Unionsstreit über Flüchtlingspolitik: Offene Rebellion gegen Merkel
Seehofer droht Merkel unverhohlen mit einem Alleingang. Die Kanzlerin und ihre Unterstützer wirken geschwächt. Es wird ernst.
Es werde, sagt der CSU-Landesgruppenchef, am Montag in München eine Parteivorstandssitzung geben. Dort werde man dem Parteivorsitzenden und Bundesinnenminister Horst Seehofer den Auftrag zur Umsetzung seines umstrittenen Masterplans Migration geben. Die CSU unterstütze die Bemühungen um eine europäische Lösung, wendet sich Dobrindt indirekt an die Kanzlerin, sie könne darauf aber nicht länger warten. Zu lange sei über Flüchtlingspolitik nur geredet worden.
Die Botschaft ist eindeutig: Die CSU im Bundestag geht in die offene Konfrontation mit der Kanzlerin und deren Partei, der CDU. Seehofer, Dobrindt und nicht zuletzt Bayerns neuer Ministerpräsident Markus Söder setzen die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufs Spiel.
Über Dobrindts Äußerung vor dem Fraktionssaal, es gehe bei diesem Konflikt sicher nicht um irgendwelche Landtagswahlen, müssen selbst die JournalistInnen lachen. Denn genau darum geht es der CSU: um innenpolitische Eskalation, vier Monate vor der bayerischen Landtagswahl.
Diese Eskalation beginnt eigentlich schon am späten Mittwochabend. Merkel und Seehofer treffen sich zu einem dreistündigen Gespräch im Kanzleramt, mit dabei sind Söder und der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). Ziel ist es, einen Kompromiss zu finden, der die explosive Lage entschärft. Merkel geht einen Schritt auf Seehofer zu.
Sie bietet an, zumindest die Flüchtlinge an der deutschen Grenze abzuweisen, die schon in Deutschland ein Verfahren durchlaufen haben. Abgelehnte Asylbewerber also, die ein zweites Mal einreisen wollen. Außerdem will sie bilaterale Vereinbarungen mit EU-Staaten abschließen, die besonders viele Geflüchtete aufnehmen – um juristisch wasserdichte Abweisungen an der Grenze zu ermöglichen.
Seehofer reicht das nicht. Europäische Lösungen dauern seiner CSU zu lange – und sie glaubt auch nicht an ihren Erfolg. Das hat Dobrindt diese Woche deutlich gemacht. Die CSU will, dass Deutschland in Eigenregie Leute an der Grenze zurückschickt, die bereits in einem anderen EU-Staat registriert sind. Das wäre eine viel größere Gruppe. Die Kompromisssuche scheitert, die vier gehen uneinig auseinander.
Spahn schert aus
Am Donnerstagmorgen sucht Merkel Unterstützer im CDU-Präsidium. In einer Telefonschalte wird reihum abgefragt. Alle stützen Merkels Position – unterschiedlich begeistert. Nur einer schert aus: Gesundheitsminister und Merkel-Kritiker Jens Spahn, der seit Langem harte Töne in der Flüchtlingspolitik anschlägt. Eine solche Frage, sagt er, müsse in der Unionsfraktion besprochen werden. Die sei das entscheidende Gremium, heißt es in seinem Umfeld. Dort säßen CDUler und CSUler zusammen.
Am Vormittag eskaliert der Streit im Bundestag. Das Parlament tagt ab 9 Uhr, auf der Tagesordnung steht ein Bundeswehrmandat und eine Debatte über den G7-Gipfel in Kanada. Gepflegte Routine, eigentlich. Um 11.30 Uhr unterbricht Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) plötzlich die Sitzung, die Unionsfraktion will sich bei einem Krisentreffen beraten.
Dafür scheint es erheblichen Bedarf zu geben. Die Fraktion trennt sich – die Abgeordneten der CDU laufen auf der Fraktionsebene mit ernsten Mienen in den großen Saal, die der CSU ins Turmzimmer nebenan. Allein diese Trennung zeigt, wie ernst die Lage ist – niemand unter den BeobachterInnen hat derlei schon mal erlebt.
Droht die Vertrauensfrage?
Journalisten, per SMS alarmiert, hetzen in den Reichstag. Vor den Sälen der Union gibt es einen Auflauf, alle starren auf ihre Smartphones, Gerüchte machen die Runde: Ist das der Bruch zwischen CDU und CSU? Muss Merkel die Vertrauensfrage stellen? Platzt die Koalition wegen der Flüchtlingspolitik?
Die CSU scheint fest entschlossen, den Konflikt maximal zu eskalieren. Seehofer droht Merkel vor den CSU-Abgeordneten mit einem Alleingang. Sollte es keine Einigung in der Frage um die Zurückweisung von Flüchtlingen geben, wolle er notfalls per Ministerentscheid handeln. Dazu wolle er sich am Montag den Auftrag des CSU-Vorstandes einholen.
Der Abgeordnete Hans-Peter Friedrich sagt am Nachmittag beim Fernsehsender Phoenix, die Landesgruppe habe sich geschlossen hinter Seehofer gestellt.
Ultimative Drohung
Ein Ministerentscheid gegen den Willen der Kanzlerin, das ist eine ultimative Drohung. Denn es folgte eine Spirale der Eskalation: Merkel müsste Seehofer aus dem Kabinett entlassen, die CSU müsste dies mit dem Koalitionsbruch vergelten. Drohen Neuwahlen? Vielleicht will sich Seehofer auch beim CSU-Vorstand eine entsicherte Waffe besorgen – würde aber nicht abdrücken.
Doch ein Beibiegen ist für ihn kaum noch möglich. Hinter ihm stehen die neuen starken Männer der CSU, die den Druck weiter erhöhen. Söder spricht von einem „Endspiel um die Glaubwürdigkeit“. Er sehe die Union an einer „historischen Weggabelung“, sie müsse endlich die Fehler von 2015 beheben. Damals hatte die schwarz-rote Regierung Merkel Hunderttausende Flüchtlinge ins Land gelassen.
Im großen Sitzungssaal nebenan stellen sich die CDU-Abgeordneten hinter Merkel. Sie bittet sie um zwei Wochen Zeit. Am 28. und 29. Juni tagt der Europäische Rat, bis dahin will sie bilaterale Vereinbarungen mit anderen Ländern treffen. Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer unterstützt Merkel, auch Wolfgang Schäuble springt ihr bei. Er spricht laut der Zeitung Die Welt von einer „historischen Stunde“.
Spahns zweite Attacke
Dann zielt Spahn erneut gegen Merkel. Er beantragt, gemeinsam mit der CSU weiter zu tagen. Unionsfraktionschef Volker Kauder redet dagegen, Spahn verliert die Abstimmung. Was am Dienstag bei der gemeinsamen Fraktionssitzung noch gefehlt hatte – Unterstützung der Kanzlerin –, formiert sich an diesem Donnerstag. Vielleicht zu spät.
Wie sehr der Streit Merkel und ihre Leute schwächt, ist danach zu beobachten. Nach Dobrindts erneuerter Kampfansage kontert nicht der Unionsfraktionschef. Statt Volker Kauder tritt nur sein Sprecher vor die Kameras. Ulrich Scharlack erklärt, der Kurs der Kanzlerin, bilaterale Verhandlungen mit anderen Staaten zu führen, habe breite Unterstützung gefunden. Merkel wiederum fühle sich darin gestärkt, sich bis zum EU-Gipfel um Abmachungen mit anderen Regierungen zu bemühen. Mühe allein wird ab jetzt nicht mehr reichen.
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