Urteil gegen „Lifeline“-Kapitän: Der Störfaktor
Claus-Peter Reisch muss nach der Seenotrettung aus dem Mittelmeer 10.000 Euro spenden. Das Urteil wiegt schwerer als die Geldstrafe.
Seit Dienstag ist es da: das erste Urteil, das die zivilen europäischen Seenotretter im Mittelmeer schuldig spricht.
Natürlich haben die Richter auf Malta nicht hineingeschrieben, dass die 10.000 Euro Strafe fällig werden, weil der Kapitän des deutschen Schiffes „Lifeline“, Claus-Peter Reisch, 230 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt hat. Offiziell erging der Richterspruch, weil die NGO ihr Schiff in den Niederlanden nicht korrekt habe registrieren lassen.
Die „Lifeline“ hatte im Juni 2018 vor der libyschen Küste 234 Flüchtlinge gerettet und war danach tagelang über das Mittelmeer geirrt, weil Italien und Malta dem Schiff ein Anlegen verweigert hatten. Schließlich durfte das Schiff in Malta vor Anker gehen. Der nach eigener Auskunft „konservative Bayer“ und fast lebenslange CSU-Wähler Reisch wurde jedoch festgehalten und von der Polizei vernommen.
„Es kann nicht sein, dass wir ein Registrierungspapier haben, das circa 25.000 andere Schiffe, die in den Niederlanden registriert sind, ebenso besitzen, und ausgerechnet unseres nicht gelten sollte“, sagte Reisch nach der Verhandlung am Dienstag.
Tatsächlich ging es niemals wirklich um die Frage, ob es zulässig war, die „Lifeline“ als Sportboot im königlich-niederländischen Marineregister einzutragen, oder ob es nicht doch das Frachtschiffregister hätte sein müssen. Diese Formalie war ein Vehikel, um die „Lifeline“ an die Kette zu legen.
Das Urteil wiegt symbolisch schwer
Die RetterInnen sollen weg vom Meer. Sie sollen niemanden mehr nach Europa bringen und sie sollen auch nicht länger jedes einzelne der immer weiter gehenden Unglücke dokumentieren und der europäischen Öffentlichkeit unter die Nase reiben. Sie sind Störfaktoren.
Das ist der Grund, warum Reisch verurteilt wurde, es ist der Grund, warum die Niederlande, Panama, Gibraltar und Deutschland den Rettungsschiffen Flaggen entzogen haben oder verweigern. Es ist der Grund, warum Rettungsschiffe und Suchflugzeuge mit Auslauf- oder Startverboten und „Festhalteverfügungen“ belegt oder gleich ganz beschlagnahmt werden. Und es ist der Grund, warum anderen RetterInnen in Italien noch weit höhere Strafen drohen.
Das Urteil wiegt symbolisch umso schwerer, als dass es nicht in Italien oder Ungarn ergangen ist, wo die Verfolgung der FlüchtlingshelferInnen mittlerweile zu einer Art Staatsziel erhoben wurde. Es fiel in Malta – dem Land, das den RetterInnen seit Jahren als Basis diente und das eben nicht von xenophoben Hardlinern wie Italiens Innenminister Matteo Salvini regiert wird.
Doch der kleine sozialdemokratisch regierte Inselstaat sah sich offenbar zu diesem Schritt gedrängt. Denn seit Italien im letzten Jahr seine Häfen für Flüchtlinge schloss, herrschte auf Malta die Angst, die SeenotretterInnen könnten die Menschen künftig dorthin bringen – und kein EU-Staat würde sie ihnen abnehmen. Abwegig war diese Befürchtung nicht.
Mission Lifeline will die Strafe nicht akzeptieren und Berufung einlegen. Deshalb bekommt die NGO ihr Schiff vorerst nicht zurück. Jeder Tag, seitdem es vor elf Monaten festgesetzt wurde, kostet rund 500 Euro. Und trotzdem hatte die NGO genug Geld, sich vor zwei Wochen ein neues Schiff zu kaufen, mit dem sie im Juni wieder in See stechen will.
Seit Januar sind 307 Menschen vor Nordafrika ertrunken
Das ist die gute Nachricht: Das Vorgehen von Justiz und Behörden gegen die RetterInnen kostet diese unwahrscheinlich viel Zeit, Geld und Energie. Ausgeschaltet hat es sie indes nicht. Es scheint, als setze die Konfrontation bei der Zivilgesellschaft immer neue Kräfte frei.
In diesen Tagen ist die „Sea Watch 3“ wieder im Einsatz, nachdem sie in den Niederlanden vor Gericht ihre Flagge vorerst zurückerstritten hatte. Und im Juni wird nicht nur das neue Schiff der Lifeline auslaufen, sondern auch eine Flotte privater Yachten: Die BootseignerInnen wollen von Sizilien nach Libyen segeln und die Öffentlichkeit Europas zwingen, zu sehen, was sie nicht sehen soll.
Denn seit Anfang des Jahres sind mindestens 307 Menschen vor Nordafrika ertrunken. Die weitaus meisten könnten heute noch leben, wenn die RetterInnen auslaufen dürften.
Vor allem seitdem die Kämpfe in Libyen im April die Hauptstadt Tripolis erreicht haben, ist die Lage für Flüchtlinge und MigrantInnen immer schlimmer geworden. Fast jeden Tag dringen neue, grauenhafte Schilderungen aus den Lagern.
Wer ihnen entkommt, wird wieder eingefangen und zurückgebracht. Wenn es nach der EU geht, soll das so bleiben. Leute wie der „Lifeline“-Kapitän Claus-Peter Reisch stören dabei. Und das sollen sie zu spüren bekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity