Ungerechte Bildungspolitik: Gleiche Schule für alle!
Kinder schon nach der vierten Klasse zu sortieren, das begründet Chancenungleichheit. Dabei würde alle davon profitieren, wenn sie länger zusammen lernen.
D ieser wird der letzte Tag sein, an dem sie alle nochmal zusammen sind. Mehmet und Charlotte, Mila und Sahay, Jasper und Bahar, die ganze Klasse 4b. Das Sportfest ihrer Grundschule, das Eltern und Lehrer organisiert haben, ist für sie zugleich der Abschied von dieser Schulform. In wenigen Tagen sind Sommerferien, danach werden sie auf verschiedene weiterführende Schulen gehen. Zu früh, denke ich, als ich sie da alle so sehe.
Als Klassengemeinschaft laufen sie die Stationen des Sportfestes ab. Weitsprung, Rennen, Werfen, Wasser mit Schwämmen aufnehmen und möglichst viel in einen anderen Eimer transportieren. Alle zusammen, das heißt an diesem Tag nochmal: Sie feuern sich gegenseitig an. Egal, ob Mehmet Anlauf zum Weitsprung nimmt oder Emma einen Ball wirft. „Mehmet, Mehmet, Mehmet“ rufen sie oder „Super, Emma!“
Sie sind in vier Grundschuljahren eine Gruppe geworden, die zusammenhält. Ist die eine in Mathe fertig mit den Aufgaben, hilft sie den anderen. Einer ist stark im Fußball, ihn wollen sie in ihrer Mannschaft haben. Eine kann besonders gut tanzen. Führen sie mit dem tollen Musiklehrer einen Tanz auf, tragen die anderen sie auf Händen. Es gibt Unterschiede, man sieht sie auch – Anziehsachen, Zustand der Fahrräder, neue Ranzen oder gebrauchte –, aber es wirkt so, als spiele das keine Rolle. „Wir sind die 4b …“, so geht das Lied, das sie zum Abschied singen.
Ich sitze an der Weitsprunggrube; eine Mutter misst, ich trage die Ergebnisse in Listen ein. Ich sehe alle Namen und vermute sozioökonomische Begebenheiten, von manchen weiß ich sie auch. Vornamen, die auf gut situierte Familien schließen lassen. Viele Einfamilienhäuser wurden am Rande des Viertels gebaut. Wer da wohnt, wohnt im eigenen Haus, hat den Garten mit Trampolin, Schaukel, Kletterwand möbliert, zwei Autos, Carport.
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Andere Namen lassen auf andere Hintergründe schließen. Die Wohnblöcke aus den 70ern. Wer dort wohnt, wohnt im Soundso-Viertel.
Ich frage mich, wie es wäre, wenn diese Klasse zusammenbliebe. Wenn die einen nicht auf die Oberschule gingen und die anderen nicht aufs Gymnasium. Wenn sie die Grenzen, die es gibt und die sie sicher auch spüren, weiterhin überwinden würden. Weil sie miteinander im Unterricht Neues entdecken, Unbekanntes erkunden, weil sie zusammen in die Pause gehen und Fangen spielen.
Jemand, dem ich davon erzähle, lacht mich aus. Das sei ein Griff in die Mottenkiste, gemeinsames Lernen, die Starken ziehen die Schwachen mit. Trotzdem werde ich wehmütig. Denn es ist, wie es ist: Die Klassenlisten werden nach den Sommerferien anders aussehen. Kinder werden in ihren Blasen unter sich sein. Vielfalt in der Gruppe wird aufgegeben, andere Lebensverhältnisse werden sie nicht mehr direkt erleben, das Verständnis füreinander verlieren, den Respekt.
Die Statistik, die unsere Stadt für die 5. Klassen erhoben hat, bestätigt meinen Eindruck, allein schon für die Familiensprache: Von den 29 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die eine nichtdeutsche Familiensprache haben, besuchen 57 Prozent die Oberschulen und nur 18 Prozent die Gymnasien. Oberschule heißt oft: wird später schwierig. Gymnasium heißt: hat mehr Chancen.
Bildungsexperten sehen seit Jahren die frühe Trennung der Kinder in verschiedene Schulformen als Ursache der Chancenungleichheit. Ich weiß das, ich habe oft davon gehört. An der Weitsprunggrube aber wird es mir wieder bewusst: Alle zusammen, das ist jetzt vorbei. Es beginnt die Zeit der Schubladen. Wer in die richtige einsortiert wird, hat Glück.
Ich vermute, wir alle würden profitieren, wenn wir uns nicht so früh voneinander trennen würden. Aber es ist, wie es ist. Am Ende des Sportfestes laufen die Kinder zur Schule zurück. Alle zusammen. Ein letztes Mal.
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