Unionspolitiker Andreas Jung: Ritter ohne Rüstung
Nach der Wahl muss die CDU/CSU beim Klimaschutz ernst machen. Sie hat womöglich sogar den richtigen Mann. Aber ist er zu nett für den Job?
D ie Kulisse wie in einem Heile-Welt-Film: Von der Hochwart, dem höchsten Hügel auf der Insel Reichenau, schweift der Blick über Weingärten, Gemüsefelder und Streuobstwiesen zum Bodensee. Boote schaukeln auf dem Wasser, die untergehende Sonne taucht die Hügel am See in magisches Licht. Andreas Jung, Vizechef der Unionsfraktion im Bundestag, hat zu einer Infoveranstaltung in seinem Wahlkreis eingeladen. Nun steht er im blauen Anzug und legerem weißem Hemd mit offenem Kragen vor 70 CDU-Mitgliedern und durchbricht die Idylle: „Ich bitte Sie, sich für eine Schweigeminute für die Opfer der Flutkatastrophe zu erheben.“
Als alle wieder auf ihren Plastikstühlen sitzen, ergreift neben ihm Deutschlands mächtigster Parlamentarier das Wort. Ralph Brinkhaus, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, ist extra ans südliche Ende Deutschlands gekommen, um seinen Konstanzer Parteikollegen zu unterstützen. Brinkhaus spricht über die Pandemie, über Bildung und Bundeswehr. Vor allem aber sagt er: „Es ist Jungs Verdienst, dass wir klimapolitisch da stehen, wo wir sind. Wir brauchen ihn in Berlin. Und Sie werden noch viel von ihm hören.“
Das ist mehr als das übliche Lob des Chefs für einen seiner Stellvertreter. Ralph Brinkhaus weiß, wie wichtig Andreas Jung, 46 Jahre, für ihn ist. Gerade haben die Überschwemmungen die Klimakrise zurück in den Wahlkampf gespült. Und ohne Jung sieht die CDU beim Klima alt aus. Weil der Ökodruck auf die Union noch nie so groß war, wird der freundliche großgewachsene Mann mit dem dunklen Scheitel und dem badischen Singsang in der Sprache zu einer zentralen Figur in einer Regierung unter Armin Laschet werden. Doch den Namen des Juristen kennen bisher nur wenige, auch wenn er als Umweltfachmann der CDU und als begabter Netzwerker zum wichtigen Brückenbauer einer schwarz-grünen Koalition werden könnte. Der Konstanzer Südkurier schreibt über ihn: „Andreas Jung ist so grün, wie Winfried Kretschmann schwarz ist.“
Ralph Brinkhaus, Vorsitzender CDU/CSU-Fraktion
Jung selbst sagt auf der Hochwart zur Klimapolitik: „Wir müssen mehr tun und schneller werden.“ Damit wiederholt er die Forderung des CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet, dass vieles „entfesselt“ werden müsse: Der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Erfindungsreichtum der Ingenieure, das Selbstvertrauen der Menschen, neue Techniken wie der grüne Wasserstoff. Seit 20 Jahren macht Andreas Jung Umweltpolitik in der Union – oder versucht es zumindest. Lange wurde er ignoriert und ausgebremst, jetzt könnte er etwas aufbauen, was es noch nie gab: einen durchsetzungsfähigen Umweltflügel der Konservativen.
Selbst der französische Präsident Emmanuel Macron hat seine wichtige Rolle erkannt: Am 20. Juli steht Andreas Jung im Innenhof der französischen Botschaft in Berlin, wie Bilder auf Twitter zeigen, und bekommt von Botschafterin Anne-Marie Descôtes eine silberne Medaille ans Revers geheftet: den Ritterorden der französischen Ehrenlegion. Was für eine Ehre, zumal für einen Deutschen. Jung beherrscht die traditionelle Sprache der Diplomatie, weil seine Eltern in seiner badischen Heimatstadt Stockach Französisch unterrichteten. Er leitet die deutsch-französische Parlamentarische Versammlung, bei der zweimal im Jahr jeweils 50 Abgeordnete beider Länder gemeinsam tagen. Neben Umwelt ist Europa zentrales Thema seines politischen Lebens.
Als ihm auf der Reichenau ein Parteifreund auf die Schulter klopft und zum Orden gratuliert, lächelt Andreas Jung und erzählt, sein Sohn hätte gehofft, es gebe auch eine Ritterrüstung dazu. Aber so ein Metallpanzer wäre nicht das Richtige für den Parlamentarier. Denn Jung macht Politik ohne Rüstung, seit er 2005 in den Bundestag einzog: zugänglich, ausgleichend, kompetent. Aus ihm ist ein Experte für komplexe Themen wie den EU-Emissionshandel geworden, der beim Klima eloquent die schwammige CDU-Linie vertritt, die viele Grüne nervt: mehr Investitionen, aber trotzdem die schwarze Null; klimaneutral 2045, aber keine konkreten Zahlen; weder Tempolimit noch Flugverbot. Jung bietet aber beim CO2-Preis, dem schnelleren Ausbau der Erneuerbaren oder einer ökologischen Steuerreform trotzdem Schnittmengen mit den Bündnisgrünen. Und nicht nur mit ihnen. „Der findet mit Kartoffelbauern genauso einen Draht wie mit Vorstandschefs“, sagt ein Beobachter aus der Region. „Er ist vom Typ her jemand, der in den diplomatischen Dienst passen würde.“ Lob von allen Seiten. Nicht mal anonym redet jemand schlecht über „den Andi“. Feinde? Offenbar Fehlanzeige.
Vielleicht war Jung dafür in der Vergangenheit schlicht nicht wichtig genug. Im Schlachtengetümmel der Energiewende zog Ritter Jung mit seinen wenigen Getreuen immer wieder den Kürzeren gegen den Wirtschaftsflügel der Union: Die Solarindustrie wurde ruiniert, der Windausbau kam nicht vom Fleck, es gab Subventionen für Kohle und Verbrennungsmotoren. Aber Jung blies nie zur Öko-Offensive. 2018 übernahm er den Posten als Finanzexperte der Fraktion und ließ das Umweltthema damit offiziell hinter sich.
Eine grünere Vision für die Union
Aber 2019 wurde er genau dafür wieder rekrutiert: Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer suchte nach verlorenenWahlen in Bayern, Hessen und Europa und den massenhaften Demonstrationen von Fridays for Future verzweifelt nach einer grüneren Vision für die Union. Jung schrieb ihr das Konzept. Dann sorgte er maßgeblich dafür, dass im Klimaschutzgesetz ein CO2-Preis für das Tanken und Heizen auftauchte – eine Forderung, die in der Union lange als Teufelszeug galt. Und als das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2021 plötzlich von der Regierung schärfere Klimaziele forderte, formulierte wieder Jung zusammen mit seiner CSU-Kollegin Anja Weisgerber die konservative Flucht nach vorn: Klimaneutralität schon bis 2045, höhere Ziele für Erneuerbare. Armin Laschet verkündete das am 3. Mai im Konrad-Adenauer-Haus. Neben ihm nur der Mann für die entscheidenden Details: Andreas Jung.
Seitdem sitzt der Klimaexperte in Talkshows, gibt Interviews und schmiedet hinter den Kulissen Bündnisse. Er ist jetzt an einem entscheidenden Punkt seiner Laufbahn. Zum ersten Mal wird sein Herzensthema Umwelt so wichtig, dass selbst die eigene Partei auf ihn hört. Notgedrungen: Hochwasser und Dürresommer schockieren auch CDU-WählerInnen. Klimaschutzgesetz und Bundesverfassungsgericht zwingen gerade die Law-and-Order-Partei zum Handeln, die EU-Kommission unter der Parteifreundin Ursula von der Leyen legt einen harten „Green Deal“ vor, die Wirtschaft dringt auf Klarheit und milliardenschwere Subventionen. Die Union war lange gut darin, neue Klimaziele zu verkünden und sie dann zu vergessen. Jung weiß: Das funktioniert nicht mehr.
Inzwischen muss er den Schwung seiner ParteifreundInnen manchmal schon bremsen. Denn bei der CDU/CSU trommelt die „Klimaunion“ mit radikalen Ökoforderungen für einen gigantischen Ausbau der Erneuerbaren und 100 Prozent Ökoenergie schon 2030. Diese kleine Lobbygruppe von ChristdemokratInnen hat bislang nicht viel Macht, aber ihre Forderungen werden gehört. Jung teilt nicht jede Position, unterstützt aber die Stoßrichtung. „Es ist doch gut, wenn die Leute, die beim Klimaschutz etwas bewegen wollen, zu uns kommen“, sagt er. Wie gewohnt diplomatisch.
Der erfahrene Politiker weiß genau, warum er lieber vorsichtig ist: Es ist gefährlich, Dinge zu versprechen, die man nicht halten kann. Denn der Alltag der Energiewende ist zäh. Auf seiner Wahlkampftour stoppt er nahe der Autobahn Singen–Stuttgart bei Engen. Hier wird ein neuer Solarpark direkt neben der Fernstraße eingeweiht. In der Mittagshitze drängen sich bei Sprudel und Butterbrezeln ein Dutzend CDU-Gemeindevertreter unter zwei Sonnenschirmen um ihren Abgeordneten aus Berlin, manche stehen eine halbe Stunde in der prallen Sonne, um ihre Geschichten loszuwerden. Jung lässt sich vom täglichen Kampf um Flächen und Baugenehmigungen in den Gemeinden berichten. Das hier ist eine ganz andere Welt als in den hochfliegenden Visionen der „Klimaunion“.
Jung fragt nach, berichtet aus Berlin und lobt einen Kandidaten, der auf einem Wahlplakat offensiv mit Windanlagen wirbt. Auf der Wiese voller Solarmodule, wo der Verkehr vorbeidonnert, wagt der sonst so loyale Jung sogar eine indirekte Kritik an Parteichef Laschet. Der warnt häufig, es mit dem Klimaschutz nicht zu übertreiben. Jung dagegen will mehr Optimismus: „Wir müssen die Erneuerbaren mehr als Chance sehen und offensiv für sie werben.“
Was treibt diesen Mann an? Karrierismus wohl kaum. Wer sich als Christdemokrat für Ökothemen interessiert, hatte in der Union bisher keine steile Laufbahn vor sich. Die Vordenker für die „Bewahrung der Schöpfung“ waren Einzelkämpfer und verloren häufig ihre Schlachten. Herbert Gruhl verließ die Partei 1978, Klaus Töpfer wurde in Deutschland erst wirklich einflussreich, als er für die UN in Afrika arbeitete. Der CSU-Abgeordnete Josef Göppel ertrug bis 2017 fünfzehn Jahre lang stoisch seine Rolle als ungeliebtes grünes Gewissen der Unionsfraktion. Am Ende zog Göppel ein bitteres Fazit: „Ich war eine singuläre Stimme und bin daran gescheitert, einen Umweltflügel in der Union zu gründen.“
Jung wählte einen anderen Weg: Kompromiss statt Konfrontation, Biobürgerlichkeit statt Ökorevolution. Der Katholik zitiert dazu immer wieder Papst Franziskus. Umwelt und Gerechtigkeit seien ihm wichtig, seit er als Schüler in der „AG Müll“ mitmachte. Ist er damit nicht in der falschen Partei? Jung schüttelt energisch den Kopf. Er kämpft schon immer dafür, dass auch UmweltschützerInnen die Union wählen können. In seiner liberalen Heimat Südbaden sei Umwelt eben auch immer ein konservatives Thema gewesen. „Als in Wyhl bei Freiburg in den siebziger Jahren ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte, gab es auch in der Union einen Aufstand“, sagt Jung. Am Bodensee seien die Menschen sensibel für Ökofragen, weil sie mit dem See leben. Die Landwirte hätten früh gemerkt, dass sich Naturereignisse wie Hagel und Hitze häufen. Die Region hat sich gegen Fracking gewehrt, 20 Kilometer hinter der Grenze plant die Schweiz ein atomares Endlager. Die Themen liegen vor der Haustür.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Andreas Jung erzählt freimütig, wenn man ihn im weißen E-Mercedes durch seinen Wahlkreis begleitet. Am selben Tag verkündet der Daimler-Chef, ab 2030 nur noch E-Mobile zu bauen. Für Jung sind das gute Nachrichten: Denn damit lässt Daimler die fossilen Energien hinter sich, ganz ohne ein direktes staatliches Verbot. Umwelt, so Jungs Botschaft, ist nichts, was nur die Grünen können.
So sieht das auch ein Dutzend Herren, die auf dem Fuchshof bei Konstanz auf „den Andi“ warten. Darunter Obstbauern, der CDU-Umweltsprecher aus dem Landtag, Experten vom Naturschutzbund Nabu und BUND, ein Behördenvertreter. Der Raum ist dekoriert mit historischen Fässern, Wagenrädern und Obstpressen, dennoch geht es hier um die Zukunft. Ein neues Gesetz verbietet Pestizide in Naturschutzgebieten, aber dort haben manche Anwesende ihre Bäume stehen, nun fürchten sie das Aus. Die Naturschützer wollen den Giftcocktail verringern und trotzdem irgendwie die Produktion retten. Jung hat bei dem Thema schon früher vermittelt, jetzt sitzt er mit hochgekrempelten Ärmeln am Tisch, fragt nach, will Details wissen, bindet den Kollegen aus dem Landtag ein, lotet Kompromisse aus. „Wir brauchen gemeinsam eine partnerschaftliche Perspektive“, sagt er.
Das ist Jungs Vorstellung von Politik: alle Beteiligten an einen Tisch holen, informell Einigungen vorbereiten. Auf dem Fuchshof gibt es heute kein Ergebnis. Aber Arbeitsaufträge und Jungs Versprechen, dranzubleiben.
Begeisterung für den Kompromiss
Jungs Begeisterung für den Kompromiss ist sein großes Talent. Vielleicht ist sie aber auch seine große Schwäche. Man habe ihn für seine Themen in der Partei „nie wirklich kämpfen sehen“, sagen Beobachter. Gelegenheiten dazu gab es genug. In den letzten Jahren war die Unionsfraktion das schwarze Loch der Energiewende: Hier wurde blockiert und getrickst, die Bremserfraktion schickte einen Staatssekretär und eine Abteilungsleiterin als Aufpasser ins Wirtschaftsministerium. Kanzleramt und Ministerium standen oft hilflos vor diesem Machtzentrum, in dem „70 Prozent der zuständigen Abgeordneten die ganze Richtung der Energiewende nicht passt“, wie ein hochrangiger Unionspolitiker sagte.
Jung war dabei, konnte das aber nicht verhindern: Es war die bislang größte Niederlage in seiner Bilderbuchkarriere. Josef Göppel sieht in Jung einen „netten Kollegen, aber keinen Kämpfer“. Man müsse „in einer Fraktion von 300 Leuten auch mal couragiert aufstehen“, um die Stimmung zu wenden. „Das habe ich bei ihm nie erlebt, obwohl er für Klimapolitik zuständig war.“ Und Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe sagt: „Wir sind zunehmend enttäuscht, wie wenig bei Jungs Politik für die Umwelt rausgekommen ist.“ Obwohl er „menschlich große Sympathie“ für Jung empfinde. Der müsse aber „seinen Stil ändern, moderieren reicht nicht mehr“.
Andreas Jung kennt diese Vorwürfe. „Aber verwechseln Sie nicht Verbindlichkeit mit fehlender Härte in der Sache“, sagt er dazu. Jahrelang, so erzählt er, habe er in der Fraktion dagegen gehalten, als der Wirtschaftsflügel noch gegen Umweltstandards und Erneuerbare vom Leder zog. Er habe klimapolitisch Kante gezeigt und neu im Bundestag mit anderen Unionsumweltpolitikern für einen „Töpfer-Kurs“ geworben. Später rief er den „Klimakreis“ der Fraktion ins Leben. „Wenn wegen anderer Krisen der Klimaschutz nicht mit dem nötigen Nachdruck weiterverfolgt wurde, war das ein Fehler“, meint er rückblickend. Aber man habe gelernt: „Bei Corona wurde dann in Konjunktur und Zukunft investiert – etwa in die Wasserstoffstrategie.“
Mit öffentlicher Kritik an den eigenen Leuten hält er sich extrem zurück. Lieber sucht er nach Alliierten außerhalb der Fraktion, so hat er beim Aufbau des neuen wirtschaftsnahen Thinktanks Epico KlimaInnovation mitgeholfen. Sein informeller „Klimakreis“ in der Fraktion, den 2018 die CSU-Klimasprecherin Anja Weisgerber von ihm erbte, sei von wenigen Aufrechten auf mehrere Dutzend gewachsen, sagt Weisgerber. „Wir stimmen uns ab, wir hören Experten an, aber wir wirken vor allem nach innen in die Fraktion“, sagt sie. „Wir sind schließlich eine Volkspartei, die alle Seiten mitnehmen muss. Wir arbeiten im Maschinenraum des Parlaments.“
Da prallen zwei Konzepte aufeinander: Aufstand der Weltretter gegen die Mechaniker der Macht. Man könnte sagen: Jürgen Resch und Josef Göppel wünschen sich, dass Ritter Jung ab und zu einen Drachen tötet. Der aber will den Drachen lieber zähmen, um auf ihm zu reiten.
Die Lust am Ausgleich
Die Lust am Ausgleich liegt in Jungs Heimat. Man suche hier keinen Streit, sagen die Leute. Die Schweiz mit ihrer Konsensdemokratie ist gleich nebenan. Und Jungs Heimat, die Gemüseinsel Reichenau, erscheint wie eine Insel der Seligen. Ritter Jung wohnt hier zwischen Treibhäusern und Weltkulturerbe, auf seiner Insel stehen Klöster, die 1.300 Jahre alt sind, und Dorflinden, die 700 Jahre auf dem Buckel haben. Hinrichtungen gab es nur auf dem Festland.
Cem Özdemir, Grünen-Politiker
Jung ist durchaus machtbewusst. Er hat im Frühjahr die grün-schwarze Koalitionsvereinbarung in Baden-Württemberg führend mitverhandelt. Er ist Chef der CDU-Landesgruppe Baden-Württemberg im Bundestag, der zweitstärksten Truppe von Abgeordneten. Er ist einer der „Teppichhändler“, die in der Fraktion Posten und Aufgaben verteilen. Und nach der Wahl wird Jung so mächtig sein wie nie zuvor. Folgerichtig wäre der Job als Vizechef der Fraktion, statt für Finanzen zuständig für Umwelt, oder ein Ministeramt. Kann Jung ein treuer Knappe von Laschet werden – und trotzdem eine eigene Truppe von Regenbogenkriegern anführen? Immerhin sind zwei Wortführer der Bremserfraktion verschwunden: CSU-Mann Georg Nüsslein stolperte über Maskendeals, CDU-Wirtschaftssprecher Joachim Pfeiffer gab lieber sein Mandat auf, als die Geschäftspartner seiner Nebenjobs offenzulegen.
Jeder anständige Ritter hat einen Hofnarren. Andreas Jung hat gleich zwanzig. Am Ende einer langen Wahlkampfwoche erscheint er noch beim Stockacher Narrengericht. Seit 1351 klagen die Narren in Jungs Heimatstadt Persönlichkeiten wegen diverser närrischer Vorwürfe an, der Delinquent darf sich dann möglichst geistreich verteidigen und wird dazu verurteilt, teuren Wein zu stiften. Dieses Jahr hat es Cem Özdemir von den Grünen erwischt. Also sitzt Özdemir in Anzug und Sneakers im Garten des Stockacher Restaurants Zum Goldenen Ochsen, umringt von Männern in schwarzen Jacketts mit bunten Narrenkappen auf dem Kopf.
Es ist nicht ganz einfach, mit Özdemir am Rand des lustigen Treffens ein paar ernsthafte Worte zu wechseln. Dann sagt er aber doch, dass er Jung für sein „großes Engagement, Sachkenntnis und das Herzblut, mit dem er dabei ist“, schätzt. Aber Özdemir sieht noch mehr in ihm: „Wir brauchen Jungs Einfluss bei der Union. Denn gegen die Union wird es keinen Klimaschutz geben, wenn ich an ihre Ministerpräsidenten in den Ländern denke.“
Aber Jung brauchte auch schon früher die Grünen für mehr Klimaschutz, sagt Özdemir: „Ohne uns wäre der CO2-Preis, den er verhandelt hat, bei den homöopathischen 10 Euro geblieben, den haben wir unter schwersten Bedingungen im Vermittlungsausschuss auf 25 Euro gebracht.“ Und Laschet, der mit Klimaschutz wenig am Hut habe, schiele eh auf die FDP. „Jung muss für mehr Klimaschutz in der Union jetzt in der Fraktion die Machtfrage stellen, gegen die alten Seilschaften, die in den letzten Jahren Klimaschutz sabotiert haben.“
Der Termin ist zu Ende. Für Andreas Jung geht es endlich nach Hause zur Familie und ins Wochenende. Auf der Fahrt durch Stockach weist er aus dem Fenster: Da liegt der Fußballplatz des VfR Stockach, wo er in der Jugend als Torwart gespielt hat. Die Vereinsfarben: Schwarz-Grün.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen