Autorin über Kriegs-Retraumatisierung: „Eine emotionale Erschütterung“

Plötzlich kommt Verdrängtes aus Weltkriegszeiten wieder zum Vorschein: Hilke Lorenz erkundet Effekte des Ukraine-Kriegs.

Eine Straße an dessen Ende eine schwarze Rauchsäule in die Luft steigt

Rufen Traumata wach: Bilder des Ukraine-Kriegs Foto: Alexei Alexandrov/dpa

taz: Frau Lorenz, wie tief sitzen Ihrer Erfahrung nach Kriegstraumata bei Kindern?

Hilke Lorenz: Die Gespräche, die ich mit Menschen geführt habe, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebten, haben gezeigt, dass diese Erfahrungen in ihnen weiter leben. Das Existenziellste, was Kinder erleben können, ist zu sehen, das diejenigen, die für ihre Sicherheit zuständig sind – der Vater, die Mutter – so zitternd im Bunker sitzen wie die Kinder. Es gibt Berichte davon, dass die Mutter auf dem Schoß der Tochter saß. Das ist eine Umkehr der Ordnung, wer wen zu schützen hat. Dieses Ausgeliefertsein ist eine große emotionale Erschütterung. Hinzu kommen die von außen herangetragenen Dinge.

Welche sind das?

Gewalterfahrungen, die Angst vor dem Tod, davor, Menschen zu verlieren, das Haus, in dem man wohnt, Vertrautheit – Letzteres besonders bei Kindern aus Flüchtlingsfamilien. Wobei mich in den Gesprächen immer gewundert hat, wie wenig in den Familien über diese Gefühle gesprochen wurde.

Wie erklären Sie sich das?

Nach Ende des Krieges ging es zunächst ­darum, in die Zukunft zu schauen, sich ein Leben aufzubauen. Gefühlsbeiwerk war da nur im Weg, deshalb haben sich viele Betroffene den Blick zurück selbst verboten. Verdrängung – ein für uns so negativ besetztes Wort – war für viele ein Überlebenskonzept. Es hat sich über Jahrzehnte bewährt und ihnen geholfen; aber nur mittelfristig.

Das heißt?

Viele Menschen, mit denen ich sprach, haben erzählt, wie diese Erfahrungen in ihnen weitergewirkt haben. Während der aktiven Lebensphase – Familiengründung, Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz – blieb das verborgen. Aber wenn die Kinder aus dem Haus waren, wenn man in Ruhestand ging, hatte man plötzlich Zeit, und die wurde mit Gedanken gefüllt, die bis dahin nicht so zutage traten. Manchmal führte das auch zu den bekannten körperlichen Symptomen wie Schlaflosigkeit oder dem Nicht-Ertragen von Sirenengeheul oder Silvesterfeuerwerk.

59, ist Redakteurin der Stuttgarter Zeitung und Autorin der Bücher „Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation“ und „Heimat aus dem Koffer“.

Sie sprechen am Mittwochabend mit dem Leiter der Trauma-Ambulanz am Uni-Klinikum­ Hamburg-Eppendorf, das Thema ist die Wiederkehr von Traumata. Können die Bilder, die uns heute aus dem Ukraine-Krieg erreichen, wirklich zu einer Re-Traumatisierung ­führen?

Das sollen Psychiatrie-Experten beantworten. Ich höre aber aus vielen Altenheimen, dass bei Hochbetagten alte Erinnerungen wieder hochkommen und der Zweite Weltkrieg eben noch kein abgeschlossenes Kapitel ist. Ich bin selbst Kind von Vertriebenen, und meine Eltern haben mich keineswegs ständig mit dem Thema konfrontiert. Aber durch die Ukraine-Bilder der Gegenwart hat die Schwarzweiß-Geschichte meiner Eltern Farbe bekommen.

Bedeutet die Betroffenheit der älteren Menschen, dass deren Traumata nicht verarbeitet sind?

Ich weiß es nicht, vielleicht ist es einfach Empathie, wie bei hoffentlich uns allen. Meine eigenen Eltern leben nicht mehr. Aber wenn ich mir ihre letzte Lebensphase vorstelle, hätte ich sie vor diesen Bildern schützen wollen. Denn in einer Phase von Immobilität und extremer Hilfsbedürftigkeit wieder mit Kriegsbildern konfrontiert zu sein und zu wissen, ich könnte mich jetzt nicht selbst in Sicherheit bringen – da wird dieses Ohnmachtsgefühl aus der Kindheit wieder sehr gegenwärtig.

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