UN-Diplomat über den Ukraine-Krieg: „Europa braucht einen neuen Sicherheitsrahmen“
Die neue Sicherheitsarchitektur muss künftig auch Russland einschließen, findet Danilo Türk. Er spricht über Waffenstillstand und die Vermittlerrolle Chinas.
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taz: Herr Türk, Sie sind Mitglied im Beraterteam des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres und engagieren sich für effektivere multilaterale Abkommen. Derzeit gibt es ein multilaterales Getreidelieferabkommen, das Russland zuletzt ausgesetzt und am Mittwoch wieder aufgenommen hat. Haben Sie damit gerechnet?
Danilo Türk: Ja. Das Ermutigende an dieser Situation war, dass Präsident Wladimir Putin nur einen Schritt zurück gemacht hatte, denn es handelte sich unserer Ansicht nach nur um eine vorübergehende Aussetzung des Abkommens für ukrainisches Getreide und russische Düngemittel.
Sie sind ein klarer Befürworter der Diplomatie, gerade auch als Weg aus dem Krieg in der Ukraine. Bevor Russland am Mittwoch wieder ins Getreideabkommen eingestiegen ist, hatten der türkische und der russische Präsident miteinander telefoniert. Könnte die Türkei auch ein Friedensabkommen vermitteln?
Die Türkei hat sich zu einem internationalen Akteur gemacht, aber einen Waffenstillstand zu vermitteln ist viel komplexer. Auch ist es schwer einzuschätzen, ob die Türkei dazu in der Lage wäre. China hat sein Engagement für eine Lösung des Konflikts zum Ausdruck gebracht, und das erscheint mir realistischer. So gab es beispielsweise die Idee, eine Gruppe der sieben zu bilden, der fünf ständige Mitglieder des Sicherheitsrats, wie auch China, sowie zusätzlich die Europäische Union und die Ukraine angehören würden. Das wäre ein mögliches Format, um eine Lösung in Form eines Waffenstillstands und später auch eines Friedensabkommens zu finden. Das ist typisch für die Arbeitsweise Chinas. China mag diese kollektiven Ansätze, die Staatsführung möchte nicht als einziger Vermittler auftreten, der die volle Verantwortung für alles trägt. Die Gruppe der sieben wäre also eine mögliche Variante. Ich fürchte dennoch, dass dieser Konflikt noch eine Weile andauern wird, wenn es keine klare Initiative für einen Waffenstillstand gibt.
Sollte ein Waffenstillstand denn unbedingte Voraussetzung für den Auftakt von Friedensverhandlungen sein?
Ich bin mir sicher, dass hinter den Kulissen darüber gesprochen wird. Es gab bereits Telefonate zwischen dem russischen und dem US-Militär. Falls noch nicht genug gesprochen wurde, möchte ich an dieser Stelle sagen: „Leute, ihr müsst reden.“
Am 15. und 16. November findet das G20-Treffen in Indonesien statt. Dort werden die Staatschefs Joe Biden, Xi Jingping, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan zusammenkommen. Welche Erwartungen haben Sie an das Treffen?
Es wäre wichtig, dass der Gipfel eine Botschaft an die Welt sendet, dass die Großmächte sich mit den Krisen befassen und sich für die globale Situation verantwortlich fühlen. Es geht um sehr große Probleme, wie die Nahrungsmittelkrise, die Energieversorgung, den Krieg in der Ukraine.
Bereits am Donnerstag beginnt in Münster das G7-Außenministertreffen, wo der Krieg in der Ukraine eine wichtige Rolle spielen wird. Auch die Klima-, Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitspolitik sowie Ernährungs- und Energiesicherheit werden im Mittelpunkt stehen.
Am G7-Gipfel werden auch afrikanische Länder teilnehmen. Ich hoffe, das wird von der europäischen Öffentlichkeit wahrgenommen werden, weil Afrika durch den Ukraine-Krieg noch stärker von Hunger betroffen ist. Man muss Afrika viel ernster nehmen, als es bisher der Fall war. Der G7-Gipfel wird also eine Gelegenheit bieten, in dieser Hinsicht etwas zu tun. Außerdem braucht Europa eindeutig einen neuen Sicherheitsrahmen, denn der alte bricht zusammen. Eine neue Sicherheitsarchitektur entsteht natürlich nicht über Nacht, aber man muss anfangen, sich damit zu beschäftigen. Sie muss nachhaltig sein und die Idee der gemeinsamen Sicherheit beinhalten. Dieses Sicherheitssystem müsste auch Russland einschließen, aber das steht aktuell natürlich nicht auf der Tagesordnung.
Sie leiten die unabhängige Organisation Club de Madrid, das weltgrößte demokratische Forum mit ehemaligen Regierungs- und Staatschefs, das diese Woche sein jährliches Treffen in Berlin veranstaltet hat. Wie finden Sie, dass der Friedensnobelpreis in diesem Jahr an verschiedene Vertreter*innen der Zivilgesellschaft ging?
Die erste Botschaft war meiner Ansicht nach, dass es derzeit keine starke politische Führung in der Welt gibt, da kein Politiker und keine Politikerin für den Friedensnobelpreis qualifiziert ist. Doch entstehen aus Krisensituationen oft neue politische Führungsmöglichkeiten. Die Zivilgesellschaft verdient den Friedensnobelpreis, die Politiker*innen aber verdienen ihn nicht.
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