piwik no script img

US- und EU- GeopolitikHybris des Westens

Stefan Reinecke
Essay von Stefan Reinecke

Das Rezept „Demokratie gegen Diktatur“ ist global gesehen zu schlicht. Die USA und Europa müssen sich mit ihrem Bedeutungsverlust auseinandersetzen.

Der Westen: Menschenrechte in der einen, mit der Waffe in der anderen Hand Illustration: Katja Gendikova

D ie neue globale Trennungslinie scheint „Demokratie gegen Autokratie“ zu sein. US-Präsident Joe Biden trommelt Demokratiegipfel zusammen, um eine vom Westen angeführte internationale Front gegen die autoritären Bedrohungen aus Russland und China zu bauen. Der Westen scheint seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wieder auferstanden zu sein, als moralische Wertegemeinschaft und schlagkräftiger politischer Player. Sogar das etwas ausgebleichte Freiheitsversprechen glänzt wieder.

In Europa wirkt diese Erzählung derzeit aus guten Gründen überzeugend. Putins neoimperiale Aggression zielt über die Ukraine hinaus. Die Sicherheit Europas wird, wie seit 1990 nicht mehr, von dem atomaren Drohungspotenzial der USA gewährleistet. Nur wenn der Westen vereint auftritt, wird er der russischen Aggression langfristig Einhalt gebieten.

Das Bild „Demokratie gegen Diktatur“ mag verführerisch klar sein, aber es ist als globales Rezept zu schlicht. Olaf Scholz, ansonsten Bidens treuer Verbündeter, reiht sich zu Recht nur halbherzig in den Feldzug gegen die Diktaturen ein und warnt in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs vor „einer neuen Zweiteilung der Welt in Demokratien und autoritäre Staaten“. Es gibt triftige Gründe, die gegen die gefeierte Renaissance des Westens sprechen – und noch mehr gegen die Aufspaltung der Welt in ein moralisch überlegenes, überwiegend weißes Zentrum und einen autoritären Rest.

Vielleicht ist die Beschwörung westlicher Werte nur die Begleitmusik, die den globalen Niedergang der USA und Europas übertönen soll. Die USA haben vor 20 Jahren noch achtmal so viele Waren und Dienstleistungen hergestellt wie China, heute ist dieser Vorsprung auf 25 Prozent geschrumpft. In den 38 OECD-Staaten, die sich Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen, also im erweiterten Westen, leben nur 16 Prozent der Weltbevölkerung. Global unangefochten führend ist der Westen nur in einem Metier: Waffen. Die USA geben doppelt so viel Geld für Rüstung aus wie Russland, China und Indien zusammen. In den Nato-Staaten lebt ein Achtel der Weltbevölkerung – aber sie zahlen 50 Prozent der globalen Rüstungsausgaben.

Selbstbestimmung nur für weiße Europäer gedacht

Um die Ambivalenz des mit Waffen und Weltanschauung ausgerüsteten Westens zu verstehen, nutzt ein Blick zurück auf den Moment, in dem der Westen als Verbindung der Macht­zentren USA und Europa auf der Weltbühne erschien. Die Vereinigten Staaten traten 1917 auf der Seiten von Frankreich und Großbritannien, den europäischen Demokratien, in den Ersten Weltkrieg ein. ­Woodrow Wilson fuhr 1919, als erster US-Präsident überhaupt, ins Ausland.

In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis

Er reiste mit einer großformatigen Idee im Gepäck nach Europa – dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das zwischen Paris und Belgrad eine gerechte Nachkriegsordnung stiften sollte. Mit Wilsons Reise begann das amerikanische Jahrhundert, in dem die USA in der Doppelrolle als Weltpolizist und Lehrmeister in Sachen Demokratie aufzutreten gedachten. Inder und Vietnamesen, Ägypter, Koreaner und Chinesen waren begeistert von Wilsons Idee, dass die Völker fortan selbst über ihr Schicksal bestimmen sollten. Und sie wurden bitter enttäuscht.

Denn Selbstbestimmung war nur für weiße Europäer gedacht, nicht aber für Bewohner der europäischen Kolonien. Ein 25-jähriger chinesischer Intellektueller notierte 1919 nach dem frustrierenden Ende der Versailler Verhandlungen in sein Tagebuch: „So viel zur nationalen Selbstbestimmung.“ Sein Name war Mao Zedong. Die Verwandlung prowestlicher asiatischer Idealisten in Kommunisten ist, wie der Publizist Pankaj Mishra gezeigt hat, ohne den Rassismus des Westens kaum zu verstehen.

Menschenrechte mit eigenen Interessen abgeglichen

Die Apologeten des Westens betonen heute, dass all das lange her ist. Zudem verfüge der Westen über die Fähigkeit zu Selbstkorrektur und selbstkritischer Vergangenheitsbearbeitung. In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte, vor allem wenn sie von moralischen Fanfarenstößen begleitet werden, verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis.

Zudem zeigen zwei Beispiele, dass der Westen Werte und Menschenrechte noch immer kühl mit eigenen Interessen abgleicht. Erstens: Saudi-Arabien führt im Windschatten des öffentlichen Interesses einen brutalen Krieg im Jemen. Es gibt in diesem Stellvertreterkrieg, in dem Iran die andere Seite unterstützt, laut der UNO 380.000 Opfer. Wirtschaftssanktionen gegen Riad? Im Gegenteil. Saudi-Arabien ist seit Jahrzehnten mit dem Westen verbündet und ein verlässlicher Öllieferant. Und EU- und Nato-Staaten beliefern Saudi-Arabien mit Waffen. Die Unterstellung, dass sich der Westen um die Ukraine kümmert, weil dort weiße Europäer sterben, wirkt angesichts des Grauens der russischen Kriegsführung kaltherzig. Völlig abwegig ist sie nicht.

Zweitens: Der Westen hat nach 1990 die Chance verspielt, als Sieger des Kalten Krieges eine stabile Ordnung zu schaffen. Die USA haben in Afghanistan und Irak im Namen von „Menschenrechten und Demokratie“ (George W. Bush) vielmehr genau das Muster wiederholt, das dafür sorgt, dass westliche Werte in vielen Regionen der Welt als Hohn empfunden werden. Beides waren neo­kolonial gefärbte Kriege.

Im Falle des Iraks schufen die USA durch ihren Angriffskrieg mit dem Islamischen Staat erst das Monster, das sie zu bekämpfen angetreten waren. Wenn die USA nach 2000 als Weltpolizist auftraten, dann meist als ein unfähiger Macho-Cop, der auf eigene Rechnung arbeitete und dem das Gemeinwohl schnurz war. „Nichts untergräbt die Idee des Westens mehr als die Verwestlichung mit vorgehaltenem Gewehr, wie sie vom 19. bis ins 21. Jahrhundert immer wieder praktiziert wurde“, so der US-Historiker ­Michael Kimmage.

Ideologen des Westens wie der Publizist ­Richard Herzinger bauen unverdrossen weiter auf dieses Konzept. „Wenn die demokratische Welt Einigkeit, politische Entschlossenheit und militärische Stärke mit konsequentem Eintreten für Freiheitsrechte überall auf dem Globus verbindet, wird sie auch künftig die bestimmende weltpolitische Kraft sein“, so Herzinger. Es gilt also weiterhin den Globus mit den Segnungen des Liberalismus zu beglücken – mit den Menschenrechten in der einen Hand, überlegener Feuerkraft in der anderen. So klingt eine lernunfähige, liberale Ideologie, die blind dafür ist, dass die Mischung aus zivilisatorischem Sendungsbewusstsein und rüder Interessenpolitik in vielen Regionen als Neuauflage des Imperialismus des 19. Jahrhunderts verstanden wird.

Politische Hartwährung im Ost-West-Konflikt

Es stimmt: Mächtige Autokraten instrumentalisieren die Kritik an der Doppelzüngigkeit des Westens, um weiter ungestört die eigene Bevölkerung zu schikanieren. Vor allem Putin und die russische Propaganda bedienen sich oft surrealer, vor Hass triefender antiwestlicher Klischees, um die eigene Herrschaft zu festigen. Doch das schafft die Frage nach der Doppelmoral des Westen nicht aus der Welt. Im Gegenteil.

Es gibt in der jüngeren Geschichte in der Tat einen glanzvollen Augenblick, in dem es dem Westen gelungen ist, Menschenrechte produktiv als außenpolitischen Faktor einzusetzen. 1975 verpflichteten sich in der KSZE-Schlussakte auch die realsozialistischen Regime darauf, die „universelle Bedeutung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten“ zu achten.

Damit wurden Menschenrechte eine Art politischer Hartwährung im Ost-West-Konflikt, mit subversiver Kraft. Die Bürgerbewegungen im Osten nutzten die KSZE-Schlussakte, um die eklatanten Widersprüche der staatssozialistischen Regime bloßzulegen. Der Kalte Krieg war auch eine Konkurrenz von zwei Systemen, die beide universelle Geltung beanspruchten. Der Kampf wurde auch auf dem Feld von Ideen und Werten ausgetragen.

Es spricht allerdings nichts dafür, dass es in dem prägenden Konflikt des 21. Jahrhunderts zwischen China und den USA einen KSZE-Moment geben wird. Peking hat, anders als der Staats­sozialismus, keine Botschaft. Es will Handelsstraßen, Absatzmärkte und Einflusszonen, aber kein Modell für andere Länder sein. Weil es keine universell angelegte chinesische Erzählung gibt, die durch Realitätschecks blamiert werden könnte, ist Peking unempfindlich gegen moralische Vorhaltungen. Eine auftrumpfende Menschenrechts- und Demokratierhetorik des Westens hat somit nur begrenzte Reichweite. Womöglich kann sie sogar schaden.

Die Freund-Feind-Logik schadet

Denn das Passepartout „Demokratie versus Diktatur“ verstellt den Blick auf das, was realpolitisch passiert. Der Konkurrenzkampf zwischen der Supermacht des 20. Jahrhunderts und der aufsteigenden Macht des 21. Jahrhunderts ist keiner zwischen Gut und Böse, sondern ein Ringen um geopolitische Einflusszonen. Wenn man sich Paul Kennedys Studie „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ vergegenwärtigt, so ist die Geschichte der Imperien durch einen wiederkehrenden Rhythmus von Aufstieg, Überdehnung, Erschöpfung und Abstieg gekennzeichnet. Die USA verlieren derzeit ihren Status als einzige Supermacht, China steigt politisch, ökonomisch und militärisch zum globalen Konkurrenten auf. Die letzten 500 Jahre machen wenig Hoffnung, dass solche gleich­zeitigen Auf- und Abstiege unblutig verlaufen.

Auch das spricht dagegen, sich eine schlichte Freund-Feind-Logik, Demokratie gegen Diktatur, zu eigen zu machen. Diese Blickverengung erschwert jene Kompromissbildungen, die nötig sind, um die Rivalität zwischen den USA und China zu entschärfen und in zivile Bahnen zu lenken. Zudem existiert mit dem Klimawandel etwas welthistorisch Neues – auch ärgste Gegner sind gezwungen zu kooperieren.

Der Westen wird ein Machtblock unter mehreren werden. Er wird sich gegen aggressive Autokraten behaupten müssen. Seine zentrale Aufgabe aber wird sein, den eigenen Abstieg klüger zu managen als seinen Sieg 1990. Er muss sich von dem zerstörerischen Traum verabschieden, dass es seine Mission ist, die Welt nach seinem eigenen Bild zu formen. Der Westen sollte die universellen Menschenrechte keinesfalls aufgeben, aber aufhören, sie wie einen moralischen Besitzstand zu verwalten, den man in passenden Momenten einsetzt. Der Westen muss, will er eine Zukunft haben, seine eigene Hybris einhegen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
Mehr zum Thema

23 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Das ist zu simpel gedacht; und zwar nicht nur, weil man das Argument ja auch umdrehen kann: es gibt im Westen auch Russophilo - sind die dann ein Beweis für die Universalität russischer Werte? Ihr Denkfehler besteht darin, dass Sie zum einen nur diejenigen wahrnehmen, die (scheinbar) Ihre Werte teilen (nicht alle Chinesen haben 1989 demonstriert und die Vertreter der Islamischen Republik sind auch Iraner), zum anderen darin, dass Sie ausblenden, wie ideologische Hegemonie zustanden kommt und was das mit realen Machtverhältnissen zu tun hat; ein paar Philosophen in den Raum zu werfen, ist recht problematisch: denn auch hier könnte man auch andere Namen nennen (Hegel zum Beispiel oder Heidegger, die auch Werte vertreten haben, die irgendwann einmal westlich waren...) - ihre Auswahl repräsentiert ja nicht die westliche Philosophie, sondern nur die westlichen Philosophen, die Ihnen gefallen (und gerade Kant (sic!) ist ein problematischer Fall, weil sein Denken auf einer höchst fragwürdigen Hypothese beruht).

    • @O.F.:

      Bezieht sich auf "Viel-Leser" unten!

  • In dem Essay wird versucht, einen merkwürdigen Antagonismus zwischen den westlichen Werten und (vermeintlich anderen) Werten der übrigen Welt aufzubauen. Ganz so, als wären die Demokratie und die Menschenrechte nur eine neokoloniale Erfindung "des Westens" und die Menschen im Rest der Welt hätten da gar keinen Bock drauf.



    Nur zeigen doch zahllose Beispiele, dass Menschen auf dem gesamten Erdball die "westlichen" Werte teilen. Seien es die chinesischen Studentendemonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 oder die sudanesische Demokratiebewegung 2019. Die Regime, die diese Werte ablehnen, sprechen hingegen nicht im Namen ihrer Bevölkerungen. Es könnte daher keinen größeren Fehler geben als Demokratiebewegungen im Rest der Welt im Stich zu lassen (so wie eben im Iran passiert, wo die Demokratiebewegung von der EU für ein sinnloses Atomabkommen auf schmählichste Weise verraten wurde).



    Vielleicht aber rührt dieser ganze missverstandene Antagonismus zwischen "dem Westen" und dem Nicht-Westen, wie er hier im Essay konstruiert wird, auch daher, dass neokonservative Schwätzer wie Richard Herzinger zu den Sprechern der westlichen Werte erhoben werden. Das wäre dann aber nur ein Strohmann-Argument, denn die eigentlichen Vertreter westlicher Werte, wie wir sie alle kennen, heißen Voltaire, Immanuel Kannt, John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Und nicht Richard Herzinger.

  • Bis auf den letzten Absatz ist schwer verständlich, worauf Herr Reinecke wohl hinaus will, und selbst da redet er nur in Verneinungen: Der Westen, wir alle, sollten Demokratie und Freiheit immer leben und fördern (und nicht nur den anderen vorhalten, die es nochmal deutlich schlimmer treiben im eigenen Land als wir.) Das kann man so unterschreiben.







    Dass wir uns aber schwer damit tun, die kolonialen Verbrechen aufzuarbeiten, die Vorteile, die Bürger der westlichen Staaten noch immer deswegen genießen, weil unsere Vorfahren den Rest der Welt ausgebeutet haben, gibt Anlass zur Kritik. Nur sollte niemandem daran gelegen sein, dass die Feinde der Demokratie und Freiheit diese gegen Rassismus aufrechnen. Stattdessen muss der Kampf für Demokratie und Freiheit ergänzt werden um den Kampf für Gleichheit und sozialen Ausgleich.







    Was schließlich allzu oft vergessen wird, sind der Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft. Deutschland hatte vor dem 2. Weltkrieg eine Tradition von beidem, die z.B. Russland bis heute nicht in vergleichbarem Maße entwickelt hat. Vereine und Genossenschaften könnten überall auf der Welt einen Gegenpol zum Staat schaffen, der ohne diese sehr leicht übergriffig und von Autokraten missbraucht werden kann.







    Um erfolgreich die Welt besser zu machen, sollten wir vielleicht nicht so sehr in Sonntagsreden Freiheit und Demokratie schreien, sondern lieber den sozialen Rechtsstaat vorleben und ihn gegen die Neoliberalen und Egoisten verteidigen.

  • "Ein 25-jähriger chinesischer Intellektueller notierte 1919 nach dem frustrierenden Ende der Versailler Verhandlungen in sein Tagebuch: „So viel zur nationalen Selbstbestimmung.“ Sein Name war Mao Zedong. Die Verwandlung prowestlicher asiatischer Idealisten in Kommunisten ist, wie der Publizist Pankaj Mishra gezeigt hat, ohne den Rassismus des Westens kaum zu verstehen."

    Es ist Stefan Reinecke ja unbenommen, sich im postkolonialen Furor beständig Asche auf's Haupt zu streuen und zum xten Mal tatsächliche oder vermeintlichen Sünden des Westens zu geißeln. Aber der unablässig wiederholten Behauptung, irgendwie sei an allem Übel der Welt der westliche Rassismus schuld, darf man gelegentlich doch ein paar Fakten gegenüberstellen.

    Der Krieg, den die USA im Pazifik gegen Japan geführt haben, hatte primär die Verhinderung einer japanischen Vormachtstellung in dieser Region zum Ziel. Er hat aber ganz nebenbei den Effekt gehabt, auch China von seinen japanischen Kolonialherren zu befreien.



    Als Mao Tse-tung dann nach Vertreibung seines innerchinesischen Rivalen Tschang Kai-shek seine eigene Diktatur errichtete, fielen dieser weit mehr Menschen zum Opfer als zuvor der japanischen oder den anderen europäischen Kolonialmächten www.faz.net/aktuel...en-tote-14038.html

    • @Schalamow:

      Mir scheint, Sie verwechseln hier die beiden Weltkriege - aber als Mao diese Worte 1919 notiert hat, war Japan noch gar keine Kolonialmacht in China; diese Rolle hatten noch westliche Mächte inne und genau darum ging es auch Mao.



      Der faz-Artikel ist argumentativ problematisch, weil er z.B. die (übrigens nicht unumstrittenen) Opferzahlen der Großen Sprungs einbezieht, d.h. die in Folge ökonomischer Fehlentscheidungen Verhungerten, nicht nur die Opfer direkter Gewalt; das kann man natürlich mit guten Gründen machen, muss dann aber konsequent bei allen gemacht werden - und dann fällt der Vergleich für andere Staaten weniger gut aus...

      • @O.F.:

        Sie verfehlen meinen Punkt. Es geht mir hier um die etwas schlichte Sicht, dass "der Westen" an allem Elend der Welt schuld sei. Das schreibt Reinecke zwar nicht, ist, so wie ich ihn einschätze, auch nicht dieser Auffassung, gleichwohl ist sein Essay in genau dieser Büßer-Haltung verfasst.

        Man muss nun nicht seinerseits in eine unkritisch-apologetische Haltung verfallen, darf aber dennoch darauf hinweisen, dass die Geschichte eben nicht nach diesem einfachen Strickmuster verfasst ist.

        Ich will hier keine Opfer-Zahlen diskutieren, aber es erscheint mir dann doch etwas zu simpel, die Toten des "Großen Sprungs" ausschließlich nach dem Motto "dumm gelaufen" zu verbuchen und eben nicht auch als Konsequenz der Einparteien-Diktatur Maos.

        • @Schalamow:

          Sie sagen es ja selbst, das schreibt Reinecke so nicht; angesichts des moralischen Triumphalismus, zu dem man hier gerne neigt, könnte ein bisschen Büßerhaltung allerdings nicht schaden - schon allein, um den Rest der Welt nicht weiter vor den Kopf zu stoßen.



          Im übrigen habe ich den Großen Sprung auch nicht als "dumm gelaufen" bezeichnet, sondern auf unterschiedliche Zählweisen hingewiesen, mit der Maos China in plumper Schwarz-Buch-Manier dargestellt wird - und so einfach ist es eben nicht (Sie wissen viellicht, dass sich die Lebenserwartung in der Mao-Ära verdoppelt hat, und vielleicht auch, wieviele Menschen in derselben Zeit in anderen Ländern wie Indien verhundert sind, ohne in Opferstatistiken aufzutauchen... welche Fakten zur Kenntnis genommen werden und welche nicht, ist eben auch eine politische Frage).

      • @O.F.:

        Wenn man über die Dörfer zieht und bei Bauern eiserne Hacken, Pflüge, Spaten und Eimer konfisziert, ist das eine ökonomische Fehlentscheidung, oder ist das Gewalt?

  • Demokratie überzeugt mich als System.



    Die existierenden Systeme in Russland und China bedürfen genauerer Analyse, machen es diesen Ländern allerdings leichter neokolonial zu agieren.



    Der Gedanke der Zusammenarbeit mit anderen Staaten, die Grundüberzeugungen teilen, empfinde ich als positiv.



    Auch wenn gerne auf die Kolonialgeschichte zurück geblickt wird, wenn es um aktuelle Zusammenarbeit mit anderen Staaten geht, so sollten die Realitäten berücksichtigt werden.



    Die agressivste Neokoloniale Politik betreibt China, die den " Ausbau der Infrastruktur" in vielen Ländern vorantreibt, mit der kleinen Folge, dass diese durch Ihre Verschuldung im zukünftigen Handeln von China abhängig sind.



    Mao wird als kleiner Kritiker des Kolonialismus erwähnt. Das ist eine interessante Darstellung für Jemanden, der Verantwortung für Folter und Millionenfachen Tod trägt.



    Dass das sowjetische Russland Mao unterstützte, als er sich zum obersten Terroristen des Landes entwickelte, spricht für sich.



    Nach öffentlichen Schauprozessen, Folterungen und öffentlichen Ermordungen Andersdenkender, erscheint mir der Mann nicht mehr ganz als höflicher Kritiker.



    Dass Mao mit seiner Kollektivierung für den Hungertod von Millionen verantwortlich zeichnet, sei nebenbei erwähnt.



    Dass China auch heute Meinungsfreiheit brutal unterdrückt und gegen Uiguren vorgeht, ist bekannt.



    Darin kann ich keine erstrebenswerten Ziele entdecken.



    Ich bin froh, in einem Land zu leben, dass sich von solchen Grausamkeiten abgewandt hat. Es ist ein großes Geschenk des Westens, dass wir in den Kreis der Demokratien aufgenommen wurden, so wie die Wiedervereinigung ein großes Geschenk Gorbatschows war .



    Es gibt Werte, für die Gesellschaft einstehen sollte.



    Auch wenn wir im Kapitalismus leben, gibt es bei uns, im Gegensatz zu Russland und China, noch ein paar andere Werte , als Geld.

  • Ich bin aus Russlans und ich habe etwas zu sagen:

    Wollen Sie Russland fur immer stoppen und besiegen? Das ist ziemlich einfach:

    Man soll junge Leute aus Russland epfangen, die wollen Studenten werden - nicht nur als Fluchtlicnge, sondern auch als Studenten.

    Solche Leute sind gebildet, und sie auch Ihre Gesetze und Ihre Kultur respektieren.

    Ohne Wissenschaftler und gebildete Arbeiter Russland wird langsam sicher sterben. Putin's Faschismus kann nur uber sein Geld denken und nie uber Zukunft ses Staat's.

  • Vor allem: wenn "wir" so penetrant mit Menschenrechten hausieren gehen (von mir aus, ich stehe auf Menschenrechte!), dann sollten wir uns verdammtnochmal auch daran halten.

    Derzeit machen wir uns nur zum Narren damit.bbb

  • Was heißt das nun in konkrete Politik übersetzt? Soll der Westen Menschenrechte nur noch für sich selbst nach innen vertreten, also aus universellen Menschenrechten Bürgerrechte machen, aber auf internationaler Ebene beispielsweise gegenüber der KPC-Spitze zu den elenden Zuständen in Xinjiang komplett schweigen weil die bislang obligatorische Erwähnung der Menschenrechte Hybris und Moralismus wäre? Soll man aufhören Freiheit als Wert an sich zu begreifen, sondern als etwas das lediglich das optionale Gegenstück zu einer als gleichwertig begriffenen Unfreiheit ist, so dass jede Kritik an der Unterdrückung der afghanischen Frauen und Mädchen oder dem Lagersystem in Nordkorea unterbleiben muss weil ja doch nur Kulturimperialismus?



    Und welche Argumente bleiben nach all dem noch für die eigene Demokratie? Zumal wenn es sich dabei, wie hier vertreten, doch ohnehin um ein Auslaufmodell handelt, dessen Abstieg sich allenfalls noch verzögern, aber nicht mehr aufhalten lässt. Müsste man, von dieser Warte aus gesehen, nicht viel eher den Versuch unternehmen den Anschluss an die globale Entwicklung aufzuholen und schnellstmöglich ebenfalls eine Diktatur zu errichten? Je krasser, desto besser? Und wie sollte so eine Diktatur dann außenpolitisch agieren? Klar wäre jedenfalls, all die moralisierenden Belehrungen über Demokratie, Freiheit, Menschenrechte könnte man dann beiseite lassen und stattdessen knallharte Intressenpolitik betreiben. Immerhin wäre man mit den all den Xis, Kims, Sauds, Assads, ... dann auf Augenhöhe. Ob die Welt dann eine bessere wäre ist aber eine andere Frage.

    • @Ingo Bernable:

      „Was heißt das nun in konkrete Politik übersetzt?“

      So schwer ist das doch nicht. Das heisst, dass der Westen jetzt mal Ernst machen sollte mit der Umsetzung seiner Werte und Ideale. Menschenrechte einhalten und durchsetzen, für alle Menschen. Entwürdigende Zustände wie Ausbeutung, Armut und Hunger abschaffen.

      Partikularinteressen, jedenfalls wenn sie dem Gemeinwohl offensichtlich entgegenstehen, Einhalt gebieten.

      Ich bin auch noch nicht überzeugt, dass der Westen nicht eine positive Führungsrolle in der Welt übernehmen kann, wenn er sich moralisch erneuert - an seinen eigenen Idealen.

      • @Eric Manneschmidt:

        Ernst machen mit den Werten und Menschenrechten macht aber nur dann Sinn wenn man von diesen auch überzeugt ist. Wenn man sie aber ernst nimmt ist es kaum vertretbar sie lediglich innerhalb der eigenen Grenzen einzufordern und für den Rest der Welt als optionales Nice-To-Have zu betrachten, denn daraus folgt doch zwangsläufig die Frage warum hier obligatorisch sein sollte was man andernorts mit Indifferenz betrachtet. Menschenrechte ernst zu nehmen, muss bedeuten für sie einzutreten egal wo sie gebrochen werden. All die Lager, Folter, Sklaverei, Kinderarbeit, etc. überall in der Welt werden eben nicht dadurch irgendwie akzeptabler weil etwa auch an den EU-Außengrenzen elende Zustände herrschen.

        • @Ingo Bernable:

          Sind wir jetzt so weit

          Ich würd sagen andersrum wird ein Schuh draus. Vor der eigenen Haustüre kehren & mit gutem Beispiel voran gehn. Allgemein: andere kann man vielleicht um etwas BITTEN. "Fordern" ist generell schlechter Stil.

      • @Eric Manneschmidt:

        Der Westen hat doch nach wie vor die absolute Führungsrolle in der Welt, wenn man diese als soft power begreift: Unser Lebens-, Wirtschafts- und Politikmodell ist attraktiv wie eh und je - wenn sich Menschen auf den Weg machen wegen Krieg, Klimawandel oder Perspektivlosigkeit, dann migrieren sie ja in die westliche Hemisphäre oder träumen zumindest davon. Keiner möchte in den Herrschaftsbereichen der von so vielen favorisierten anderen Player einer multipolaren Welt leben. Das mag daran liegen, dass wir Ausbeutung, Armut und Hunger doch schon längst abgeschafft haben und hier Demokratie und Menschenrechte gelebt werden - jedenfalls verglichen mit den Herkunftsländern. So weit, so gut. 

    • @Ingo Bernable:

      „Was heißt das nun in konkrete Politik übersetzt?“.



      Z.B heißt das Grenzen dicht machen, sämtliche Zustände in anderen Ländern sind ja per Definitionen o.k. Es gibt also keine Fluchtgründe mehr.



      Ich verstehe auch nicht, wieso der Autor das Verhältnis des Westens zu Saudi-Arabien moniert, das hat doch Beispielcharakter für die Welt, die er sich wünscht.

      • @Barbara Falk:

        Ich verstehe den Text anders und zwar das der "Westen" indem er Menschenrechte unterschiedlich gewichtet sich unglaubwürdig macht.

        EU Außengrenzen, Diktatoren und Despoten die mit Waffen beliefert werden, Irak, Afghanistan, Lybien oder Guantanamo und andere Geheimgefängnisse.

        Kurz: Menschenrechte < Eigeninteressen

  • Ja, Stefan Reinecke hat die Situation sehr treffend in seinem Essay "Hybris des Westens" beschrieben. Es ist mir aus der Seele geschrieben. Ich hätte es niemals so treffend formulieren können.



    Hoffentlich folgt die wesentliche Politik solchen Leitgedanken. Aber glauben tue ich es nicht. Das macht traurig.

  • Immer wieder lustig wenn die Hobbyastrologen der TAZ Analysen raushauen.

  • ...wenn es um die Gegenüberstellung von Demokratie und Diktaturen geht, fände ich es ganz hilfreich für die Leser, auf die verschiedenen Demokratie Formen hinzuweisen und zu erklären, warum Deutschland nach der Beendigung des 3.Reich, gerade die repräsentative Demokratie von den Siegermächten zugedacht bekommen hat.



    Auch wenn es zum Allgemeinwissen gehört, unsere repräsentative Demokratie - scheint immer etwas " verklärt " wahrgenommen zu werden...

  • 4G
    48798 (Profil gelöscht)

    Eine sehr kluge Beschreibung des StatusQuo, abseits aller moralischen Barrikaden.