zu Polen, nicht mit uns!“ Das war nun das neue Mantra in unserer Familie. Mit Russen, mit Kommunisten verhandeln, auf keinen Fall. „Die kennen nur eine Sprache: Härte.“

Im Hotel Gromada beugt sich Henryk Gaweł über eine Landkarte. Er stammt aus der Gegend um Koszalin, aber vom ehemaligen Rittergut Wojenthin hatte er bis zu unserem Anruf noch nie gehört. Er begleitet öfter Familien aus Deutschland in Westpommern, meist Kinder von Flüchtlingsfamilien, die nach Spuren ihrer Eltern suchen. „Aber es werden weniger“, meint Gaweł.

Zwei Tage zuvor ist er mit seiner Frau ins Dorf Wojęcino gefahren, er wollte sicher gehen, uns an den richtigen Ort zu führen. „Es wird nicht leicht, das Haus eurer Mutter wiederzufinden“, bereitet er uns vor. „Es gibt keine Wege, alles ist zugewachsen. Zieht feste Schuhe an.“ Er hatte einen Dorfbewohner angesprochen, ob man das ehemalige Gut Wojenthin noch finden könne. Der Mann habe beide in den Wald mitgenommen. Nur jetzt, ohne den freundlichen Dorfbewohner, weiß Henryk Ga­weł nicht, wo genau es war. Nik und ich sind skeptisch. Werden wir noch etwas entdecken, 76 Jahre nachdem die Rote Armee Schloss Wojenthin in Schutt und Asche gelegt hatte? Wir machen uns auf eine längere Wanderung gefasst.

Einen Kindheitsort hatten wir nicht eindeutig

„Hast du eine Heimat?“, frage ich Nik. Seine Antwort lautet: „nein“, ohne langes Nachdenken. „Heimat hat für mich etwas mit Gefühl zu tun, wo man sich hingezogen fühlt.“ Normalerweise zieht es Menschen an den Ort der Kindheit. Den gab es für uns Geschwister nicht so eindeutig. Vater war Offizier, wir zogen oft um. Es gab damals bei der Bundeswehr noch keine Rücksichtnahme auf Frau und Kinder. Nik musste sich bis zu seinem 18. Lebensjahr an vier verschiedenen Orten eingewöhnen. Ich bin jünger als er, mir ist ein Umzug erspart geblieben.

Für mich ist Heimat am ehesten da, wo es vertraute Menschen gibt, wo ich mich aufgehoben fühle. Ich bin auch als Erwachsene oft umgezogen – beruflich und privat. Meistens habe ich mich schnell in der neuen Umgebung eingelebt, vielleicht ein Vorteil des Nomadenlebens in der Jugend. Aber echte Heimat waren die Orte selbst nie. Heimat muss was anderes sein, was Tiefes mit langen Wurzeln und seit Ewigkeiten. Etwas sehr Emotionales.

Unsere Mutter sang oft das „Pommernlied“, die Hymne ihrer Heimat. „Wenn in stiller Stunde Träume mich umwehn, bringen frohe Kunde Geister ungesehn, reden von dem Lande meiner Heimat mir, hellem Meeresstrande, düsterm Waldrevier.“

Schwarzweiß-Bild mit einer alten Villa

Das Rittergut in der Vorkriegszeit Foto: privat

Eine wunderschöne Melodie. Vielleicht gibt’s Heimat für uns Nachkommen von Vertriebenen in der Musik. Sie verstärkt Gefühle, sagt man. Nik und ich hören das alte Lied heute mit einem Kloß im Hals.

Und dann kam Willy Brandt. Im Winter 1970 besucht er als erster deutscher Kanzler Polen. Er geht zum Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto und sinkt auf die Knie. Für meine Mutter bricht eine Welt zusammen. „Das ist Verrat, ein Kniefall der Schande.“

Bis 1977 wusste ich nicht, was in den Konzen­tra­tions­lagern geschah

Zwei Jahre später unterzeichnet die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel die Ostverträge. Ab jetzt gibt es neben „den Russen“ zu Hause einen neuen Feind – Willy Brandt „alias Herbert Frahm“ – wie meine Mutter sagt. Der sei in der Kriegszeit feige nach Norwegen abgehauen. „Vaterlandsverräter“ heißt er ab da bei uns.

Auf der Landstraße 167 ist es etwa eine Stunde Fahrt nach Wo­ję­cino. Henryk Gaweł schlägt vor, auf halbem Weg anzuhalten, in Strzekecino, Deutsch Stre­cken­thin. In Westpommern habe es vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 60 Gutshöfe gegeben, erzählt er. „Nur sehr wenige sind heute noch erhalten.“ Nach zwölf Kilometer biegen wir rechts ab. Eine bewaldete Straße führt bergauf. Nach etwa 100 Metern erhebt sich auf der rechten Seite ein helles, mehrstöckiges Gebäude mit einem runden Turm, Erkern und Veranden. Es kommt mir vor wie ein Neuschwanstein in Polen.

Im Park, ein Klein-Versailles

Der ehemalige Gutshof gehörte der Familie von Kameke. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er einer der größten Kartoffelzuchtbetriebe im Deutschen Reich. Mehr als jeder dritte Erdapfel stammte von hier. Aus dem Kartoffelgut ist das „Bernstein Palast Hotel mit Spa“ geworden. „Ein polnischer Geschäftsmann aus Warschau hat das Anwesen gekauft, restauriert und seinen ursprünglichen Zustand wiederhergestellt“, berichtet Gaweł. Nik und ich streifen durch die hohen, etwas düsteren Räume. Textiltapeten, alte Teppiche, Ölgemälde und Por­träts ehemaliger Gutsherren und -frauen, Rokokolampen, altes Porzellan, ein schwerer, tiefer Sessel mit abgewetztem Stoff. Ich setze mich hinein.

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Der Blick geht in den Park, Klein-Versailles. So haben sie damals also gewohnt, meine Vorfahren in Pommern. Da gab es Hauslehrer, Kinderfrau, einen Verwalter, den Jäger Hackbarth und das „polnische Gesinde“. Es arbeitete auf den Äckern, als Stallburschen und Stubenmädchen, es waren Polen und Deutsche. Während des Zweiten Weltkriegs kamen Zwangsarbeiter, sie ersetzten die Gutsarbeiter, die an die Front mussten. Von Zwangsarbeitern wurde zu Hause aber nie gesprochen.

Meine Großeltern gehörten zu den sogenannten ostelbischen Junkern, Großgrundbesitzer östlich der Elbe, die bis zum November 1918 – der Niederlage im Ersten Weltkrieg – eine einflussreiche und oft fragwürdige Rolle im Deutschen Reich spielten. Der Landadel wehrte sich zum Beispiel gegen gesellschaftliche Reformen wie das allgemeine und freie Wahlrecht.

Bis 1918 genossen die Großagrarier Steuerfreiheiten und starken politischen Einfluss. Das lag am Dreiklassenwahlrecht, es regelte die Stimmrechte nach Geld und Grundvermögen. Kein Wunder, dass die ostelbischen Junker auch in der Weimarer Republik noch fest an die Monarchie glaubten und die erste bürgerliche Regierung auf deutschem Boden verächtlich machten.

Meine Großeltern waren da keine Ausnahme. Kaisertreu zu sein war Gesetz in Wojenthin. An „Kaisers Geburtstag“ Ende Januar spendierte Großmutter Wanda selbst in der späteren Bundesrepublik noch eine Flasche Sekt. Auf dem Schreibtisch meiner Mutter stand bis zu ihrem Tod ein Foto von Wilhelm II. mit zweien seiner Söhne. Sie war stolz auf dieses Erinnerungsstück, ein Geschenk des Hofs an die Großeltern.

Schwarzweiß-Bild mit einer jungen Frau

Eva von Haaren auf Wojenthin Foto: privat

„Ich wollte euch zeigen, dass nicht alles zerstört wurde“, sagt Henryk Gaweł, unser polnischer Fremdenführer. „Wir sind froh, dass das Anwesen Steckenthin erhalten blieb. So bekommt man eine Vorstellung, wie es auf den Gütern ausgesehen hat, als die Deutschen hier lebten.“

Zum Dorf Wojęcino führt keine Straße, lediglich ein einspuriger Sandweg. Wir fahren durch ein langes Waldstück. Außer uns ist nur ein Lieferfahrzeug von GLS unterwegs. Hinter dem Ortsschild stehen sieben kleine Häuser, alle auf der rechten Seite, links Felder. Wir parken das Auto am Ortsende, wo der Weg in den Wald führt. Henryk Gaweł führt uns ins Unterholz, durch Gebüsch, über Äste, Steine, entlang an alten Bäumen. Nach wenigen Minuten kommen wir auf eine kleine Anhöhe. Wir stoßen auf einen von Moos bedeckten Steinquader, er ragt etwa einen Meter empor, das letzte Relikt des ehemaligen Gutshauses, außer den zerbrochenen Backsteinen, die unter Blättern und Ästen liegen.

Ich empfinde nichts. Hier steht nicht einmal mehr eine Ruine. Wir gehen einen kleinen Abhang hinunter, kommen an einen Bach, springen auf die andere Seite und entdecken zwischen den Bäumen eine etwa zehn Meter hohe Backsteinmauer, darin sitzt die Kontur eines Kirchenfensters. Hinter der Mauer sehen wir einen Trümmerhaufen, drumherum ragen die Stümpfe der Grundmauern heraus. „Das muss die ehemalige Schlosskapelle gewesen sein“, meint Gaweł. Auch sie liegt auf einer Anhöhe, dahinter der Teich. Heute stehen Bäume im Wasser, Wurzelballen umgestürzter Stämme ragen in die Luft.

„Als meine Frau das gesehen hat, wurde sie ganz still“, sagt Henryk Gaweł. „Dass wir dieses Anwesen weder kannten noch gerettet haben, tut weh.“ Später im Hotel spreche ich mit Nik darüber. Er sagt, diese Geste der Anteilnahme eines Polen habe ihn sehr berührt. Die Steine, das Holz, alles, was noch brauchbar war von der Ruine Wojenthin, sammelten Polen auf, um ihre eigenen Häuser wieder aufzubauen. Teile der zerstörten Güter in Westpommern seien auch für den Wiederaufbau der von der Wehrmacht völlig verwüsteten Hauptstadt Warschau verwendet worden, hat Henryk Gaweł erzählt.

Das wusste ich nicht. Und finde es nun ganz tröstlich, dass auch Backsteine aus Wojenthin Warschau wieder haben aufblühen lassen und nicht alle verloren sind.

Und es gab noch viel mehr was ich nicht wusste. 1977 komme ich nach dem Abitur auf die Kölner Journalistenschule. Eines unserer Fächer ist „Deutsche Geschichte im Dritten Reich“. Ich werde gefragt, was ein Konzentrationslager sei. Ich antworte: „Da lernen Menschen, konzentriert zu arbeiten.“ Meine Mitschüler schreien auf. Sie sind entsetzt. Ich kann, ich will es erst nicht glauben, was ich dann zu hören bekomme. Ich schäme mich.

Wir Flüchtlingskinder lebten in einer Parallelwelt

Bei meinen Eltern gab es keine Gespräche über Konzentrationslager. Wenn in den Nachrichten darüber berichtet wurde, sagte meine Mutter: „Schalt ab, das ist Propaganda der Alliierten, sie wollen uns Deutsche klein machen.“ Ein früheres Hausmädchen in Wo­jen­thin, das später in der DDR lebte, schickte uns „Nackt unter Wölfen“, das Buch von Bruno Apitz. Darin wird die Geschichte eines jüdischen Kinds erzählt, das unter barbarischen Bedingungen im KZ Buchenwald versteckt, beinahe entdeckt und getötet, später befreit wird. Es ist bis heute in 30 Sprachen übersetzt worden. Mutter nahm mir das Buch ab mit den Worten: „Das ist Schund, so was schreiben Kommunisten.“

Wir lebten damals in der Eifel, in der Kleinstadt Adenau, bekannt durch die Rennstrecke am Nürburgring. Noch in den 70er Jahren eine sehr katholisch-konservative Gemeinde. Als ehemalige Flüchtlinge und Protestanten mit adligem Namen empfanden sich meine Eltern dort in der Diaspora – anders als vorher in Schleswig-Holstein, wo nach dem Krieg viel mehr Vertriebene lebten und eine neue Heimat fanden.

Dies mag erklären, warum wir Kinder in einer Art Blase lebten. Einflüsse von außen gab es wenige. Mein Bruder Nik und ich wurden auf festliche Adelsbälle oder in Freizeiten geschickt, wo sich Kinder anderer Ostvertriebener trafen und altes Brauchtum pflegten. Unsere Eltern wollten, dass wir an alte Bande wieder anknüpften. Adlig heiraten, das war Mutters Plan für mich. Am besten nach der alten Tradition. Mit Myrtenkranz im Haar und als Mitgift eine Lehre als Hauswirtschafterin.

Porträt einer älteren Frau

Eva von Haaren in den 90er-Jahren Foto: privat

Auch unser Gymnasium war kein Ort für den kritischen Zeitgeist, den es woanders schon längst gab. Als Mädchen durften wir keine Jeans tragen. Wenn eine Schülerin es doch tat, wurde sie vom Schuldirektor bloßgestellt. Der kletterte in der großen Pause auf eine Bank und hielt Ansprachen. „Schaut mal, wie unsere Sabine Schmidt heute angezogen ist!“, sagte er dabei. Alle drehten sich nach ihr um. Das reichte. Sabine trug nie wieder Jeans im Unterricht.

Bildung ist in Deutschland Ländersache. Die Nazizeit behandelten die Gymnasien in den einzelnen Bundesländern damals höchst unterschiedlich. Während in Berlin und Köln bereits Anfang der 60er Jahre Filme über Konzentrationslager mit den Abiturklassen besprochen wurden, gab es Vergleichbares bei uns in der Kleinstadt nicht. Im Nachhinein erkläre ich mir diesen blinden Fleck, dass meine Deutsch- und Geschichtslehrer das Thema verdrängten – wie unsere Mutter auch.

„Du hast kein Recht, über diese Zeit zu urteilen“, sagte Mutter schluchzend

Einige Lehrer hatten den Zweiten Weltkrieg als Invaliden überlebt, jüngere wagten kaum aufzumucken. Es herrschte in den 70er Jahren noch immer ein autoritäres Klima an unserem Gymnasium. Zu Hause gab es nur ein Thema: Flucht und Vertreibung. Und die große Angst vor einem Angriff der Roten Armee auf Westdeutschland, sie beherrschte unser ganzes Fühlen und Denken. Wir Flüchtlingskinder lebten in einer Parallelwelt.

Dabei hatte es Andeutungen gegeben: In der Klasse meiner Mutter in Kolberg gab es eine jüdische Mitschülerin, Harriet. „Die wurde eines Tages abgeholt“, erzählte sie. „Und dann?“, fragte ich. „Das wussten wir nicht.“ „Ja, habt ihr denn nicht nachgefragt?“ Sie sagte: „Ach Kindchen, das waren doch andere Zeiten.“

Mutter wollte nicht darüber sprechen. Und ich hatte das Gefühl, ich sollte sie nicht zusätzlich belasten. Einmal erwähnte sie einen französischen Koch, dem man bei der Zubereitung der Speisen in Wojenthin besser nicht zuschaute. Ein Zwangsarbeiter. Als ich ihr das sagte, schüttelte sie mit dem Kopf. „Es ging ihm gut bei uns, Mutter hat alle versorgt, keiner musste leiden.“

Wahrscheinlich hatte sie Recht. Im Vergleich zu den Hunderttausenden Zwangsarbeitern, die in der deutschen Kriegsindustrie versklavt wurden, ging es den zur Arbeit gezwungenen Kriegsgefangenen aus Frankreich und Polen auf den Gütern bestimmt besser. Nur: Das Festhalten an der alten Heimat – ohne Einsicht, ohne auch an all die Menschen zu denken, die durch Hitlers Krieg und seine Folgen so viel Elend erfahren hatten, das war für Nik und mich später nicht zu verstehen.

ist eine der bekanntesten ARD-Korrespondent:innen. Die Volkswirtin, Jahrgang 1957, begann in der Wirtschaftsredaktion des Westdeutschen Rundfunks, wechselte 1995 ins ARD-Studio Bonn. 1997 wurde sie zur Chefredakteurin Fernsehen beim WDR berufen. Ab 2002 war sie ARD-Auslandskorrespondentin, erst in Paris, dann in Brüssel. 2014 wechselte von Haaren ins ARD-Hauptstadtstudio Berlin. 2020 ging sie in Ruhestand.

Und noch weniger die Geschichte von Onkel Eduard, liebenswert und gebildet, ein Jude. Er kam uns öfter in Kiel besuchen. Den Holocaust hatte er im Exil überlebt. „Packt alles weg, wenn Onkel Eduard kommt, Juden stehlen“, warnte uns Mutter. Ich habe schon als Kind nicht verstanden, was Glaube mit Diebstahl zu tun haben sollte – von den christlichen Kreuzzügen wusste ich damals auch noch nichts.

Als ich später an der Journalistenschule über die Judenverfolgung aufgeklärt wurde, lief es mir eiskalt über den Rücken. „Menschen Hass lehren gegen Minderheiten, das ist Ziel von Propaganda“, meint Nik, „Du siehst ja, dass das noch heute in autoritären Regimen funk­tio­niert. Und nicht nur da.“

Mutter ist 2013 gestorben, unter einem großen Bild von Wojenthin, das über ihrem Bett hing. Sie war sehr beliebt in der Nachbarschaft in Adenau. Eine Frau mit viel Herz, Empathie und stets einem offenen Ohr für Menschen, denen es schlechter ging als ihr. 2015 – als Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland strömten – hätte sie sich engagiert, davon bin ich überzeugt.

Auch deshalb bleibt für mich bis heute unerklärlich, warum unsere liebevolle Mutter kein Mitgefühl zeigte für die vielen anderen Opfer der Nazidiktatur. Während meiner Ausbildung zur Journalistin habe ich sie immer wieder mit der Judenvernichtung konfrontiert.

Wir werden nicht wiederkommen

Sie ließ sich nicht darauf ein, sie hielt mir die Verbrechen der Roten Armee entgegen, und wenn es richtig hitzig wurde, begann sie zu weinen. „Du hast kein Recht über diese Zeit zu urteilen“, sagte Mutter dann schluchzend, „wir haben so viel durchgemacht. Wenn du damals gelebt hättest, wärst du auch begeistert bei der Hitlerjugend mitmarschiert.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat kürzlich die unvorstellbare Zahl in Erinnerung gerufen: 27 Millionen sowjetische Bürger verloren durch Nazideutschland ihr Leben. Wie viele Familien wurden in Russland, Polen, in der Ukraine und der Tschechoslowakei aus ihrer Heimat vertrieben, ihrer Identität beraubt und von Deutschen versklavt und ermordet? Wie viele Kinder dort tragen noch heute an den materiellen und seelischen Lasten des Zweiten Weltkriegs? Und: Wie konnte das Gift des Antisemitismus in der Elterngeneration überleben – und an die Kinder vererbt werden, trotz aller Aufklärung, Gedenkstätten, den Zeugnisse von Überlebenden, trotz TV-Serien wie „Holocaust“ und „Das Tagebuch der Anne Frank“?

Nik und ich gehen schweigend zum Auto zurück. Wo­jen­thin war für uns schon länger kein Ort der Sehnsucht mehr, des Traumschlosses, der Idylle einer unbeschwerten, reichen Jugend unserer Mutter. Jetzt haben wir es mit eigenen Augen gesehen: Wojenthin ist untergegangen, Wojęcino gehört zu Polen, wir werden nicht wiederkommen.

Was von dieser Reise bleibt? Wir sind froh, dass ein Pole uns begleitete und zu verstehen gab, dass Vertreibung und ein zerstörtes Elternhaus auch für unsere deutsche Mutter traumatische Folgen haben musste. Ich lasse mich seit den Erfahrungen mit Mutter ungern für eine Sache einnehmen, bleibe lieber Beobachterin, Zaungast. Und ich nehme mich vor Fanatismus in Acht. „Familie“ und „Heimat“ haben für mich keinen unverfänglichen Klang mehr.

Was mache ich jetzt mit dem Backstein im Kofferraum? „Hast du ihn mitgenommen?“, fragt mein Bruder verwundert. „Nein, Henryk Gaweł hat ihn mir ins Auto gelegt.“ Ich glaube, der Stein bleibt erst mal dort liegen.

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