Europas Umgang mit Menschenrechten: Der verlorene Kompass

Ich bin nach Europa geflohen, weil Europa für Menschenrechte steht. Aber das stimmt nicht mehr, denn Europa lässt Geflüchtete an seinen Grenzen sterben.

Libysche Rothalbmondmitarbeiter heben eine Leiche eines ertrunkenen Migranten am Strand in der Nähe der Stadt al-Chums auf.

Längst zur Regel geworden: Ertrunkener Migranten am Strand in der Nähe von al-Chums im Juli 2019 Foto: dpa/AP | Hazem Ahmed

Vor einem Jahr hat mein Bruder mir diese Geschichte als Witz erzählt: Ein junger Syrer erzählt seinen Freunden, dass er nach Europa gehen möchte und nicht länger hierbleiben will. Er sagt, dass das Leben in Europa für syrische Geflüchtete schöner und besser ist. Seine Freunde lachen über diese dumme Aussage und sagen, dass er nicht bemerkt hat, dass er bereits in Europa ist – sie alle leben in Deutschland.

Seitdem denke ich über diese Geschichte nach und mehr und mehr verstehe ich, dass sie die Realität widerspiegelt, in der auch ich lebe. Ich lebe auch nicht in dem Europa, das ich aus Erzählungen kenne. Das heutige Europa hat so viel von dem verloren, was es ausgemacht hat.

Das sind vor allem die Menschenrechte, die nach einer langen Geschichte von Krieg, Kolonialismus, Faschismus sowie dem Plündern anderer Kulturen in Europa entstanden sind. Nach den größten Massakern gegen Menschen und Religionen galten diese Menschenrechte als Wegweiser. Die Menschenrechte wurden ausgebaut und weiterentwickelt und dienten dann auch als Grundlage für die Europäische Union. Die Europäer durften auch als Propheten und Beschützer der Menschenrechte im Rest der Welt auftreten, denn bei sich hatten sie sie ja schon.

So habe ich die Geschichte jedenfalls gelernt, als Syrer. Meine Generation hat gelernt, dass Europa aus seiner langen Geschichte Lehren gezogen hat und dass wir in der arabischen Welt das auch machen sollten. Besonders nach dem Kalten Krieg, als der amerikanische Imperialismus langsam auch bei uns ankam, und nachdem wir alle die Hoffnung auf Kommunismus, Sozialismus und linke Ideen verloren hatten.

Ich lebe nicht in dem Europa, von dem mir in Syrien erzählt wurde. Das heutige Europa hat so viel von dem verloren, was es ausgemacht hat

Ich bin aufgewachsen mit dem Wissen, dass der Sozialismus, der aus der ehemaligen Sow­jetunion nach Syrien importiert wurde, als Wunschlösung gegen den Kolonialismus galt. Erst später wurde auch der älteren Generation klar, dass der Sozialismus bei uns nur diktatorische Regime gefördert hat. Regime, die nicht nur gegen die europäischen Menschenrechte sind, sondern einfach gegen die Menschen.

Also galt die neue Hoffnung der Demokratie und den europäischen Werten. Viele Sy­re­r*in­nen meiner Generation sehen nicht die USA als großen Bruder, nicht so wie viele Deutsche aus der Nachkriegsgeneration. Wir haben nicht diese Erfahrung, dass die USA uns befreit hat und uns auf dem Weg in eine stabile Demokratie unterstützt haben. Wir sehen die USA eher als imperialistisches Land. Das liegt zum Teil an Regierungspropaganda, und zum Teil an der tiefen Wunde, die der Irakkrieg in der arabischen Welt gelassen hat.

Heute denke ich darüber nach, wie das Europa, das ich mir früher in Syrien vorgestellt habe, sich von dem Europa unterscheidet, was ich tatsächlich kennengelernt habe. Ich habe keinen Weltkrieg und keine Katastrophen wie im 20. Jahrhundert erlebt. Aber wir alle sehen dabei zu, wie täglich viele kleinere Katastrophen an den Grenzen von Europa geschehen.

Vielleicht wirken sie kleiner, weil sie leiser passieren. Menschen ertrinken auf ihrer Flucht nach Europa, ohne dass Europa ihre Namen oder ihre Geschichten kennt. Und auch die Menschen wie ich, die es nach Europa geschafft haben, kennen die Namen derer nicht, die nach uns kamen und es nicht überlebt haben. Ich frage mich, ob es etwas gibt, was wir tun können, damit das heutige Europa wieder in seine Rolle als Beschützer aller Menschenrechte findet.

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